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Versidierungsreform verfrüht?

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Eine an Sozialminister P r o k s c h gerichtete parlamentarische Anfrage, ob eine Änderung des gegenwärtigen Systems der Krankenversicherung derzeit erwogen werde, wurde vom Minister erst vor kurzem dahingehend beantwortet, daß eine Enquete über dieses Thema bereits im Juni und Juli 1958 stattgefunden habe, der vertragslose Zustand zwischen Ärzten und Krankenkasse durch ein provisorisches Honorarabkommen mit 30. Juli 1962 beendet worden sei und daher ein unmittelbarer Anlaß für eine derartige Enquete fehle.

Man wird dem Minister nicht so ohne weiteres beipflichten können. Auch er wird wissen, daß man sich nach den Novemberwahlen mit den die Krankenversicherung betreffenden Forderungen wird eingehend auseinandersetzen müssen. Schon existiert in Wien ein „Gesundheitspolitischer Arbeitskreis“ des Österreichischen Akademikerbundes, dem die Aufgabe gesetzt wurde, zu überprüfen, inwieweit unser Pflichtkrankenversicherungswesen reformbedürftig sei. Aber ganz abgesehen davon, gilt es doch auch, jene Feststellungen zu verwerten, die in der Zeit des Ärztestreikes von der Wiener Gebietskrankenkasse - gemacht wurden. Wenn Krankenstände so gewaltig zurückgehen, wie dies in dieser Zeit der Fall war, dann zwingt dies zum Nachdenken. Einrichtungen, wie die Krankenversicherung, müssen im Interesse der Allgemeinheit vor jedem Mißbrauch geschützt werden, gleichgültig, ob er vom Patienten oder vom Arzt her kommt.

Gewiß sind dies nicht typisch österreichische Erscheinungen: das ist in der Deutschen Bundesrepublik, wo gerade jetzt die Neuregelung der sozialen Krankenversicherung den Gesetzgeber beschäftigt, nicht anders. Dort haben sich in der Zeit zwischen 1951 und 1962 die Krankmeldungen verdoppelt. Fehlten 1951 pro Tag 490.000 Arbeiter und Angestellte wegen Krankheit, so waren es 1962 bereits eine Million, und dabei stieg die Zahl der Beschäftigten im gleichen Zeitraum bloß um 30 Prozent.

Weiter „Anneleoteversicherung“?

Wir haben am Ende der vergangenen Parlamentssession das Reichsvolksschulgesetz von 1869 durch eine neue Schulgesetzgebung ersetzt, wir bemühen uns, das Strafgesetz von 1852 durch ein modernes Recht zu ersetzen, und wir sollten davor zurückschrecken, unser der Bis-marckschen „Armeleuteversicherung“ nachgebildetes und in seinen Grundzügen noch heute unverändertes Krankenversicherungsgesetz von 1888 zeitgemäß zu reformieren? Was nottut, ist ein moderner Gesundheitsund Krankheitsschutz für Arbeiter und Angestellte, die heute, im Gegensatz zu einst, einen hohen Lebensstandard erreicht haben.

Gleich vorweg sei gesaigt, ein solches neues Krankenversicherungsgesetz wird zu seiner Fertigstellung drei, ja vielleicht auch sechs Jahre brauchen; des kann nicht, wie etwa die 9. Novelle zum ASVG, als Initiativantrag der beiden Regierungsparteien das sonst vorgeschriebene Begutachtungsverfahren überspringend, plötzlich im Parlament auftauchen, das muß eingehend mit allen daran interessierten Kreisen abgesprochen, ja, es muß der gesamten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, werden, bevor es seine letzte Fassung erhält.

Welche Probleme sind es nun, di<dabei durchdiskutiert werden müssen? Zunächst sei eines festgestellt: Gegenüber dem jetzigen Zustand darf es weder eine Leistungsminderung noch eine Beitragserhöhung geben, über alles andere kann und muß man offen sprechen. Vor allem, wie legt man den Ausbeutern der Krankenversicherung ihr Handwerk? Geradezu zwangsläufig tritt einem hier das Problem der Kostenbeteiligung des Versicherten, der sogenannte „Selbstbehalt“, entgegen. Es hieße, der Wahrheit zuiderhandeln, wollte man leugnen, daß nach der Einführung der Fünf-Schil-ling-Krankenscheingebühr durch die 4. Novelle zum ASVG vor drei Jahren ein deutliches Absinken der Bägatellefälle zu verzeichnen war. Daß dieser Erfolg nur einer momentanen Schockwirkung zuzuschreiben gewesen wäre, erscheint unglaubhaft. Da die Gebühr bald darauf wieder aufgegeben wurde, weil man zwecks Sanierung der Kassen zu einer Beitragserhöhung Zuflucht nahm, läßt sich darüber nichts Abschließendes sagen, doch kann man annehmen, daß mit der Einschränkung der Bagatellefälle erhebliche Beträge für den Kampf gegen die Volksseuchen (Krebs, Tuberkulose, Kinderlähmung) freigeworden wären. Man ist nun in Kreisen der ÖVP und SPÖ der Meinung, daß man der Wiedereinführung der Kostenbeteiligung kaum entraten kann, wenn, man die Krankenversicherung beziehungsweise die Versichertengemeinschaft mit Erfolg vor den Ausbeutern schützen will und hält sie auch auf Grund des gestiegenen Lebensstandards der Arbeitnehmer heute bereits für zumutbar und sozialpolitisch vertretbar.

Es gibt natürlich noch andere Formen der Selbstbeteiligung als die von uns seinerzeit eingeführte Kran-kenscheingebühir, so etwa die sofortige Honorierung der Einzelleistung des Arztes durch den Versicherten mit einer bestimmten kleinen Pauschalge bühr, wobei die restliche Vergütung die Kasse leistet. Die gegenwärtig in dar Deutschen Bundesrepublik in Aussicht genommene Lösung, für den Versicherten ein Sonderkonto anzulegen, auf das ein Teil seines Beitrages abgezweigt wird, dann im Falle seiner Erkrankung von diesem Konto zwecks Beteiligung abzuheben, ihm ansonsten aber zu Jahresende den vollen angesammelten Betrag. als Prämie rückzuzahlen, erscheint denn doch noch etwas problematisch.

Formen der Sclbstbeteiligung

Aber auch die Ärzte wären besonders befähigt, jedem Mißbrauch der Leistunigen entgegenzutreten. Es muß ihnen zum Bewußtsein kommen, daß sie an das Vermögen der Krankenversicherung nicht nur Honorarforderungen stellen können, sondern dasselbe indirekt auch mitverwalten. Aus diesem Grunde müssen sie jeder unberechtigten und von ihnen als solche erkannten Forderung der Patienten entgegentreten, selbst auf das Risiko hin, daß dadurch ihre Popularität leidet und die Wartezimmer etwas leerer werden. Schluß endlich mit den „Kassenlöwen“ und den „Zettelsammlern“. In diesem Zusam-

menhang sei auf eine erst kürzlich ergangene Entscheidung des Sozialge-riehtes Stuttgart hingewiesen: „Eine übergroße Kassenpraxis widerspricht den Pflichten eines Arztes, dem Patienten eine sorgfältige Behandlung aneedeihen zu lassen. Für diese Beurteilung sei keinesfalls das subjektive Leistungsvermögen eines Arztes maßgebend. Denn eine derart ausgedehnte Tätigkeit könne schon infolge der natürlichen physischen Erschöpfung und dem Zeitdruck auf die Dauer die sorgfältige Behandlung nicht gewährleisten.“

So viel zum Problem Verhinderung jedes Mißbrauches der Kassenleistungen. Man wird durch die Kostenbeteiligung der Vielgeschäftigkeit der Ärzte und der Arzneimittelverschwendung Schranken setzen. Ob man trotzdem auf die Dauer ohne Staatszuschuß das Auslangen finden wird, sei dahingestellt.

Die Unzahl der sonstigen Probleme, über die anläßlich der Neugestaltung der Krankenversicherung eingehend zu diskutieren wäre, kann in diesem Rahmen nur andeutungsweise aufgezählt werden. So der moderne Gesundheitsschutz für den arbeitenden Menschen mit seinen obligatorischen Reihenuntersuchungen bei Herz- und Gefäßerkrankungen im Kampf gegen die Frühinvalidität, die Krebsprophylaxe, die Rehabilitation, die Beziehung zwischen Arzt und Patient, die von so vielen psychologischen Faktoren abhängig ist, die Ambulatorien der Kassen, wo gerflde während des „Zu-standes“ die Patienten von Ärzten, Schwestern und Verwaltungsangestellten mustergültig betreut wurden, der Ärztemangel in den einzelnen Bundesländern (im Burgenland acht Ärzte auf 10.000 Einwohner) und das Überangebot an Ärzten in Wien (32 auf 10.000 Einwohner), das Einschreibe- oder Hausarztsystem und der Betriebsarzt, die Pflege des Kontaktes zwischen Kassen und Versicherten durch Presse, Rundfunk und Fernsehen und vieles andere. Vor allem wird aber über das Grundproblem, Krankenversicherungen oder öffentlicher Gesundheitsdienst, eingehend gesprochen werden müssen. Je früher und gründlicher man alle diese Fragen zunächst am Beratungstisch erörtert, desto besser.

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