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Landärzte sind Spitzensportler

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ERINNERN SIE SICH NOCH? Im Jahre 1942 schleuderte ein junger Mann namens Erwin Pektor im Wiener Stadion seinen Speer auf die österreichische Rekordmarke von 70,68 Meter. Es sollte 22 Jahre dauern, bis dieser Rekord von seinem eigenen Sohn durch einen noch weiteren Wurf ausgelöscht wurde. Dieser Dr. Erwin Pektor ist heute Landarzt in einem entlegenen Winkel des Waldviertels. Auch jetzt noch vollbringen er und mit ihm die anderen, die den schweren Beruf eines Landarztes gewählt haben, täglich Spitzenleistungen, um den an sie gestellten Anforderungen gerecht werden zu können. Die landläufige Meinung verwechselt eine Landpraxis meist mit einer Goldgrube: Es gäbe wenig zu tun, da der Bauer bekanntlich erst dann zum Arzt geht, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Die letzten Privatpatienten seien auf dem Land zu finden, und die Abende wären mit der traditionellen Tarockrunde des Dreiecks Arzt-Pfarrer-Lehrer ausgefüllt …

Wenn dem so wäre, müßten sich die Bewerber um eine freie Planstelle geradezu drängen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Und die Zahlen sprechen eine ganz ernüchternde Sprache: Im Jahre 1963 gab es in ganz Österreich 40 freie Praktikerstellen, 1966 warten allein in Niederösterreich bereits 53 offene Stellen auf einen Arzt. Bis Dezember, schätzt man, wird sich diese Zahl auf 60 erhöht haben.

1960 betrug das Durchschnittsalter der praktischen Ärzte 42 Jahre, 1964 schon 50% Jahre.

Und 1965 entschieden sich von 176 Promovenden der Medizin fünf für die Laufbahn eines praktischen Arztes, aber niemand wollte den Weg eines Landarztes gehen. Das sind alarmierende Tatsachen, geeignet, mit den oben erwähnten Klischeevorstellungen von den goldenen Töpfen des Landarztes radikal aufzuräumen.

WIE SIEHT NUN der Stundenplan des Arztes aus? Spätestens um 6 Uhr beginnt für ihn der Arbeitstag. Von 8 bis 11 Uhr Ordination, Mittagessen, nachmittags Visiten, die bis 18 Uhr, oft aber auch bis 21 oder 22 Uhr gehen können. Dann müssen oft noch Rezepte geschrieben, die Hausapotheke versorgt, die Kassenabrechnung gemacht werden. Vor Mitternacht ist selten Nachtruhe, die aber jede zweite, dritte Nacht durch irgendeinen dringenden Besuch gestört wird. Meist kommt alle drei Wochen Sonntagsdienst, wobei oft die Vertretung für Nachbarsprengel zu übernehmen ist. Eigentlich hätte jeder Landarzt fünf Wochen Urlaub garantiert (die jetzt auf sechs Wochen erhöht werden sollen). Die Ordination kann dabei natürlich nicht einfach zugesperrt werden. Daher bestehen Vereinbarungen zwischen benachbarten Ärzten, so daß der Nachbararzt zusätzlich zu seiner eigenen auch die Ordination des Urlaubers betreut.

Das erfordert natürlich dieselbe Gegenleistung und so wird der Urlaub eigentlich durch doppelte Arbeitsleistung vor- oder nachher erkauft. Doch nicht nur der „Herr Doktor“ ist der Leidtragende; seine Gattin und die Kinder sind es in mindestens demselben Maß. Die Kinder, die häufig schon früh, aus Mangel an geeigneten Bildungsmöglichkeiten in der näheren Umgebung, in ein Internat müssen, die Gattin, weil sie erstens meist eine unbezahlte OrdinationBgehilfin ist — eine Tatsache, der vom Staat viel zuwenig Rechnung getragen wird.

Zwar darf der Landarzt einen gewissen Betrag von der Steuer abschreiben, doch könnte diese Summe nicht einmal zwei Monatsgehälter einer regulären Ordinationsgehilfin decken. Die Arztgattin ist Gehilfin, Schreibkraft und Telefonistin in einer Person. Auch Hebammendienste dürften nicht nur zu den seltenen Aufgaben zählen.

VIEL SCHWERER FÄLLT ABER der Verzicht auf Theater, Oper, gesellschaftliches Leben und ebenbürtige Gesprächspartner, Dinge, die durch finanzielle Zubußen nicht ersetzbar sind. Ein heikles Problem sind die Arztwohnungen: Die meisten alten Gemeindearzthäuser entsprechen längst nicht mehr dem heutigen Stand der Wohnkultur. Badezimmer sind immer noch Luxus, und es gibt noch so manche Ordination, die bis heute kein fließendes Wasser hat! Daß hier Abhilfe geschaffen werden kann, beweist das Beispiel der Gemeinde Großgött- fritz, die jetzt um eine Million Schilling ein 200 Quadratmeter großes Arzthaus baut, um überhaupt einen Arzt zu bekommen.

Auch finanziell sind Landärzte nicht auf Rosen gebettet. Im Verhältnis zu seinem Kollegen in der Stadt schneidet er punkto Reingewinn schlechter ab. Er hat mehr Regien, benötigt mehr Gerät, und ohne Zweitfahrzeug kann er den Anforderungen kaum gerecht werden. Ein praktischer Arzt legt durchschnittlich 35.000 Kilometer pro Jahr zurück, zum Teil auf schlechtesten Straßen und unter schwierigsten Wetterbedingungen, was ohne zweites Fahrzeug nicht möglich wäre, da sich meist ein Auto in Reparatur befindet. Weitere finanzielle Nachteile erwachsen ihm dadurch, daß seit mindestens zwölf Jahren die Kilometergebühren, die von den Kassen vergütet werden, nicht mehr erhöht wurden und weder Zeit, Reparaturen oder Benzin in diesen

Taxen inbegriffen sind. Interessant ist vielleicht, daß die Wiener Gebietskrankenkasse höhere Sätze zahlt als die niederösterreichische. Am Rande bemerkt: Wußten Sie, daß es heute noch immer eine Gruppe von Angestellten gibt, die keinerlei sozialen Schutz genießen? Es gibt siet die Gemeindeärzte. Sie sind nicht versichert, es sei denn privat, und müssen im Falle einer Krankheit für sich selber aufkommen. Wieviel ein Gemeindearzt an Honorar bekommt? Das ist gleich gesagt: 2000 Schilling jährlich, der Rest kommt in den Pensionsfonds, so daß er nach seiner Pensionierung dann 2400 Schilling monatlich erhält.

FÜR GEWÖHNLICH MACHEN Ärzte nicht allzuoft und laut von sich reden. In manchem unterscheiden sie sich da von anderen Berufsgruppen. Und doch gibt es seit geraumer Zeit ein Thema, das auch in der breiten Öffentlichkeit Beachtung und geteilte Meinungen fand, die Bauernkrankenkasse. Anlaß war das Bauernkrankenversicherungsgesetz, das am 7. Juli 1965 vom Nationalrat durch einstimmigen Beschluß aller drei Parteien verabschiedet wurde und eine gesetzliche Versicherungspflicht für Bauern vorsah. Ein Gesetz, das, wie Abgeordneter Winkler scherzhaft meinte, zwar viele Väter habe, bei dem aber einzig die Mutter gewiß sei: Das Parlament. Tatsächlich waren Abg. Scheibenreif und der damalige Minister Proksch wohl am meisten am Zustandekommen dieses Gesetzes beteiligt.

Um es gleich vorwegzunehmen: der Grundgedanke, dem schlechten Gesundheitszustand der Landbevölkerung entgegenzutreten und auch minderbemittelten Kleinbauern die Angst vor den hohen Arztkosten zu nehmen, war gut, weniger die Durchführung. Die Bauernkranken- kasse wurde genau nach dem Vorbild des ASVG geschaffen. Der Bauer hat einen Beitrag zu entrichten, der je nach Höhe des Einheitswertes seines Betriebes zwischen 50 und 180 Schilling monatlich beträgt und hat zusätzlich einen 20prozentigen Selbstbehalt zu tragen. Der Selbstbehalt sollte in erster Linie ein zu großes Ansteigen sogenannter Bagatellfälle verhindern. Der Arbeitgeberbetrag wird vom Staat getragen.

DAS PROBLEM BESTEHT NUN DARIN, daß weder Bauern, schon gar nicht die Ärzteschaft über dieses Gesetz restlos froh sind. Bei den Ärzten liegt der Fall so, daß sie von Anfang an keineswegs von vornherein gegen eine Bauernkrankenkasse waren, sie jedoch in bestimmten Punkten eine Änderung forderten: sie wollten Barleistung vor Sachleistung (nicht wie es das Gesetz gerade umgekehrt vorschlug, Sachleistung vor Barleistung). Das heißt, die Ärzte wollten nicht den

Krankenschein, sondern Geld vom Versicherten, der sich den Betrr seinerseits von der Kasse zurückerstatten lassen sollte. Ihr Argument: Vereinfachung der Arbeit, Wegfall des Schreckgespenstes aller Ärzte, der Kassenabrechnung. Weitens sieht das Gesetz die Errichtung von Kassenambulatorien vos, in denen die Ärztekammer wiederum eine etwaige Konkurrenzierung der freien Ärzte sieht. Außerdem forderten die Ärztevertreter Verzicht auf jegliche Limitierung der Kassenleistungen. Diese Forderung scheint verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß zum Beispiel durch das Visitenlimit (wodurch der Arzt für drei Krankenscheine pro Quartal nur eine Visite verrechnen kann) im Jahre 1965 360.000 Visiten unbezahlt blieben und die Kasse zirka acht Millionen Schilling ersparte. Zu diesen speziellen Bedenken kommt noch das gewichtige Argument einer Landärzteflucht. Laut Ärztekammer war die Aussicht auf eine Privatpraxis und die Möglichkeit einer sorgfältigen und individuellen Behandlung der Patienten der stärkste Anreiz, Landarzt zu werden. Würden nun die letzten Privatpatienten wegfallen und auch der Landarzt durch das voraussichtlich starke Anwachsen sogenannter Bagatellfälle zum bloßen Rezeptschreiber degradiert werden, so würde der Nach wuchs in noch stärkerem Maße als bisher eine Landpraxis meiden und dies könnte schwerwiegende Folgen haben. Eine Befürchtung, die an Hand des vorliegenden Zahlenmaterials nicht unberechtigt scheint. Aber auch unter den Bauern ist die Begeisterung keineswegs so allgemein, als es vielleicht den Anschein hat. Einzelne Bezirksbauernkammern stellten sich in Abstimmungen sogar heftig gegen den Plan einer Zwangsversicherung für Bauern, so daß es wohlweislich vermieden wurde, eine Urabstimmung aller Bauern abzuhalten. Der Grund dürfte im Wort „Zwang“ liegen. Viele Bauern fürchten eine Kollektivierung und den Verlust eines Teiles der Freiheit ihres Standes. Noch dazu, da es nach Paragraph 18 ASVG den Bauern schon vorher möglich war, bei der Landwirtschaftskrankenkasse versichert zu sein. ’ Auch war der Prozentsatz derer, die eine Privatversicherung abgeschlossen hatten, keineswegs gering. Dort aber erhielten sie die eingezahlten Beträge zurück, wenn innerhalb von vier Monaten keine Leistungen von der Versicherung in Anspruch genommen wurden — eine Vergünstigung, die ihnen die Bauemkrankenkasse nicht gewährt. Die Forderung mancher Kreise der Bauernschaft ging nun dahin, daß das Prinzip der Freiwilligkeit erhalten bliebe und mit Hilfe der öffentlichen Hand nur ausgebaut werde. Man hätte vielleicht auch eine Versicherungspflicht einführen, die Wahl der Versicherungsanstalt aber freistellen können. Eine gesunde Konkurrenz der Anstalten untereinander wäre damit gegeben gewesen. Eine Härte stellt das Gesetz sogar für die Bezieher bestimmter Leistungen aus der Kriegsopferversorgung dar. Bisher erhieltet! sie kostenlose Behandlung und Medikamente durch die Gebietskrankenkasse, jetzt fallen sie unter die Bauemkrankenkasse und haben den 20prozentigen Selbstbehalt und die Medikamentengebühr von fünf Schilling zu tragen. Trotz so mancher Mängel, die unbedingt behoben werden sollten, stellt das BKVG dennoch in vieler Hinsicht einen Fortschritt dar: Die schon erwähnte Medikamentenversorgung und die Spitalsbetreuung, bei der ein Aufenthalt über vier Wochen bereits zur Gänze von der Kasse getragen wird, zählen dazu.

VOR ALLEM ABER WAREN es psychologische Fehler, die gemacht wurden. So wie man sich einfach über bereits bestehende Vereinbarungen zwischen Ärztekammer und Bauernvertretern hinwegsetzte und sie im endgültigen, dem Nationalrat zur Beschlußfassung vorliegenden Gesetzestext nicht berücksichtigte. Das Ergebnis — ein schon lange, zu lange andauernder vertragsloser Zustand zwischen Bauernkrankenkasse und Ärzteschaft. Die Fronten sind versteift. Im Interesse der Bevölkerung aber wäre es gelegen, eine für alle Seiten tragbar Lösung zu finden.

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