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„Zauberberg“ im Wienerwald

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Ulieber der Stadt hängt jene bleifarbene Glocke, die Wien aus der Vorwinterzeit wohl kennt; glänzt der Asphalt von der beißenden Feuchte der Luft, die nach Kohlengas und Dieselgewölk riecht; lärmen Straßenbahnen und Kraftwagen; frösteln die wartenden Menschen an den Haltestellen.

Auf der Reichsstraße nach Süden: links und rechts Waschküchendunst. Nur etwa hundert Meter Sicht. Autos mit aufgeblendeten gelblichen Nebelscheinwerfern stoßen aus dem Grau und versinken wieder schnell.

Und dann, mit einem Male, unerwartet, einige Kilometer hinter Baden lockert sich das Grau, ganz oben schimmert blasses Blau, und dann kommt eine strahlende Sonne über die Wald-mülIer-Landschaft — eine Stunde von Wien entfernt, gewahrt man langgestreckte, niedrige Gebäude südwärts gekehrt, die Fenster brennen, so scheint es, im auffallenden Sonnenlicht: das ist Alland, die Heilanstalt, der „Zauberberg“ im Wienerwald.

An Schweizer Atmosphäre — wenn wir schon Manns Sanatoriumsroman nennen — gemahnen

Häusernamen. Schweizer haben mitgeholfen, die bedeutenden Kriegsschäden zu beseitigen. Ein Haus heißt nach Dunant, eines „Helvetia“. Und in diesem Hause fand die Ausstellung statt, deretwegen wir aus Wien gekommen sind. Keine Ausstellung im üblichen Sinne — obwohl auch an den gezeigten Stücken Nummern hängen —, sondern hier wird zum ersten Male sichtbar, an Werkstücken deutlich, was Arbeitstherapie ist. Unter diesem Worte versteht man körperliche Arbeit unter ärztlicher Anleitung bei einer chronischen Krankheit (vor allem bei der lange Behandlungszeit erfordernden Tuberkulose). Die Arbeitstherapie bezweckt Ablenkung vom Leid, vom Befassen mit dem Leiden; sie soll den Gesundungswillen stärken, das Selbstvertrauen heben und mithelfen, neue Beziehungen zur Umwelt zu knüpfen.

Der Begriff ist nicht neu. Das Ausland verwertet ihn schon geraume Zeit. England beispielsweise hat sogar Therapielager — eines für tausend Bewohner — gebaut. Aber es ist doch eine Frage, ob man die Kranken, auch wenn sie mit ihren Angehörigen in solchen Dörfern leben, wo sich auch die Arbeitsstätten befinden,

nicht damit etwa in eine Psychose von Leprastationen hineinmanövriert und mit aller medizinischen und sozialen Fürsorge gerade das Gegenteil von dem erreicht, was man beabsichtigt: aus vorübergehend Geschädigten, aus Menschen, die noch Zeit zur Schonung bedürfen, aber deshalb einen um so bedeutenderen Geltungstrieb besitzen, Bewohner eines riesigen Schneckenhauses zu machen.

Wenn ein Patient zu längerem Aufenthalt in einer Heilstätte wie Alland eintrifft, sind psychologisch drei Entwicklungsphasen zu beobachten.

Die erste Phase heißt: Auflehnung. Der Patient provoziert Verstöße gegen die Hausordnung, unternimmt Exzesse alkoholischer Art und anderes, weil er weiß, daß wiederholte Vergehen zur Entlassung führen.

Die zweite Phase: das ist die Gewöhnung. Apathie macht sich geltend. Man findet sich in das Hinleben von Tag zu Tag, wobei andere die Obsorge tragen.

Die dritte Phase: das ist die Furcht. Man kennt ungefähr den Tag der Entlassung in ein erbarmungsloses Leben, in einen schonungslosen Erwerbskampf.

In Alland ist mit der Leitung der Arbeitstherapie, welche solchen Symptomen entgegenwirkt, ein fachlich geschulter Arbeitstherapeut beauftragt. Es bestehen Werkstätten für Holz-, Papier- und Metallverarbeitung; es gibt ferner eine Näherei und eine Töpferei. Der Therapeut ist hauptamtlich angestellt. Neben den arbeitstechnischen Kenntnissen hat er auch ein besonderes Organisationstalent zu entwickeln. Er leitet selbst Kurse, besorgt aber auch Vortragende für andere Fächer, etwa für das Bürofach, für die Sprachkurse. Lichtbildvorträge und Filme unterstützen die Arbeitstherapie.

Wir fragen, ob es Widerstände gibt. Im Gegenteil! Man drängt sich zu den Maschinen. Der Fleiß ist groß. Das Material für die Arbeit wird zum Selbstkostenpreis — der weit unter dem üblichen Preis liegt — abgegeben. Der Erlös für die Arbeit verbleibt dem Patienten, der zur Arbeit keineswegs gezwungen wird. Es sind Laien, keine Facharbeiter, die hier in der Ausstellung, die wir durchgehen, oft gerade Wunder von Geschicklichkeit und Zweckmäßigkeit zeigen und es auch am typisch österreichischen Geschmack nicht fehlen lassen. Eine Beeinträchtigung der Rentenfähigkeit ist durch die hier ausgeübte Tätigkeit nicht zu erwarten — obwohl es immer Patienten gibt, welche glauben, daß ihre Arbeit diesbezüglich Nachteile bringe.

Die Zukunftsaufgaben: nicht wenige. Vor allem: man braucht mehr Betten, bedingt durch die längere Aufenthaltsdauer bei Tuberkulose! Im Jahre 1954 waren zur Heilstättenbehandlung auf diesem Sektor bei der Allgemeinen Invalidenversicherung 6323 Patienten gemeldet; für sie sind aber 761.924 Verpflegstage gerechnet worden, was durchschnittlich einer Aufenthaltsdauer von drei Monaten pro Patient gleichkommt. Die Kosten betrugen rund 31,3 Millionen Schilling im Jahre 1954.

Eine sofortige Rückkehr des Patienten nach seiner Heilstättenbehandlung in das Erwerbsleben ist gefährlich und schließt die Gefahr von Rückfällen (Rezidiven) in sich. Es wäre unbedingt nötig, nach der Heilstättenbehandlung den Erkrankten einer genau bemessenen Arbeitsbelastung unter klinischer Beobachtung und dauernder medizinischer Testung auszusetzen. Erst wenn die Kontrolle bei normaler Arbeitsbelastung keine Verschlechterung des Befundes aufweist, sollte der Patient aus der Heilstättenbehandlung entlassen werden. Wird er dagegen frühzeitig dem schonungslosen, oft für ihn un-

zweckmäßigen Erwerbsleben ausgeliefert, sind die hohen Heilungskosten zumeist umsonst aufgewendet worden. Man sollte daher in einer Arbeitsheilstätte den Patienten progressiven Belastungen unterwerfen, die Auswirkungen jeder einzelnen Arbeitsart im Krankheitsfalle wissenschaftlich studieren. Man hegt, wie wir erfahren, den Plan einer Arbeitsheilstätte für Holzwerk in Laab im Walde nächst Wien. Sicherlich sind dazu etliche Millionen nötig. Aber es ist klüger, diese jetzt als später vervielfacht (als Frührenten) auszuzahlen. Hier dürfte auch das Ministerium für soziale Verwaltung Einsehen haben; die Proportionierung der geleisteten Renten zu den eingezahlten Beträgen (auch für das Problem der Rehabilitation sehr bedeutsam) liegt auch dem Ministerium am Herzen. Was die auch geäußerten Bedenken der Privatwirtschaft (Konkurrenz) an-

langt, sind sie leicht zu zerstreuen. Wir sahen, daß es sich um eine progressive Arbeitsleistung zur Lieberleitung in eine reguläre handelt; ein Betrieb mit Menschen, der schwerlich regelmäßig und sogleich 48 Stunden oder auch nur 40 Stunden produziert, bedeutet keine Konkurrenz; ja man wird, bei Anwesenheit einer Stammarbeiterschaft, im Gegenteil dem Unternehmen den Entfall an vollwertiger Arbeit zu ersetzen haben. Auch diese hierfür aufzuwendenden Beträge wären sozial vertretbar.

Und noch etwas: wir alle sind auf dem Zauberberg. Niemand kann vorhersagen, was uns morgen bevorsteht, ob wir die Hilfe der Allgemeinheit nicht dann schätzen. Rechnen wir nicht oder wenigstens nicht nur ausschließlich von Erträgen für heute, sondern werten wir die Volksgesundheit als Kapital, von deren Erträgnissen wir leben, heute, morgen und alle Zeit.

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