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Schindluder mit Kassengeldern

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Während die neue (alte) Regierang den Staatshaushalt mit energischen Schritten ins Lot zu bringen versucht, zeigt man hinsichtlich der Krankenkassenprobleme eher Hilflosigkeit. Das Koalitionsabkommen beschränkt sich hier auf Platitüden und nimmt sich zum hundertsten Mal „umfassende Reformen" vor sowie die Beauftragung einer - schon hat man es erraten! -Kommission zur Beobachtung der Strakturprobleme. Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen hat sich mittlerweile zwar den Kopf über sinnvolle Maßnahmen zerbrochen, doch droht darüber jetzt das übliche Hickhack zwischen gewerkschaftlichen und wirtschaftskammerlichen Positionen. Daneben wachsen uns die Probleme über den Kopf.

Fairerweise muß man feststellen, daß die Hauptursache in Entwicklungen liegt, die nicht nur unverschuldet, sondern sogar als großer Erfolg zu vermerken sind. Der Fortschritt der Medizin und die starke Erhöhung der Lebenserwartung treiben die Kosten für die medizinische Versorgung in die Höhe. Dazu kommen neue Formen der Betreuung, wie etwa notwendige psychotherapeutische Behandlungen. Jede zivilisierte Gesellschaft wird damit rechnen müssen, daß der Anteil für Gesundheitsaufwendungen am Volkseinkommen langfristig stark steigt. Er beträgt bei uns und in Deutschland derzeit mehr als 8 Pro-zemt, in den USA ist er bereits deutlich höher. Das Wachstum dieser Quote übertrifft die allgemeine

Wohlstandssteigerang um ziemlich genau ein Drittel, sodaß wir gar nicht darum herumkommen werden, immer mehr für unsere Gesundheit auslegen zu müssen. Die Finanznot der Kassen spiegelt einfach diese Entwicklung wieder.

Daneben gibt es aber sehr wohl Probleme struktureller Art, welche die Tauglichkeit und vor allem die Effizienz unseres heutigen Systems in Frage stellen. Nach einem skandalösen und viele Jahre währenden Aufschieben der Reform des Spitalssystems wird die Schwäche der Krankenversicherung um so krasser in den Blickwinkel rücken. Ein führender Mann des Kassenwesens charakterisiert die heutige Situation so, daß „die falschen Leistungen an der falschen Stelle" erbracht werden und er scheut auch nicht vor der Feststellung zurück, daß es „Begehrlichkeiten" gebe und mit den Kassengeldern teilweise „Schindluder getrieben" wird. Im Bezugsviereck Patient, Arzt, Krankenhaus und Krankenkasse gibt es keine wirksame Bremse zur Vermeidung überflüssiger Leistungen und schon gar nicht ist bei Patienten und Behandlern das notwendige Kostenbewußtsein vorhanden. Man weiß heute, spricht es aber nicht offen genug aus, daß ein erheblicher Teil der durchgeführten Operationen - manche sprechen sogar von etwa der Hälfte - überflüssig sind. Dasselbe gilt für durchgeführte Untersuchungen und Befunde, die gar nicht selten wiederholt werden, obwohl bereits die gewünschten Daten vorliegen. Dazu kommt, daß die Ausgaben der Kassen in bestimmten Bereichen mit einem gesamten Höchstbetrag „gedeckelt" sind. Das löst den Wettlauf der Ärzte aus, im bestehenden Punktesystem einen möglichst großen Brocken aus dem limitierten Topf zu erhaschen, was eben nur durch eine maximal gesteigerte Verordnung möglich ist. Das System fördert auf diese Weise die Verschwendung!

Es wäre nun ungerecht, dafür einfach den Ärzten die Schuld zuzuschieben. Auch sie sind Opfer des Systems. Sie sehen sich angesichts überfüllter Wartezimmer einem mehrfachen Druck gegenüber: Dem ihrer Kran-kenscheinbringer, die bestimmte Wünsche haben, dem der fehlenden Zeit, um sich sorgfältig mit dem Patienten und seinen Bedürfnissen zu befassen und der Versuchung, alles, was kompliziert und aufwendig wird, an Fachärzte, Ambulatorien und Krankenhäuser abzuschieben. Dazu kommt, daß das Angebot an ärztlichen Leistungen höchst ungleichmäßig verteilt ist. Im großstädtischen Raum drängen sich die Medizinspezialisten, während wir auf dem flachen Lande bedrückende Versorgungslücken vorfinden. In manchen Gegenden und bei manchen Fachgebieten muß man Wartezeiten von vielen Wochen in Kauf nehmen. Der gute alte Hausarzt, der ständig für die ihm anvertrauten Menschen da war, ist im Aussterben begriffen.

Natürlich darf man auch bei der Kritik an diesen Zuständen nicht das Kind mit dem Bad ausgießen. Die soziale Krankenversicherung ist zweifellos eine der größten Errungenschaften und stellt für die Bevölkerung eine — auch im internationalen Vergleich - noch immer hochwertige und lückenlose Versorgung zur Verfügung. Die Schwächen des Systems werden aber deutlicher. Über- und Unterangebot bestehen nebeneinander. Leerläufe und Versäumnisse treten zutage. Man soll die Dinge nicht überbewerten, aber es ist sicher kein Zufall, daß die Öffentlichkeit in letz-

ter Zeit immer öfter mit Berichten über ärztliche Fehlleistungen konfrontiert wurde. Man denke auch an die vor gar nicht langer Zeit offenkundig gewordene skandalöse Situation der Arbeitszeitbelastung von Spitalsärzten. Eine gesetzliche Neuregelung wurde versprochen, steht aber immer noch aus. Immer mehr hat man den Eindruck, daß jeder davor zurückschreckt, jene „Reformen", die uns nun wieder versprochen werden, wirklich anzugehen, weil man das Risiko von Neuregelungen mit deren unbekannten Folgen scheut und lieber mit dem bisherigen System, das man wenigstens einigermaßen im Griff hat und dessen Schwächen man kennt, fortwurstelt.

Diese Mentalität wird in ihren Konsequenzen aber immer gefährlicher. Es droht ein stetiges Auseinanderentwickeln der heutigen Bedürfnisse von den bestehenden Struktu-

ren. Die Krankenversicherung wurde geschaffen, als es für breite Bevölke-rangsschichten ein Problem war, sich und ihrer Familie bei Erkrankungen einen Arzt, die notwendigen Medikamente oder gar eine Spitalsbehandlung leisten zu können. Die Krankenversicherung konzentriert sich nach wie vor auf diese „klassische" Bedarfsstruktur, während der Schwerpunkt - natürlich auch der Kosten! -

sich auf andere und neue Gebiete verlagert. Denken wir nur an die bereits erwähnte Psychotherapie, vor allem aber an höchst aufwendige und komplizierte neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die sich oft über sehr lange Zeit, ja sogar auf Lebensdauer erstrecken. Dazu kommt, daß der Rehabilitation, der Vorsorge und auch der Gesundheitserziehung immer mehr Bedeutung zukommt! Es gibt einen Scherz, der einen sehr bitteren Hintergrand hat und der auf die Frage, was die wichtigsten Werkzeuge des Maurers sind, fünf Flaschen Bier und zwei Päckchen Zigaretten nennt. Die oft erhobene Klage, wie ungesund das heutige Arbeitsleben ist, vernachlässigt leider allzuoft die Vermeidbarkeit mancher Risikofaktoren sowohl durch den Arbeitgeber, als auch seitens des Arbeitnehmers selbst. Jedenfalls nehmen wir heute sogar einen Rückzug der Krankenversicherung aus sehr wichtig gewordenen Gebieten der gesundheitlichen Betreuung wahr. Spektakulär war etwa in der Mitte des vorigen Jahres die drastische Einschränkung bei Zahnbehandlung und Zahnersatz. Sie stellt exemplarisch dar, wie sehr die finanziellen Kapazitäten durch die Aufrechterhaltung der Grandversorgung aufgefressen werden. Die Folge ist, daß die Kasse ihren Versicherten ausgerechnet dann im Stich läßt, wenn auf ihn Kosten in Höhe von zigtau-send Schilling zukommen, während Banalbedürfnisse abgedeckt werden. Familien, deren Kinder eine Zahnregulierung brauchen, wissen davon ein Lied zu singen.

Keineswegs darf auch übersehen werden, daß eine schleichende Entwicklung zur Zweiklassen-Medizin droht. Es entspricht elementaren und auch nicht zu ändernden Gesetzen des ökonomischen Verhaltens der Menschen, daß sie dort, wo qualitativ hochwertige Güter knapp sind, also nicht ausreichend „gratis" angeboten werden, zusätzliche Kaufkraft einsetzen, die eben nicht jedermann zur Verfügung steht. Die sozusagen legale Form dieser Vorgangsweise ist die private Zusatzversicherung, die im Ernstfall das prompte, bequeme Spitalsbett und den gewünschten Professor als Operateur beistellt. Ist das wirklich befriedigend? Schwarze Schafe soll man nicht als Regelfall be-

trachten, aber es gibt schon zu denken, daß kürzlich ein hochrangiger Mediziner wegen des Vorwurfs vor Gericht stand, er habe Geld für eine bevorzugte Behandlung genommen. Sicher gibt es hier eine beachtliche Dunkelziffer und vor einiger Zeit amüsierte sich die Öffentlichkeit über den angeblich existierenden Begriff „Wu-zelgeld" der für Scheine steht, die diskret in der Tasche von weißen Mänteln verschwinden.

Ernsthaft bleibt aber die Frage über, ob mittellose Menschen nicht doch geringere Chancen für ihre Gesundheit haben und sei es nur dann, wenn Kronen, Brückten und andere teure Dinge benötigt werden, welche „die Kasse" nicht zu zahlen bereit ist.

Ende der sozialen Krankenversicherung?

Viel zu wenig beachtet wird auch, daß das geltende Vertragssystem zwischen Ärzten und Krankenkassen im-' mer gefährlichere Folgen heraufbeschwört. Das Verrechnungssystem wird von der Sozialversicherung als Regime betrachtet, die Kostenentwicklung und damit auch die frei praktizierenden Ärzte in den Griff zu bekommen. Es fördert aber andererseits eben jenes Abschieben - vor allem in den teuren Krankenhausbereich - und behindert vernünftige Initiativen, wie etwa die Errichtung von Gruppenpraxen, die manche Spitalseinweisung überflüssig machen könnten.

Es muß uns sehr zu denken geben, daß immer mehr Ärzte gar nicht mehr im Vertrag mit den Kassen stehen. Die Vergabe der Kassenstellen erfolgt nach einem stark verpolitisierten System, das zwischen Ärztekammern und Krankenkassen „ausgepackelt" wird. Wer einen sogenannten „Wahlarzt" heranzieht, kann eine Vergütung in Anspruch nehmen, die man aber jetzt auch zurückstutzen will. Gehen wir womöglich dem Zustand entgegen, daß Kassenärzte nur mehr für kleine Pensionisten, Arbeitslose und Gastarbeiter da sind, während sich aber besser Situierte den Privatarzt und dessen aufmerksame Zuwendung leisten können?

Das wäre wohl der Anfang vom Ende der sozialen Krankenversicherung überhaupt.

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