7027598-1989_17_12.jpg
Digital In Arbeit

Haften für Behandlung

19451960198020002020

Was im Krankenhaus Lainz geschehen ist, löst jetzt Reformen im Spitalswesen aus. Ein Vergleich mit der Situation in den USA könnte in der laufenden Diskussion Anregungen liefern.

19451960198020002020

Was im Krankenhaus Lainz geschehen ist, löst jetzt Reformen im Spitalswesen aus. Ein Vergleich mit der Situation in den USA könnte in der laufenden Diskussion Anregungen liefern.

Werbung
Werbung
Werbung

Lainz wäre in dem Aiismaß in den USA nicht möglich gewesen. Diese Behauptimg bedeutet nicht, daß es keine Gewalt im amerikanischen Gesundheitswesen gibt. Im Gegenteil, es wären viele Patienten, die in der Vergangenheit in Lainz behandelt wurden - und manche darunter die ermordet wurden - in den USA wahrscheinlich gar nicht erst zu einem Spitalsbett gekommen. Sie wären mangels einer zureichenden Krankenversicherung von der Krankenpflege ausgeschlossen gewesen.

Die Situation in Österreich ist anders. Gewalt beginnt anscheinend dort, wo man im Gesundheitswesen eingegliedert wird, wenigstens manchmal. Lainz ist gewiß nicht repräsentativfür die beträchtlichen Leistungen des österreichischen Gesundheitswesens, aber trotzdem symptomatisch für eine Reihe struktureller Probleme.

In der deutschen Sprache gibt es kaum einen Begriff, der dem Englischen “malpractice“ entspricht: wörtlich schlecht (be)handeln.

Kurpfuscherei ist selten und “Kunstfehler“ deckt, was sonst passiert. Fahrlässigkeit wird selten vmd nur in den krassesten Fällen -eine Schere wird in der Bauchhöhle vergessen - zur Sprache gebracht.

Diese Tatsache hängt damit zusammen, daß die berufsüitemen Kontrollinstanzen der Ärzteschaft nicht hinreichendfunktionieren. Die Zunft hält zusammen, »Tn angeblich nicht qualifizierte Angriffe von außen abzuwehren. In den USA gibt es jederzeitExperten, die bereit sind, gegen ihre Fachkollegen, die als Ärzte fahrlässig gehandelt haben, ?uszusagen.

In Österreich, wo man mit der Kollegialität (sprich Deckung) anstatt der Kritik seiner Berufsgenossen rechnet, trifft dies selten zu. pie Hierarchie funktioniert viel zu gut, und Probleme beginnen schon dort, wo es selbstverständlich ist, daß der Sohn eines Primars für den Tumus-platz “vorgereiht“ wird.)

Da es mehr “malpractice“-Fälle in den USA als in Osterreich gibt, kann man entweder daraus schließen, daß es mehr inkompetente Ärzte dort als hier gibt, oder daß hier einfach weniger zum Vorschein gebracht wird. Vieles spricht für die letztere Interpretation.

Außerdem gibt es in Österreich keine zureichende außermedizinische Kontrollinstanz. In den USA werden diese primär von der zivilen Gerichtsbarkeit übernommen: Privatklagen auf Schadenersatz. Dies ist nicht mehr und nicht weniger als “Produkthaftung“ im Dienstleistungsbereich. Sie beginnt beim Installateur und endet beim Chirurgen.

Man soU nun keineswegs die amerikanische (Un)Sitte, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu klagen, verherrlichen. Aber dieser private - im Gegensatz zum strafrechtlichen - Rechtsweg ist in Österreich unterentwickelt. Erfahrungen in den USA haben bewiesen, daß die Mehrheit der “malpractice“-Klagen eben professionelle und nicht kriminelle Fahrlässigkeiten sind.

In Österreich wurde zum Beispiel vor etlichen Jahren einem Gastarbeiter irrtümlicherweise ein Herzschrittmacher eingesetzt, und er wurde mit einem Schmerzensgeld -einer niedrigen sechsstelligen Summe in Schilling - abgefertigt. In den USA hätte er wohl einen niedrigen siebenstelligen Betrag in Dollar für das gleiche “Mißgeschick“ erhalten. Hier kann man zwischen zu wenig und zu viel des Guten wählen.

Eine unangenehme Nebenerscheinung der amerikanischen Situation ist, daß Ärzte imd Spitäler gezwim-gen sind, enorme Beträge für Haft-pfüchtversichenmgen auszugeben. Die Kosten dafür (sie werden an die Patienten weitergegeben) verteuern die Versorgung und machen sie noch exklusiver. Trotzdem: Wo persönliche Verantwortung nachläßt, hilft bekannterweise oft die Vorstellung nach, man könne Geld, Ansehen, Ruf oder Arbeitsplatz verlieren.

Weiters sind amerikanische Ärzte und Patienten gewohnt, eine “zweite qualifizierte Meinung“ zu empfehlen oder einzuholen. Da die Diagnostik eine Kunst ist, sichert sich sowohl der Patient als auch der Arzt durch die “zweite Meinung“ gegen Fehler ab.

Angesichts des in Österreich herrschenden Arzt-Patienten-Verhältnisses kann man diese Sitte fast ausschließlich als mangelndes Vertrauen des Patienten dem Arzt oder des Arztes sich selbst gegenüber deuten.

Die Unfehlbarkeit des Primars ist kein Dogma in den USA, und Ärzte und Patienten werden des öfteren gezwungen, Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Patienten werden nicht wie Urunündige behandelt, sondern wie Partner Es wird mehr besprochen und weniger verordnetDie Wiener Tradition, die auf Julius Tandler zurückgeht, hat enorm viel geleistet, aber ihr Üegt die (teüs josephinistische) Vorstellung zugrunde, daß Ärzte Sozialingenieure sind.

Das Paradoxe an einem Vergleich zwischen den USA und Österreich liegt imfolgenden: In den USAhaben vieleMenschenkeine Ansprücheauf eine ausreichende medizinische Versorgung, aber wenn sie in ihren Genuß kommen, haben die Patienten das Recht - als Konsumenten, wenn man so will - die Qualität der yersorgung zu kontrollieren. In Österreich haben die meisten Menschen das Recht auf medizinische Versorgung, aber kaum die Mittel, die Qualität derselben zu prüfen. Eine ideale Lösung wäre der Versuch, die Breite der österreichischen Versorgung mit den scharfen Bedingungen der amerikanischenHaftimg zu vermengen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung