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Digital In Arbeit

Keine hospitalen Vollpensionäre

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Die Zahl der Krankenstände sinkt: Arbeitsplatzangst. Deshalb müssen die Österreicher noch lange nicht gesünder geworden, zuvor aber auch nicht kränker gewesen sein.

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Die Zahl der Krankenstände sinkt: Arbeitsplatzangst. Deshalb müssen die Österreicher noch lange nicht gesünder geworden, zuvor aber auch nicht kränker gewesen sein.

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Das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage funktioniert im Gesundheitswesen nur mangelhaft. Wobei sich das Angebot durchaus sehen lassen kann: 5.013 praktische Ärzte mit Ordination, 6.881 niedergelassene Fachärzte und 333 Krankenanstalten mit 82.000 Normbetten - die rund 60 Milliarden Schilling im Jahr kosten - lassen Zahlenfetischisten von einer „guten bis sehr guten medizinischen Versorgung in Osterreich“ schwärmen. So geschehen zuletzt in Alpbach.

Eine durchschnittliche Sicht. Denn die globale Betrachtung- so imponierend sie auch sein mag — verliert den Blick für das Detail. Dafür, daß einer hochgradigen Uberversorgung in Ballungsräumen eine blamable Unterversorgung in verschiedenen Landstrichen gegenübersteht. Dafür, daß nicht alle Ärzte für alle Patienten zugänglich sind: die einen haben keinen Kassenvertrag, die anderen keine Privatversicherung. Dafür aber auch, was eine IMAS-Studie bloßgelegt hat.

Jeder dritte Patient, lautet der Befund, kritisiert die Ärzteversorgung, und zwei von drei beklagen die langen Wartezeiten beim Arzt. Die Hälfte der Patienten hält den Kontakt, die Gesprächsmöglichkeit mit den Ärzten für unzureichend.

Zur Angebotsseite gehört wohl auch, daß der Anbieter - sprich: der Arzt - in wesentlichen Bereichen die Nachfrage steuert und sie manchmal auch unnötig verteuert, gehört aber ebenso, daß sich bei allen staatlich Krankenversicherten eine Nulltarif-Mentalität („Zahlt eh die Versicherung“) breitgemacht hat, die weder ärztliche Mühe noch Kosten scheut. Und diese Kosten laufen uns davon, nicht nur bei der Spitalsfinanzierung.

Die soziale Krankenversicherung hat die Gesundheit vom Einkommen unabhängig gemacht, aber Ärzte und Patienten auch für die Aufwendungen blind.

Natürlich stimuliert dies die Nachfrage, während sie gegenwärtig durch den wirtschaftlich bedingten Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt gedämpft wird: Die Zahl der Krankenstände ist deutlich gesunken.

Manche werden das damit erklären, daß geübte Simulanten den Ernst der Lage erkannt haben; einige sicher. Aber es kann ebenso sein, daß Kranke - aus Angst um ihren Arbeitsplatz — den Weg zum Arzt und ins Bett scheuen.

Soziale Faktoren sind aber nicht nur in diesem Zusammenhang nachfragebestimmend. Thomas Abel, Medizinsoziologe aus Marburg, skizzierte in Alpbach, daß neben dem Bedarfsfaktor „Krankheit“ auch Voreinstellungsfaktoren wie Alter, Geschlecht und Bildung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen.

Frauen haben beispielsweise durch ihre größere Symptomsensibilität im Schnitt mehr Arztkontakte als Männer, Prävention etwa wird in den sozialen Unterschichten kaum, in den mittleren und oberen Schichten weitaus häufiger gepflogen.

Und Abel plädierte für mehr Selbstverantwortlichkeit, aber gegen ökonomische Einschränkungen. Diese würden nur die untere Sozialschicht abschrecken.

ökonomische Einschränkung: Darunter wäre ein Selbstbehalt zu verstehen, bei dem man sich überlegt, zum Arzt zu gehen. Doch davon hat Gesundheitsminister Franz Löschnak in Alpbach (FURCHE 35/1987) nicht gesprochen, den hat er vielmehr ausdrücklich abgelehnt. Die Rede war nur von einem zumutbaren Verpflegungskostenbeitrag im Spital - „nicht höher als die Mindestausgaben für die ersparte Verpflegung zu Hause, also vielleicht 50 Schilling“ - vom Patienten.

Zugegeben: Auch daran wird das finanzmarode Gesundheitswesen nicht genesen, aber das macht - ehrlich betrachtet — Gesundheit und Gesundung noch lange nicht vom Einkommen abhängig.

Jedenfalls war die nachfolgende Empörung in der Öffentlichkeit groß. Sie wird aber nicht laut werden, wenn demnächst wieder zu den Weihnachtsfeiertagen die Pflegefälle in die hospitale (Gra-tis-)Vollpension wandern, damit „die Familie“ ungestört wie ungeniert Urlaub machen kann.

Für Theodor Detter, den „Colle-gialitäf-Generaldirektor, ist das beispielhaft für den „Kreislauf der Unehrlichkeit“, an dem alle im Gesundheitswesen teilhaben. Und er spricht offen aus, was zu gerne verschwiegen wird: „Die Hilfe für den Kranken bringt denen, die helfen, Macht und Einfluß.“

Und niemand will auch nur auf einen Zipfel verzichten. Im Vordergrund steht, kritisiert auch Ärztekammerpräsident Michael Neumann, das Verhältnis von Arzt und Versicherung, bei dem der Patient in den Hintergrund gedrängt wird, in dem eigentlich die Versicherung stehen sollte.

Im Vordergrund steht derzeit nur die Finanzierungskrise des Gesundheitswesens, die aber — das wurde in Alpbach deutlich — eigentlich die Folge einer Organisationskrise ist. Nicht nur Franz Löschnak sprach da von einer unverzichtbaren Integration der Gesundheitseinrichtungen — öffentlich wie privat — mit kostengünstiger Aufgabenteilung. Dem Gesundheitsminister schwebt sogar ein Gesundheits- und Sozialverbund auf Bezirksebene vor, in den die stationäre Versorgung - also die Krankenanstalten und die Pflegeheime — ebenso einzubezie-hen wäre wie die ambulante Versorgung durch Ambulanzen, Ambulatorien, niedergelassene Ärzte, mobile Schwestern und Formen der Nachbarschaftshilfe.

Nachgerade auch sensationell sein Vorschlag, vielfach wie vergeblich bisher gefordert, daß die Krankenversicherung die derzeitigen Pflegegebührensätze auch in jenen Fällen zahlt, in denen Patienten nicht im Krankenhaus liegen, sondern — noch dazu insgesamt billiger - in Hauskrankenpflege betreut werden.

Nach solchen Leistungen wird nämlich nachgefragt, ohne daß es dafür im (sozialen) Gesundheitswesen ein entsprechendes Angebot gibt. Das trifft auch für den Bereich der Rehabilitation alter Menschen und Naturheilmethoden zu. Hier sind strukturelle Veränderungen notwendig.

Vorbei auch die Zeit des blinden Vertrauens des Patienten zum Arzt und in die Medizin. Nicht der mit sich und seinen vermeintlichen Krankheiten beschäftigte „eingebildete Kranke“, sondern der „ausgebildete“ — sprich: der mündige und informierte Patient — will einfach anders, und das nicht nur medizinisch, behandelt werden.

Die angestrebte Integration wird mühsam sein. Löschnak rechnet mit drei bis fünf Legislaturperioden. Und da werden sich schon alle anstrengen müssen, wird auch auf Privatinitiative nicht verzichtet werden können. Wie es auch der Privatinitiative zu verdanken war, der privaten Krankenversicherung nämlich, daß dieses offene Gespräch in Alpbach überhaupt eine Plattform gefunden hat.

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