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Medikamente per Inserat

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Die Sowjetunion kennt bekanntlich kein freies Unternehmertum, und auch der Arzt ist in der Sowjetunion kein Privatunternehmer, sondern ein Angestellter des staatlichen Gesundheitsdienstes. Ärztliche Behandlung, ambulant oder stationär in Krankenhäusern, Hausbesuche oder Aufenthalte in staatlichen Erholungsheimen sind kostenlos — mit anderen Worten: die Kosten für die Unterhaltung des Gesundheitsdienstes bilden einen Teil der ziemlich hohen indirekten Steuern auf Lebensmittel und andere Gebrauchsgüter.

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Die Sowjetunion kennt bekanntlich kein freies Unternehmertum, und auch der Arzt ist in der Sowjetunion kein Privatunternehmer, sondern ein Angestellter des staatlichen Gesundheitsdienstes. Ärztliche Behandlung, ambulant oder stationär in Krankenhäusern, Hausbesuche oder Aufenthalte in staatlichen Erholungsheimen sind kostenlos — mit anderen Worten: die Kosten für die Unterhaltung des Gesundheitsdienstes bilden einen Teil der ziemlich hohen indirekten Steuern auf Lebensmittel und andere Gebrauchsgüter.

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Ein Besuch in einer sowjetischen Poliklinik macht den westlichen ausländer recht deutlich mit den /or- und Nachteilen des sowjetischen jesundheitswesens bekannt. Wie iberall in der Sowjetunion, ob es :ich um Orangen, Theaterkarten der gar um eine Pelzmütze handelt, nuß auch der kranke Sowjetbürger ;rst einmal schlangestehen, um sich )ei seinem Arzt anzumelden. Es be-;teht keine freie Arztwahl — wenn ler für den Patienten zuständige Vrzt gerade nicht praktiziert, muß ler Patient am nächsten oder über-lächsten Tag wiederkommen und wieder schlangestehen, um sich an-:umelden. Vor dem Ordinationsraum les Arztes findet der Patient dann wieder eine Schlange vor, doch ist sie neist absehbar und man kann sit-:end warten. Wenn man die Einstel-ung der sowjetischen Ärzte zu den Patienten mit der Behandlung vergleicht, die man von anderen Dienst-eistungsbetrieben, wie Kaufhäusern )der Restaurants, in Rußland gelohnt ist, so muß betont werden, äaß sich die Ärzte sehr positiv von hnen abheben. Der Arzt bringt dem Patienten sehr viel mehr Aufmerksamkeit entgegen, als dies etwa im Westen bei Krankenkassenärzten üblich ist, die Untersuchungen werden genau und gründlich durchgeführt und man hat den im Westen meist fehlenden Eindruck, daß der Arzt wirklich um die Gesundheit des Patienten besorgt ist.

Der kranke Sowjetbürger, ob Student, Arbeiter oder Angestellter, braucht eine ärztliche Bestätigung, um von seinem Arbeitsplatz fernbleiben zu können (durch Krankheit erfolgter Lohnausfall wird voll ersetzt), und die sowjetischen Ärzte sind im Ausstellen dieser Bestätigungen generell viel freigebiger als westeuropäische Ärzte, obwohl sie zum Unterschied von diesen überhaupt nicht von einer verlängerten Krankheit profitieren können. Selbst eine einfache Erkältung, die in Westeuropa mit zwei Tagen Fernbleiben vom Arbeitsplatz erledigt ist, nimmt in Rußland die Form einer richtigen einwöchigen Krankheit an mit drei bis vier Tagen Bettruhe und allerlei sonst in Europa unüblichen Vorsichtsmaßnahmen.

Die medizinische Behandlung erfolgt in Rußland (wie auch im Westen) hauptsächlich durch eine Vielzahl von Medikamenten, die der Patient bei ambulanter Behandlung allerdings selbst bezahlen muß (im Krankenhaus sind die Medikamente kostenlos). Doch sind die sowjetischen Medikamente unglaublich billig. Allerdings leidet die Sowjetunion, wie auf anderen Gebieten, so auch auf dem Heilmittelsektor unter Versorgungsschwierigkeiten — oft sind wichtige Medikamente nicht zu erhalten, und die Ärzte werden häufig durch spezielle Inserate in der „Iswestija“ darauf hingewiesen, daß das eine oder andere Medikament wieder im Handel ist. Anders als in Europa erfreuen sich hingegen in Rußland traditionelle Volksheilmittel noch heute großer Beliebtheit und werden auch von den Ärzten wärm-stens empfohlen — heiße und kalte Umschläge oder Pflaster aller Art, wie Senfpflaster, das in Rußland gebräuchlichste Heilmittel gegen Bronchitis.

Was die Zahl und Ausrüstung der Spitäler betrifft, so leidet die Sowjetunion unter denselben Problemen wie Westeuropa — die Krankenhäuser sind häufig nicht modern genug ausgerüstet und haben viel zu wenig

Betten. Darüber wird allerdings ir der Sowjetunion öffentlich nicht diskutiert und genaue Zahlen sind nichl zu erhalten. Uber die Auswirkungen der Hongkong-Grippe-Epidemi€ im Spätherbst 1971 auf die Bettensituation in den Spitälern konnte man sich nur durch Gerüchte informieren — etwa der Art, daß selbst füi schwere Fälle, die unbedingt stationärer Behandlung bedurft hätten wochenlang kein Spitalbett aufzutreiben war. Obwohl die Ärzte auch in den Krankenhäusern freundlich zu den Patienten sind, können sie sich ihnen doch häufig nicht mit dei nötigen Gründlichkeit widmen, d£ sie meist überlastet sind — nicht nur wegen der zeitweise überfüllten Krankenzimmer, sondern auch deshalb, weil die überwiegende Mehrzahl der sowjetischen Ärzte Frauen sind (75 Prozent der Chirurgen sind Frauen!), die neben ihrem Beruf auch noch den Familienhaushalt versorgen müssen. Das Essen in den Krankenhäusern wird allgemein als schlecht und nicht ausreichend bezeichnet — ausländische Studenten, die in sowjetischen Spitälern behandelt wurden, ernährten sich hauptsächlich von milden Gäben ihrer russischen Bettnachbarn.

Neben dem kostenlosen staatlichen Gesundheitsdienst existieren in der Sowjetunion auch Kliniken, in denen man für Bezahlung und deshalb natürlich — wie überall — aufmerksamer behandelt wird, doch sind nur wenige Sowjetbürger für diesen Luxus genügend wohlhabend. Es gibt auch eine allerdings geringe Zahl von Ärzten, meist 'berühmte Professoren, die das Recht haben, Privatpatienten, zu behandeln. Eine Konsultation bei einem solchen „Privatarzt“ kostet 10 Rubel (bei Hausbesuchen 20 Rubel) und besteht aus einer überaus sorgfältigen mehrstündigen Untersuchung des Patienten.

Die Russen sind im Unterschied zu Europäern ein sehr gesundheitsbewußtes Volk: Sport und Körperertüchtigung werden großgeschrieben, das Rauchen in sehr vielen Restaurants und auch an vielen Arbeitsplätzen verboten und jeder Russe weiß, daß es wichtig ist, wenigstens einmal am Tag „frische Luft“ zu atmen. So sieht man nicht selten, wie noch am späten Abend dickvermummte Frauen vor der Haustürc im Schnee herumstapfen und „frische Luft“ atmen. Eine der meistgelesenen Zeitschriften in der Sowjetunion ist die Zeitschrift „Zdorovie“ (Gesundheit), die voll ist von guten Ratschlägen, wie man allen möglichen Krankheiten vorbeugen kann.

Anderseits sind die Russen aber auch noch recht abergläubisch. Selbst Leute mit Universitätsabschluß wenden sich nicht selten an ausgemachte Kurpfuscher und trinken für teures Geld irgendeinen Kräuterabsud, der natürlich nichts nützt. Dennoch sind sie fast alle von der besonderen Heilkraft alter Volksheilmittel überzeugt — man denke nur an die Stelle in Solschenizyns „Krebsstation“, wo alle Patienten, ob Parteibürokrat, Lagerhäftling oder junger Wissenschaftler, in helle Aufregung geraten, als sie von einem bestimmten Baumschwamm erfahren, dessen Saft angeblich krebshindernd wirken soll.

Angenehm berühren am sowjetischen Gesundheitswesen die Sorge und Sorgfalt, die der Arzt dem Patienten entgegenbringt, unangenehm wirken vor allem der leidige Bürokratismus, das ewige Schlangestehen um „Bestätigungen“, doch sind das Erscheinungen, die nicht nur ein Charakteristikum des Gesundheitswesens, sondern des sowjetischen Alltags überhaupt darstellen.

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