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Patienten ohne Sprache

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DER FORTSCHRITT DER MEDIZIN I ist nicht nur dem Menschen, sondern i auch dem Tier zugute gekommen. . Zahlreiche Pionierleistungen im Kampf um die Heilung des einzelnen und um ] die Verlängerung des menschlichen \ Lebens im allgemeinen wurden in Wien ; Vollbracht. Doch während dies all- i gemein bekannt ist, während Hunderttausende mit Stolz von „unserer“ medizinischen Schule sprechen, hat sich j der Weltruf der österreichischen Veterinärmedizin hierzulande nicht so all- i gemein herumgesprochen.

Dabei zählen die Kliniken der Tier- . ärztlichen Hochschule in Wien (der gegenwärtig Prof. Dr. Zacherl als Rector magnificus vorsteht) zu den • renommiertesten der Welt. Auf keiner anderen Hochschule Österreichs studieren im Verhältnis so viele Ausländer, seit dem Krieg haben allein an der „Chirurgischen“ mehr als hundert promoviert. Sie kommen aus Amerika, England, Schottland, aus Innerafrika, aus Israel — aus aller Welt. Sie werden nicht nur ihr in Wien erworbenes Wissen in ihren Ländern verwerten; jsder von ihnen trägt dazu bei, Österreich seinen Ruf als Land der Wissenschaft zu erhalten.

Einen Ruf, auf den, in offiziellen und inoffiziellen Reden und Schriften, Tag für Tag Wechsel gezogen werden. Wechsel auf die Vergangenheit, die durch unser Verhalten in der Gegenwart durchaus nicht immer gedeckt erscheinen. Wiens Tierkliniken in, der Linken Bahngasse im dritten Bezirk sind in dieser Hinsicht eine rühmliche Ausnahme: Man spricht nicht viel von ihnen, in Wien, aber man kennt sie auf der. ganzen Welt. Ihr Ruhm ist durchaus Gegenwart. - ■ . -Ar * ' •■ * •'. ''M

DER WIENER NENNT SIE MEISTENS EINFACH „DAS TIERSPITAL“. Er bringt seine Haustiere in die Ambulanz, wo es im Vorraum täglich bis 16 Uhf ein bellendes und miauendes Treffen der Patienten gibt, die äli der Leine, in Taschen und Schachteln hergebracht wurden und auf den Eintritt in den Behandlungsraum warten.

Dieser unterscheidet sich kaum von irgendeinem anderen ärztlichen Ordinationszimmer. Ein Schreibtisch, die üblichen Glasvitrinen, Flaschen und Instrumente, starke Lampen, allerhand Geräte ,.. Ungewöhnlich ist höchstens der glatte, große Behandlungstisch, der nach jedem Patienten mit einer desinfizierenden Rüssigkeit abgerieben wird. Ungewöhnlich ist natürlich auch die „Ordinationshilfe“ — nicht das übliche junge, hübsche Mädchen, sondern ein kräftiger Mann. Tiere sind manchmal verständnislose, ängstliche und daher störrische Parienten.

Der Schäferhund Rolf zum Beispiel aeigte sich beim ersten Besuch in der Ambulanz durchaus zahm — als er sich gegen die Injektionsspritze zur Wehr setzen wollte, war die Prozedur auch schon vorbei. Doch Tiere haben bekanntlich oft ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Als Rolf wiederkam, sträubte er sich schon beim Eintritt ins Wartezimmer mit allen Vieren. Im Behandlungszimmer zeigte er sich entschlossen, seine Haut mit allen Mitteln gegen den nadelbewehrten Arzt zu verteidigen. Er ließ sich auch von seinem Herrn und Besitzer nicht festhalten.

Die erste Runde im Ringkampf zwischen Herr und Hund endet mit einem klaren Sieg Rolfs. Die Spritze kommt seinem Fell nicht einmal in die Nähe. Ohne Gong zur zweiten Runde! Tierarzt und Ambulanzgehilfe geben Hilfestellung, Herr und Hund ringen auf dem Fußboden. Wie so oft erweist sieh auch in diesem Fall eine List als besser denn rohe Gewalt: In einer Kampfpause wird Rolf vorne abgelenkt und hinten unversehens' ge* stöchen. Da er die Nadel nicht zu Gesicht bekommt; scheint er den Einstich gar nicht zu bemerken. Stoßseufzer des Mannes im weißen Mantel: „Wenn wir lauter solche Patienten hätten!“

„Der nächste, kittet“ Der nächste läßt willenlos alles mit sich geschehen. Er leidet an einem bösen Husten - und dabei ist er erst ein paar Wochen auf der Welt! Die Hände des Arztes betasten den winzigen Dackelkörper. Eine klein Spritze-

3er Patient nimmt sie kaum zur Kenntnis. Er möchte nur schnell wieder in die Tragtasche zurück. Während ein Zettel ausgefüllt und eine Empfangsbestätigung für das Honorar aufgeschrieben wird, schafft das winsige Hundebaby das schwierige artistische Kunststück ganz allein.

„Der nächste, bitte!“ Das ist ein trauriger Fall. Ein kleiner Vogel mit geschwollenem Leib. Der Arzt betastet ihn vorsichtig und macht ein sorgenvolles Gesicht: Es gilt, die Mitteilung, die gemacht werden muß, in die richtigen Worte zu kleiden und doch keinen Zweifel daran zu lassen, daß man dem Tier weitere Schmerzen ersparen sollte. Der Vogel wird weggetragen.

Der nächste Patient ist eine Katze — auch hier macht der Tierarzt ein ernstes Gesicht. Das Tier kann gerettet werden - doch nur durch eine Operation. Die Dame, die die Katze in der Einkaufstasche gebracht hat, stellt eine Frage. Der Arzt nennt einen Betrag — die voraussichtlich entstehenden Kosten. Kurze Überlegung. Die Miezekatze wird operiert. Da ein Hund oder eine Katze für viele Menschen der beste, wenn nicht der einzige Freund ist, wird zu deren Rettung oft nicht viel weniger getan als zur Rettung eines kranken Menschen.

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EIN BLASEBALG IN EINEM HOLZGESTELL. Das seltsame Ding steht in einer Ecke des kleinen „Museums“, das in einem Raum der medizinischen Klinik eingerichtet wurde. Mit diesem Apparat wurde vor Jahren zum erstenmal ein Pferd in Vollnarkose operiert. In einem großen Glas sieht man ein sechs Kilogramm schweres Gewächs, von dem ein vor der Operation achtzehn Kilogramm schwerer Hund befreit werden konnte. Unter dem Tisch ganze Kisten, voll mit Steinen: Teils wurden sie, hauptsächlich von wiederkäuenden Patienten, mit dem Futter verschluckt, teil* handelt es sich um Nieren-, Magen- und Darmsteine, die vom Organismus gebildet wurden.

An der von Professor Dr. Gratzl geleiteten medizinischen Klinik werden heute die modernsten und kompliziertesten Behandlungsmethoden der Humanmedizin auch an Tieren angewendet.

An der chirurgischen Klinik führt Professor Dr. Überreuter, der nicht nur Veterinär-, sondern auch Humanmedizin studiert hat, Operationen aller Art aus. Der Klinik steht ein ursprünglich für ein normales Spital konstruierter Narkoseapparat zur Verfügung, der durch sinnreiche Änderungen für die Zwecke der Tierchirurgie hergerichtet wurde. Alle Dosierungen sind möglich.

Pferde können mit' diesem Gerät ebenso narkotisiert werden wie Hunde.

Staroperationen sind an der chirurgischen Klinik, gleichzeitig Augenklinik, keine Seltenheit mehr. Auch Krebsoperationen an Hunden sind durchaus nicht ungewöhnlich, selbst schwierigste Herzoperationen wurden bereits durchgeführt.

Geht man durch die „Krankenzimmer“ und liest man die Blätter mit den üblichen Eintragungen über den „Krankenbetten“, sprich Käfigen, so freut man sich darüber, daß hier Hilfe offensichtlich auch dann gewährt wird, wenn kein Besitzer da ist, der die medizinische Betreuung des Tieres bezahlt: Auf einem der Blätter steht dort, wo eigentlich der tName hingehört, ein großes Fragezeichen, und die Altersangabe ist nur eine Schätzung. Der Hund wurde herrenlos mit einer schweren Beinverletzung aufgegriffen und vom Tierschutzhaus an die chirurgische Klinik der Tierärztlichen Hochschule weitergegeben. Nach seiner Heilung wird ihm das Tierschutzhaus einen neuen Herrn suchen.

Besuchszeit: Täglich vor und nach dem Essen je eine Stunde. Doch wie in jedem anderen Spital, gibt es auch hier für manche Patienten Besuchsverbot: Besser, ein frisjehoperierter Hund winselt einen Tag nach seinem Herrn, als er reißt sich die Operationsnarbe auf, wenn er freudig gegen das Gitter springt.

Eine steife Halskrause aus Karton verhindert, daß die Tiere mit den Zähnen Schaden am Verband anrichten.

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MAN KANN IHNEN JA NICHT SAGEN: „Halt dich ruhig, sonst wirst du nicht gesund!“ Man kann sie auch nicht fragen: „Wo tut es eigentlich weh?“ Eine der größten Schwierigkeiten ist — naheliegenderweise — für die Veterinärmedizin die Tatsache, daß ihre Patienten keine Sprache haben. Weniger robuste Tiere gehen oft zugrunde, weil man einfach nicht rechtzeitig bemerkt, daß sie überhaupt krank sind. So manches Pferd mußte eingehen, weil ein nachlässiger Stallknecht erst am nächsten Vormittag Meldung machte, daß das Tier seit dem Abend nicht mehr fraß. Pferde haben bekanntlich eine besonders empfindliche Gesundheit.

Auf den Bauernhöfen gibt es allerdings immer weniger Pferde, für die Zugtiere des 20. Jahrhunderts ist nicht der Tierarzt, sondern der Mechaniker zuständig. Um so größere Bedeutung für die österreichische Landwirtschaft haben die von Professor Dr. Diern-hofer geleitete Rinderklinik, wo Paarhufer aller Art — also Rinder,

Schweine, Ziegen, Schafe — behandelt und die angehenden Tierärzte am lebenden Objekt ausgebildet werden, sowie“ die Klinik für Geburtshilfe und Gynäkologie (Prof. Dr. Benesch). Nur ein Bruchteil der promovierten Dok-tores med. vet. wird mit Hunden, Katzen, Kanarienvögeln oder gar Goldfischen befaßt — die überwiegende Mehrheit geht aufs Land.

Dort hat die Arbelt des Tierarztes eine gewaltige volkswirtschaftliche Bedeutung. Eine verlorene Kuh bedeutet den Verlust einiger tausend Schilling, geht ein wertvoller Zuchtstier ein, sind möglicherweise zehntausende Schilling dahin, ist der Rinder- oder der Schweinebestand eines größeren Hofes oder gar einer ganzen Gegend von einer Seuche bedroht, so stehen Millionenwerte und Existenzen auf dem Spiel. Jede Maul-und-Klauenseuche* Epidemie bedeutet eine wirtschaftliche Katastrophe. Rinder-Tbc und Bang vernichten auch heute noch Jahr für Jahr Millionenwerte.

In einem eigenen Rinderstall mit jeweils 25 bis 30 Rindern, die der Hochschule gehören, lernen die Studenten der Veterinärmedizin die manuellen

Fertigkeiten und die Kunstgriffe, die der Tierarzt beherrschen muß, wenn der Bauer mit ihm zufrieden sein soll.

Da steht zum Beispiel ein Student — mit dem rechten Arm bis zur Schulter in einer Kuh. Es handelt sich um ein Tier, dem zu Demonstrationszwecken eine sogenannte Magenfistel angelegt wurde, ein künstlicher Ausgang des Magens direkt ins Freie. Dazu waren zwei Operationen nötig: Die Magenwand mußte zunächst von innen an die Körperhaut angenäht werden, einige Zeit später wurde dann eine kleine, kreisrunde Öffnung geschaffen, die gewöhnlich durch eine Gummidichtung und einen Metalldeckel verschlossen ist. Hebt man ihn ab, so kann man, Hand und Arm in einem schulterlangen Gummihandschuh, in den Magen der Kuh greifen und sich mit seiner „Topographie“ vertraut machen. Dies ist sehr wichtig — vielleicht wird der jungje Tierarzt nur zu bald gezwungen sein, im engen Stall eines Bergbauern, womöglich ohne elektrisches Licht, den Körper einer Kuh zu öffnen und einen verschluckten Nagel, einen Autobestandteil oder einen Sackfetzen herauszuholen.

Die Kuh frißt ruhig weiter. Während der stud. med. vet. in ihrem Magen herumgreift. Von Schmerzen kann dabei keine Rede sein.

OBWOHL DER ANBLICK MANCHEM TIERFREUND einen Stich versetzen mag. Doch mit der Tierliebe mancher Menschen ist es eine eigene Sache. Oft richten gerade Leute, die es besonders gut meinen, aus lauter Tierliebe großen Schaden an. Jeder Tiergartendirektor, der das P. T. Publikum vergebens vom disziplinlosen Füttern der Tiere abzuhalten versucht, kann ein Lied davon singen. So manches Schönbrunner Tier mußte nicht zuletzt deshalb schon ins „Tierspital“ gebracht werden.

Auch Ziegen, die aus lauter Liebe mit Brot und Kuchen gefüttert wurden, bis sich ihre Knochen aus Kalkmangel durchbogen, und Hunde, die zugrunde gingen, weil die Besitzerinnen den Anordnungen des Tierarztes nicht Folge leisteten und ihrem Liebling verschiedene Leckerbissen nicht vorenthalten wollten, sind dem Veterinärmediziner nicht fremd — derlei erlebt er in seiner Praxis immer wieder.

Vor allem der Stadttierarzt.

Dafür hat er allerdings die Genugtuung, daß er jedesmal, wenn er einem Tier die Gesundheit rettet, auch mindestens einem Menschen hilft. Es ist kein Geheimnis, daß der Städter, wenn er sich ein Tier hält, besonders an ihm hängt. Unter so vielen ungesunden und unerfreulichen Aspekten des Großstadtlebens ein positiver.

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