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Sterben im Spital

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Der Auftrag, diesen Bericht zu schreiben, wurde äußerst widerwillig akzeptiert, aber an der saisonbedingten Aktualität des Themas wurden alle Ausreden zuschanden. Tod und Sterben sind nun einmal kein Thema, mit dem sich die Menschen besonders gern beschäftigen, und die Journalisten machen da keine Ausnahme. Diese Abwehr, dieses Wegschieben ist heute so weit verbreitet, daß es uns als selbstverständlich und allgemeinmenschlich erscheint.

Wir fragen gar nicht mehr, ob dieses Nicht-an-den-Tod-denken-Wol-len wirklich so ewigmenschlich ist, wie es uns heute erscheint. Beziehungslos, unvermittelt, steht im Bewußtsein des Menschen in der industriellen Zivilisation das in der Schule erworbene Wissen von Kulturen, die den Tod zu einem der wichtigsten Inhalte des Lebens wenn nicht zum Hauptinhalt schlechthin gemacht hatten, steht die Erinnerung an gar nicht so weit zurückliegende Zeiten, in denen man mit dem Sterben zwar nicht auf freundlichem, abef doch vertrautem Fuß stand, stehen nicht zuletzt die Glaubensinhalte des Christen neben der stillen und kaum je in Frage gestellten Ubereinkunft einer Gesellschaft, so selten wir nur irgend möglich an den Tod zu denken und vor allem so selten wie nur irgend möglich vom Tod zu reden.

Parallel mit dieser Tendenz, den Tod aus unserem'Bewußtsein zu verbannen, schreitet auch die Aussonderung der Sterbenden aus der Gesellschaft der Lebenden, genauer: der Gesunden, voran. „Man“ stirbt nicht mehr zu Hause. „Man“ stirbt im Spital. Beziehungsweise wird zum Sterben dorthin gebracht. Offiziell natürlich zwecks Lebensrettung. Oder wenigstens Lebensverlängerung. Oder „optimaler Betreuung“ bei jenem Geschäft, um das kein Mensch herumkommt. Aber ganz abgesehen davon werden auch immer mehr Menschen vor allem deshalb zum Sterben ins Spital gebracht, damit sie es nicht zu Hause tun.

Vor-und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg starb nur ein Fünftel der Menschen im Spital. Noch vor 15 Jahren die kleinere Hälfte. Heute sind es mehr als 60 Prozent, und ihr Anteil steigt weiter. Das Spital wird mehr und mehr zur „normalen“ Endstation des Menschen, Sterben im Spital zur Norm, zur gesellschaftlichen Konvention.

. Anderseits ... Ich erinnere mich an allzuviele Menschen im Verwandten- und Freundeskreis, die zu Hause gestorben sind, um dem, was die Statistik sagt, so ganz ungeprüft zu vertrauen. Wenn ich mich frage, welche Konstellationen denn in den einzelnen Fällen dazu führten, daß sich

Menschen entschlossen, die unmittelbare Konfrontation mit dem Sterben eines Angehörigen nebst den mit der Pflege eines Sterbenden und der Gemeinschaft bis zum bitteren Ende verbundenen seelischen und körperlichen Lasten auf sich zu nehmen, komme ich zu einem nicht sehr überraschenden Ergebnis: Besonders enge Beziehungen zwischen dem Sterbenden und mindestens einer Person in seiner engsten Umgebung - und/oder insgesamt intakte, über den Rahmen der Kleinfamilie hinausgehende Familienstrukturen.

Die Kleinfamilie aber ist, ob wir es richtig finden oder nicht, die Lebensform unserer Zeit. Vielleicht hat die Atomisierung der Großfamilie nicht weniger Anteil am Trend zum Spital als Sterbeort als die Möglichkeiten der klinischen Medizin, Leben zu erhalten oder das Ende des Lebens zu erleichtern. Ersteres ist im Selbstverständnis der Medizin deren einzige Aufgabe, durch letzteres fühlt sie sich teils überfordert, teils behelligt.

Patienten, denen nicht mehr zu helfen ist, sind einerseits in jeder großen Klinik ein alltäglicher Anblick für Ärzte und Schwestern. Sind aber anderseits auch schon Außenseiter. Sie wirken am großen Teamwork des Heilens und Gesundwerdens nicht mehr mit. Sie sind noch da, aber schon abgemeldet. Nur eine kleine

Minderheit der Ärzte und Schwestern hat die Funktion des Spitals als Sterbeort für die Menschen im Sozialstaat innerlich akzeptiert. Und damit die Sterbenden als Menschen mit Ansprüchen, als Menschen, die noch immer und bis zum letzten Atemzug Rechte haben - Menschenrechte. Noch kleiner ist die Zahl jener, die begönne haben, über die psychologischen und organisatorischen Probleme nachzudenken, die den

Kliniken aus diesem Sachverhalt erwachsen.

Erinnerung des Autors: Das Verschwinden der Ärzte aus dem Einzelzimmer einer Patientin, um deren Leben unter Einsatz des ganzen Instrumentariums einer modernen Universitätsklinik gekämpft wurde -von einem auf den anderen Tag. Die plötzlich vorhandene gläserne Wand zwischen den Besuchern dieser Patientin und dem medizinischen Personal. Die betretene Reaktion eines Oberarztes auf eine direkte Frage: „Sie sehen ja ...“

Andere Erinnerung des Autors: Das Gespräch mit einem Arzt über die seelischen Probleme eines aufgegebenen Krebskranken. Der Arzt: „Man muß den Menschen Hoffnung lassen bis zuletzt Diese Menschen werden immer bescheidener, ihre Wünsche spiegeln, was in ihnen vorgeht. Zuerst fragen sie, ob sie noch einmal gesund werden. Später wollen sie nur noch einen Sommer erleben, oder einen Winter. Dann wollen sie nur noch ein einziges Mal nach Hause. Schließlich wollen sie nur noch einmal einen Baum sehen.“

Weit zurückliegende Erinnerung des Autors: Schwestern in einem Wiener Spital, auf dem Gang Anekdoten einer Faschingsnacht austauschend. Lachend. Die Frage einer Besucherin: „Wie geht es meiner Mutter?“ Unbeteiligte Antwort: „Aber die ist doch schon in der Nacht gestorben!“ Fortsetzung der Unterhaltung.

Auskunft eines Mannes, der sich in der österreichischen Ärztezeitung einmal mit dem Thema „In Würde leben und in Würde sterben“ beschäftigt hat und heute Präsident der Wiener Ärztekammer ist, Primarius Dozent Hermann Neugebauer: „Es ist heute viel besser als früher, das Problem wird heute deutlicher gesehen, aber wir müssen auch erkennen, daß es eine optimale Lösung für die Probleme des Sterbenden im klinischen Betrieb nicht gibt. Wir sprechen nicht vom plötzlichen, sondern vom erwarteten Tod, dabei gibt es zwischen tiefer Bewußtlosigkeit und dem Sterben bei vollem Bewußtsein viele Zustände von Bewußtheit, ganz zu schweigen vom bekannten Hellwerden vor dem Tod, dem plötzlichen Herauskommen Sterbender aus dem Koma. Wohin mit ihnen? Ich bin gegen das Sterbezimmer mit Kruzifix, gegen jeden Raum, der den Sterbenden zwingt, plötzlich zur Kenntnis zu nehmen, wie es um ihn steht. Im Saal aber, bei den anderen Patienten, stellt er eine psychische Belastung für die anderen dar. Wenn es irgendwie möglich ist, wird er an meiner Klinik in ein Einzelzimmer gebracht, aber nicht in die Rolle des Sterbenden gedrängt. Aber in einer orthopädischen Klinik sterben nicht so viele Menschen. Auf den großen chirurgischen Stationen gibt es oft ganz einfach keine andere Möglichkeit als den Gang mit einem Paravent. Das ist keine würdige Sterbestätte. Wenn es irgendwie möglich ist, sollte man den Angehörigen Gelegenheit geben, beim Sterbenden zu bleiben. Ich stelle ihnen einen Lehnsessel zur Verfügung, aber an einer Intensivstation zum Beispiel bedeuten Besucher verstärkte Infektionsgefahr. Vielleicht sollte die Krankenhausseelsorge intensiviert werden, hier lägen sicher noch Möglichkeiten.“

Hermann Neugebauer ist einer der wenigen im Spitalsbetrieb, die das Sterben im Spital als Problem zur Kenntnis nehmen. Es ist der Mehrheit der Ärzte und Schwestern nicht zu verübeln, daß sie diesem Problem aus dem Weg gehen. Es verdrängen. Sie sind ja nicht nur Menschen schlechthin, dem Tod in besonderem Ausmaß und besonderer Weise konfrontierte Menschen, sondern auch Menschen einer Zeit, zu deren Konventionen es gehört, Tod und Sterben zu verdrängen.

In Wien wird in eine wesentlich höhere Zahl von Totenscheinen als die bundesweiten 60 Prozent ein Krankenhaus als Sterbeort eingetragen. Wieviele dieser Menschen in einem Einzelzimmer starben, ist nirgends

registriert. Es handelt sich wohl um eine Minderheit. Die meisten sterben wohl in Krankensälen hinter Wandschirmen, in Intensivstationen, umgeben von Geräten, angeschlossen an Schläuche und Kabel, auf Gängen, in Badezimmern, denn auch dieser einst so „gängige“ Sterbeort im Spital wird, wo keine andere Möglichkeit vorhanden ist, fallweise als Vorzimmer zur Ewigkeit zweckentfremdet.

Reflexionen über das Sterben im Spital haben im Spitalsbetrieb Seltenheitswert. Immerhin wird allenthalben betont, man sei sich dessen bewußt, daß nicht nur auf die psychische Belastung kranker Menschen durch Sterbende, sondern auch auf diese selbst Rücksicht genommen werden müsse. Daß letztere Rücksichtnahme an zweiter Stelle rangiert, ist unverkennbar.

Die organisatorischen Probleme eines würdigen Sterbens im Spital -und nicht „auf Klasse“ - könnten vielleicht leichter gelöst werden, wäre nicht das Sterben auch dort, wo es allgegenwärtig und alltäglich ist, tabuiert, würde es nicht auch hier, wenn schon nicht aus dem Gesichtsfeld, so doch aus dem Bewußtsein verdrängt.

Wenige Jahre zurückliegende Erinnerung des Autors: Der sterbende Bettnachbar in einem größeren Saal. Der Sohn des alten Mannes, um die vierzig, verlegen, schwankend zwi-

sehen Pflichtgefühl („noch eine Viertelstunde“) und Wunsch („weg, sofort weg“), nach einer Weile ein paar Worte von So-viel-zu-tun und Es-wird-schön-wieder-besser-werden. Der alte Mann spielt mit: Ja, wird schon besser werden, geh nur jetzt. Fast alle Sterbenden spielen das Gesellschaftsspiel des Um-die-Sache-Herumredens mit, helfen verdrängen und verdrängen selbst, behalten bei sich, was sich nicht mehr verdrängen läßt, zeigen fast so etwas wie schlechtes Gewissen ob der seelischen Umstände, die sie ihren Lieben machen, und sterben zuletzt, wie sie gelebt haben und wie die Gesellschaft weiterleben wird: Im Bewußtsein, daß sie einmal sterben müssen, aber in der Hoffnung: Jetzt noch nicht.

Der Sohn geht, es wird Abend, die Nachtschwester behelligt den alten Mann mit Essen, da ihm nichts mehr nützt, mit Bettenmachen, das ihn nicht mehr interessiert, mit Einmal-so-und-einmal-so-liegen-Müssen, auf das es nicht mehr ankommt. In der Nacht wird der bekannte Wand-

schirm aufgestellt, das Röcheln wird lauter, am Morgen ist das Bett leer.

Sterben im Spital: Das bedeutet auch, extremstes Ausgeliefertsein. Der Sterbende ist einer, der sich nicht wehren und nicht beschweren kann. Einer, der morgen nicht mehr da ist. Ein Mensch mit Menschenrechten ohne die geringste Chance, selbst auf seine Rechte zu pochen.

Aber auch die Ärzte und Schwestern sind ausgeliefert: Einer existentiellen Konfrontation, die jeder auf seine Weise verarbeitet, mit der jeder im Spitalsbetrieb fertigwerden muß. Die vielzitierte Schnoddrigkeit der Ärzte ist Selbstschutz. Nur das Abschalten dort, wo nichts mehr zu machen ist, ermöglicht es Ärzten und Schwestern, ihren Beruf auszuüben.

Erinnerung des Autors: Plötzliches Gerenne und Geräteschleppen in einer Wiener Herzstation, ein Haufen von Ärzten, Ärztinnen, Schwestern um einen in der Vorhalle auf dem Boden liegenden Menschen, der mit einem schweren Herzinfarkt gerade noch lebend aus dem Rettungswagen gehoben wurde. Fast eine Stunde Kampf um das Leben eines alten Mannes, auf dem Fußboden, ehe es möglich ist, ihn ins Bett zu bringen, dann ein weiteres, verbissenes Ringen um dieses Leben, buchstäblich ohne Ruhepause, bis zwei oder drei Uhr früh. Auf einem Sessel eine graue alte Frau. Der Kampf ist vergebens. Am Morgen auf die Frage: „Was

ist mit dem alten Mann?“ eine Geste, die als schnoddrig gedeutet werden könnte, ein resignierendes Achselzucken.

Den Rest,- die psychologischen Probleme des Sterbens, überläßt die Medizin nur zu gerne dem Krankenhausseelsorger. Aber auch der Krankenhausseelsorger versteht sich nicht als Todesbote, kann nicht seine Aufgabe darin sehen, Menschen zu sagen, wie es um sie steht. Er spendet Trost und Sakramente - er spricht von Hoffnung, und läßt offen, auf welche Welt sich die Hoffnung bezieht.

Uber Sterben und Sterbeprobleme wurden in letzter Zeit etliche Bücher geschrieben. Ein Problem wird langsam erkannt, in Angiff genommen, eines Tages vielleicht gelöst: Sterben im Spital als psychologisches Problem. Als letztes soziales Problem, als Sozialproblem. Der Tod als existentielle Kategorie bleibt ausgeklammert, wird „nicht einmal ignoriert'.

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