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Digital In Arbeit

Unbetreuter Herbst

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Das menschliche Leben ist durch die Errungenschaften der ärztlichen Kunst seit einem halben Jahrhundert um etwa zwanzig Jahre verlängert worden. Da aber eine Anpassung der sozialen Verhältnisse an diese Lebensverlängerung noch nicht stattgefunden hat und da der alternde Mensch in den letzten Jahrzehnten schwer diskriminiert wurde, bedeutet dieses Geschenk der Heilkunde an die Menschheit für viele derzeit Sorge und innere Not. Die neuentstandene Menschengruppe der „Alternden“, die in Amerika als active maturity — arbeitsfähige Reife — bezeichnet wird, hat ihren Platz in der modernen Gesellschaft noch nicht gefunden. Sie muß aus dem Dienst in einer Zeit ausscheiden, in dem früher das Bedürfnis bestanden hat, „auf die Postille gebückt zur Seite des wärmenden Ofens“ ein Großvaterdasein zu führen, heute aber noch volle Arbeitskraft und das Bedürfnis nach Betätigung vorhanden sind. Die Welt, die heute einer Erneuerung entgegengeht, ist voll von Aufgaben auch für diese neue Menschengruppe der Alternden. Aber die Anpassung ist noch nicht vollzogen. Der einzelne ist mit all seinen Problemen nodi auf sich gestellt. Industrieärzte wissen, wie schwer der arbeitende Mensdi die Um-Schaltung vom Arbeitsleben auf einen täg-lidien Leerlauf verträgt und welche körper-lidien und geistigen Verfallserscheinungen sich dadurch einstellen. Und mit dem Arbeitsverlust Hand in Hand gehen oft materielle Not, Wohnungssorgen, Vereinsamung. Aus dieser Erkenntnis heraus haben die großen amerikanischen Betriebe — die General Motors, Oil Companies — sowie Universitäten ihre Beratungsstellen für alternde Menschen geschaffen. Noch lange vor der sogenannten Ruhezeit, dem retirement, soll der Alternde wissen, wohin er sich zurückzieht, wie er sein Leben einrichten wird. Neben der in Dienststellen organisierten Arbeit gibt es ja eine Unmenge Arbeitsaufgaben für leistungswillige Menschen. Diese Aufgaben gilt es aufzufinden und den Leistungswilligen nahezubringen. Wer nicht schon früher neben seinem Beruf eine Lieblingsbeschäftigung ausübte, lernt in Kursen für erweiterte Erwachsenenbildung Arbeiten kennen, die er bis ins hohe Alter ausüben kann. Aber auch die Fragen der körperlichen und geistigen Hygiene werden besprochen, Zentren der Geselligkeit werden geschaffen, in denen die Alternden Kontakt mit jenen finden, die noch mitten im Leben stehen. Kurz: dem Alternden wird die Anpassung an seine neue Lebenssituation erleichtert und dadurch die geistige und körperlidie Gesundheit erhalten.

Mitte November 1952 wurde auch in Wien von einer Arbeitsgemeinschaft katholischer Frauen, der Diakonie, in den Räumen des Seminars für kirchliche Frauenarbeit, f,> Seitzergasse 3, ein Beratungsdienst für alternde Menschen geschaffen, der nun seit einem halben Jahr stark in Anspruch genommen wird und nidit nur zur Hilfe für die Ratsuchenden, sondern auch zur Klärung der Situation der Alternden beiträgt. Zuerst kamen die wirklich alten Leute. Gleich am ersten Tag beriet sich eine geistig noch frische 85jährige Erzieherin, die sechzig Jahre in einem bekannten Wiener Geschäftshaus die ganze Jugend betreut hatte und nun als geschätztes Familienmitglied dort ihr Alter verbringt, ob sie nicht noch für drei Stunden nachmittags einer Mutter unentgeltlich helfen könnte, Sie möchte sich auch nodi nützlich machen. Am selben ersten Tag kam eine alte Frau, um über ihre Einsamkeit zu klagen, da ihre Schwester gestorben sei. Es kamen aber auch schon Anliegen wegen Unterbringung in Heimen, die womöglich im Zentrum gelegen sein sollten, und der Wunsch nach dem „unmöblierten Kabinett“ wurde geäußert, der seither nicht verstummt ist und uns nahelegt, beim Neuaufbau von Altersheimen vom Saalsystem abzugehen und Kabinen einzubauen, in die die Alten den Rest ihrer Habe mitnehmen können. Aber schon am ersten Tage tauchte neben den „Alten“ ein rüstiger Mann auf, 61 Jahre, früher Besitzer eines Lebensmittelgeschäftes und einer Siedlung, jetzt mittellös auf Arbeitssuche. Ohne Rente, für alle Arbeit „zu alt“. Ein Schicksal, das vor allem früher Selbständige trifft, die ihren Gewerbeschein zurückgelegt haben. Die Nachfrage nach Arbeit ist das brennendste Anliegen: angefangen von der „leichten Arbeit“, um zur Fürsorgerente“ etwas dazu zu verdienen, bis zur Bereitschaft, „jede“ Arbeit zu übernehmen, wozu sich eine Kunstgewerblerin und eine ehemalige Schauspielerin bereit erklärten, beide unter vierzig. Auf den Einwand der Beraterin, daß sie nodi gar nidit zu den Alternden gehörten, wird immer wieder geantwortet, daß sie für die Arbeitsvermittlung schon „zu alt“ seien. Waren es die „Alten“, die zuerst kamen, und die Alternden, die folgten, so sind es jetzt zusätzlich Mensdien vor und um vierzig, die für den Arbeitsmarkt „zu alt“ sind. Neben körperlich Behinderten, zum Beispiel Schwerhörigen, sind vollwertige, arbeitswillige Mensehen darunter, die eben in einem Beruf ausgebildet sind, der derzeit wenig gefragt ist.

Neben den Wohnungs- und Arbeitsanliegen sind es ablehnende Rentenbescheide, die zur Rücksprache führen. Dann entrollen sich aber auch richtige Familientragödien. Mütter werden von den eigenen Kindern aus ihrer Wohnung gedrängt; eine Tochter, die die Mutter aus ihrem Verdienst erhalten mußte, ist jetzt selbst arbeitslos und gibt der Mutter schuld an ihrer Mittellosigkeit,

Die Mehrzahl der Ratsuchenden ist auf kleine Renten angewiesen. Dennoch wird über das geringfügige Einkommen nahezu nicht geklagt. „Man muß sich's einteilen, andere haben es noch schlechter.“ Da diese Renten zur Unterbringung in Heimen nicht genügen und die Gemeinde Wien die Differenz nur für die Unterbringung in Lainz und Baumgarten aufzahlt, muß in schwierigen Fällen immer wieder auf diese Möglichkeit hingewiesen werden. Aber nicht in einem einzigen Fall wurde die Unterbringung in Lainz gewählt, auch bei unleidlichen Wohnungsverhältnissen nicht. „Dazu hab' ich noch immer Zeit“, meint eine Achtzigjährige. „Dort wird zuviel gestritten“, lehnt eine Fünfundsiebzigerin ab. „Ich will meine Ruh* haben“, erwidert eine Pflegebedürftige.

Die überwiegende Mehrzahl der Ratsuchenden macht einen innerlich gefestigten Eindruck. Das Leben ist für sie eine schwere Aufgabe, aber es ist ein Anruf Gottes an sie, den sie bejahen. Sie lassen sich nicht fallen. „Gott hat mir bisher geholfen, Er wird mir weiterhelfen.“ Dankbar nehmen sie auch die kleinste Hilfe an, manchmal verwundert, daß sich überhaupt jemand um die Alten kümmert. Am ersten Tag antwortete eine Frau auf unsere Frage nach ihrem Anliegen, sie habe sich nur die Menschen ansehen wollen die sich sogar um die Alten kümmern. Nur ganz wenige der ratsuchenden Alternden machen den Eindruck seelischer Verwirrung oder geistiger Erkrankung. Ueberhaupt erlebt man hier das Geheimnis der menschlichen Persönlichkeit: Menschen hohen Alters in voller körperlicher und geistiger Frische und Vierzigjährige, die völlig verbraucht sind, die wirklichen Greise.

Sieben Monate Altersberatung haben uns in die Sorgen und Kümmernisse der alten Menschen und der Alternden eingeführt und uns den Weg gewiesen, den soziale Altershilfe in Oesterreich beschreiten muß. Wir haben viel zuwenig Altersheime, die wirkliche Heimstätten und nicht bloß Altersbewahranstalten sind. Wir haben außer den großen Massenbetrieben für Kranke keine Pflegeheime. Selbst wohlhabenden Leuten fällt es schwer, kranke Angehörige in Dauerpflege unterzubringen. Die Heimhilfe für alte kränkliche Leute fehlt im allgemeinen. Versuche sind allerdings von der Gemeinde und der Caritas auf diesem Gebiet unternommen worden. Die Erwachsenenbildung braucht eine Ausweitung auf das Gebiet der Altersvorbereitung. Die Gerontologie muß auch in unserer medizinischen Schule gepflegt werden. Psychologie und Psychiatrie müßten mehr als bisher den Zwiespalt der Generationen und die Familienkonffikte behandeln. Durch rechtzeitige Aufklärung könnte manche tragische Entwicklung vermieden werden.

Die Schweiz hat ihr großes Werk „De senectute“ aufgebaut, an dem die ganze Oeffentlichkeit regsten Anteil nimmt. Von dieser gemeinsamen Sorge um das Alter geht eine tief ergreifende, erziehliche Wirkung auf die Jugend aus. Oesterreich hat hochbedeutende Menschen, die trotz der Ueber-schreitung des 80. Lebensjahres in voller geistiger Frische im öffentlichen Leben arbeiten. Unter ihrer Führung müßte ein österreichisches Alterswerk erstehen. Der auffallende Strukturwandel • im Aufbau der Bevölkerung zeigt uns die Wichtigkeit dieser Arbeit. Hier ist eine ganz große Zeitnot entstanden, von der der heilige Vinzenz von Paul einst sagte: „Die Not der Zeit ist der Wille Gottes.“

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