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Immer mehr Menschen werden psychisch schwer krank. Sie verlieren die Arbeit, finden kaum wieder Anschluss, landen in der Armut.

Das Jahr 2001 habe ich im Bett bei zugezogenen Vorhängen verbracht." Lapidar fasst der 28-jährige Schlosser Andreas Gruber (Name geändert) im Bezirk St. Pölten die Auswirkungen seiner schweren Depression zusammen. Der junge Mann mit den glänzenden schwarzen Haaren sieht keineswegs wie ein psychisch Kranker aus. Und doch ist er im vergangenen Jahr durch die Hölle gegangen.

An Arbeit war nicht zu denken. "Das Zureden der Freunde hat mir nichts genützt, die Medikamente haben kaum geholfen." Einen kleinen Rettungsanker hatte Gruber: seinen kleinen Neffen und die Nichte. "Das unbekümmerte, vorurteilslose Wesen der Kinder waren in dieser fürchterlichen Zeit mein einziger Hoffnungsschimmer." Alles schien nur auf den Tod hinzulaufen.

Den ersten Schritt zur Genesung setzte Gruber nach langem Ringen selbst, indem er sich um Aufnahme bei der BBO (Beschäftigung- und Berufsorientierung für psychisch kranke Menschen) bewarb. Diese Einrichtung der Caritas St. Pölten bereitet psychisch Kranke auf den Wiedereinstieg ins Berufsleben vor.

Der Anfang war mühsam. Anfangs schaffte Gruber nur zwölf Stunden pro Woche: Bastelarbeiten; Einbinden von Büchern. Für diese Tätigkeiten wurde ihm kein Zeitlimit gesetzt. "Die Arbeit hat meine verwelkte Seele wieder zum Leben erweckt, mich aus meinen selbstzerstörerischen Gedanken herausgerissen. Durch das Lob der Betreuer habe ich wieder Selbstbewusstsein bekommen", beschreibt er seinen Genesungsprozess.

Das Arbeitsverhältnis konnte auf 20 Stunden pro Woche ausgedehnt werden. Nun will es Gruber mit 40 Stunden versuchen. Bezahlt wird er für die Arbeit nur symbolisch - ein Taschengeld von 1,50 Euro pro Stunde. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit der Notstandshilfe, auf die er aufgrund seines früheren Arbeitsverhältnisses Anspruch hat. Das bewahrt ihn vor dem materiellen Absturz.

Elend hinter schöner Fassade

Diese Möglichkeiten hat leider nur ein Teil jener, die von einer schweren psychischen Erkrankung betroffen sind. Frau Petermann (Name geändert) hatte dieses Glück nicht. Sie lebt in einem Einfamilienhaus im Bezirk Tulln. Auf den ersten Blick scheint nichts ungewöhnlich: große Fenster, breite Einfahrt, dahinter ein Garten mit Obstbäumen. Doch schaut man genauer, bemerkt man geschlossene Jalousien an allen Fenstern. Im Garten rosten zwei Autowracks vor sich hin. Die Eingangstür ist versperrt. Im Inneren des Hauses sieht es aus wie in einem Elendsquartier aus dem 19. Jahrhundert: verrußte Wände, ein alter Ofen, auf dem ein riesiger verbeulter Waschbottich steht. In der Luft ein beißender Geruch, eine Mischung aus ungewaschener Kleidung, Schweiß, abgestandenem Fett und Zigarettenrauch.

Hier lebt Frau Petermann seit zwei Jahren. Bis dahin war sie eine erfolgreiche Frau, gut ausgebildet, in leitender Position im Tourismus tätig. Eine schwere seelische Erkrankung machte alles zunichte: Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung, Absturz in die absolute Armut. "Diese Frau lebt von 70 Euro Sozialhilfe im Monat. Obwohl die 52-Jährige Jahrzehnte gearbeitet hat, bekommt sie weder Geld von der Arbeitslosenversicherung noch Notstandsunterstützung", sagt Peter Gardowsky, Sozialarbeiter vom Psychosozialen Dienst Tulln. Mehr bekommt sie nicht, wegen des von den Eltern geerbten Hauses. Es gilt als anrechenbares Vermögen.

Heute ist Gardowsky wieder einmal vorbei gekommen und hat Frau Petermann ein paar 10-Euro-Gutscheine vorbeigebracht, einzulösen im Lebensmittelgeschäft. "Solche Menschen fallen durch alle sozialen Netze. Die Ressourcen, auf die Durchschnittsbürger zurückgreifen können, existieren bei psychisch Schwerkranken in der Regel nicht mehr. Keine Arbeit, kein Einkommen, meist keine Familie. Hier gibt es Hilf- und Sprachlosigkeit zugleich", sagt Gardowsky. "Oft ist auch keine Krankheitseinsicht vorhanden. Daher suchen diese Menschen von selbst auch keine Hilfe."

Frau Petermann ist kein Einzelfall. In Zahlen zu fassen ist der Zusammenhang von Armut und psychischer Erkrankung aber nur schwer. "Es fehlen entsprechende Daten", weiß Tom Schmid, Politologe an der Sozialökonomischen Forschungsstelle in Wien. Er beschäftigt sich als Wissenschafter mit Problemen des Sozialstaats. Nur eine grobe Schätzung wagt er: "Zwischen 35.000 und 50.000 Betroffenen in Österreich." Gardowsky hat für den Bezirk Tulln eine persönliche Statistik gemacht und ist dabei zu folgendem Ergebnis gekommen: "Ein Zehntel unserer Klienten ist ohne jedes Einkommen."

Dass psychische Erkrankung auch im gut ausgebauten Sozialstaat Österreich zu Verarmung und Verelendung führen können, bestätigt auch der Psychiater Stefan Frühwald, der für den Psychosozialen Dienst der Caritas in St. Pölten tätig ist. Er beschreibt, wie seelische Krankheit oft in Armut und Ausschluss aus der Gesellschaft endet. "Schizophrenie beginnt häufig in der Phase der Identitätsbildung, im Alter von etwa 20 Jahren. Die mit dieser Krankheit verbundenen Symptome - Konzentrationsmangel, Durcheinanderkommen der Gedanken - wirken sehr störend auf das Fortführen der Ausbildung." Folge: Abbrechen von Schule und Studium, Rückzug von den anderen und Isolation. "Bis Schizophrenie als Krankheit diagnostiziert und adäquat behandelt wird, vergeht oft wertvolle Zeit", weiß Frühwald aus Erfahrung.

Trotz Behandlung kommt es aber bei einem Teil der Betroffenen - Frühwald spricht von einem Drittel - zu keiner kompletten Heilung. Die Krankheit kehrt wieder, in Schüben. An dauernde Arbeit mit voller Belastung ist kaum zu denken. "Armut ist da nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das heißt Existenzminimum oder weniger."

Frühwald nennt einen weiteren Grund, warum Betroffene nach einer seelischen Krankheit aus dem Arbeitsleben hinausfallen: "Auch seelische Erkrankungen verlangen nach der medizinischen Behandlung eine Rehabilitationsphase."

Für bessere Rehabilitation

Doch im Gegensatz zu Unfallverletzungen sei eine ausreichende Rehabilitation bei seelischen Erkrankungen die Ausnahme. "Patienten, die nach mehrwöchigem Krankenhausaufenthalt geschwächt sind und mit störenden Krankheitssymptomen zu kämpfen haben, werden sofort dem vollen Druck der Arbeitswelt ausgesetzt. Das kann nur schief gehen."

Frühwald weiß aufgrund von Rückmeldungen seiner Patienten, dass sich die Anforderungen in der Arbeitswelt erhöht haben. Folge: "Ein immer größerer Prozentsatz wird da nicht mehr mitkommen." Es werde deutlich mehr Wert auf Geschwindigkeit gelegt. Die Sensiblen, psychisch nicht so Stabilen, die weniger Flexiblen spürten das zuerst - und kämen damit nicht zurecht.

Auch Tom Schmid bestätigt, dass durch die Veränderungen in der Arbeitswelt seelisch weniger stabile Arbeitnehmer kaum noch Chancen haben. "Schwere, monotone Arbeiten verschwinden, einfache Tätigkeiten werden ausgelagert." Und auch Schutzarbeitsplätze, wie das Kehren des Hofes oder den Gang zur Post, gebe es kaum mehr. "Wo existiert noch das schrullige Faktotum, das es früher in jeder Firma gab? Diese Menschen finden sich in einer Betreuungseinrichtung wieder."

Es bleibt auch nicht mehr genug Zeit, um Schicksalsschläge oder Beziehungsprobleme zu verarbeiten. "Eine Friseurin suchte beim Psychosozialen Dienst Rat. Sie litt nach der Scheidung unter schweren Depressionen und konnte die geforderte Leistung am Arbeitsplatz nicht mehr erbringen. Jetzt ist sie arbeitslos", erzählt Peter Gardowsky.

Dass seelische Krisen immer häufiger zu Arbeitsplatzverlust und Verarmung führen, hat auch mit der Durchlöcherung des sozialen Netzes unserer Gesellschaft zu tun. "Es gibt immer weniger Pfarrer, die Bürgermeister haben kaum mehr Zeit, um Hilfsbedürftigen zuzuhören, und der Zusammenhalt in den Familien wird geringer. Die Schwachen werden auch dort oft nicht mehr aufgefangen", beschreibt er die Schattenseiten der Hochleistungsgesellschaft.

Es existieren im Sozialstaat Österreich zwar Regelungen, welche die Wiedereingliederung von seelisch Kranken in den Arbeitsprozess sichern sollen. Aber die Experten sind sich darüber einig, dass der bestehende Rahmen den Betroffenen nicht wirklich hilft. "Das System der Transitarbeitsplätze (Anmerkung: vom Arbeitsmarktservice subventionierte, auf ein Jahr befristete Arbeitsplätze, die psychisch Kranken den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt ermöglichen sollen) ist bloße Kosmetik. Wie soll jemand, der eine schwere seelische Erkrankung hinter sich hat, in einem Jahr die Rückkehr in den harten Arbeitsmarkt schaffen?", ärgert sich Karl Rottenschlager, Gründer der Emmaus-Gemeinschaft St. Pölten.

Erforderlich seien "vernünftige Lösungen und eine menschenwürdige Perspektive für schwer vermittelbare Personen und die immer größer werdende Zahl von Arbeitnehmern, die aus allen AMS-Förderungen herausfallen", verlangt Rottenschlager. Ein Grundeinkommen allein sei nicht der Weisheit letzter Schluss. "Es muss für die Betroffenen auch eine sinnvolle Beschäftigung geben. Für sie muss man einen zweiten Arbeitsmarkt mit einer Verweildauer von bis zu fünf Jahren schaffen." Ein Vorschlag, den auch der Politologe Schmid begrüßt. "Der Bedarf nach einfachen persönlichen Dienstleistungen, etwa für ältere Menschen einkaufen gehen oder den Garten in Ordnung halten, ist gestiegen. Solche Tätigkeiten könnten von Arbeitnehmern übernommen werden, die es auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht schaffen."

In Ruhe Defizite aufarbeiten

Voraussetzung sei allerdings die Subventionierung dieser Arbeitsplätze. "Durch die Schaffung solcher Arbeitsplätze würde die Lebensqualität vieler Menschen, nicht nur der von psychisch Kranken, verbessert", ist sich Schmid sicher.

Im Kleinen hat die Emmaus-Gemeinschaft dieses Modell bereits in die Praxis umgesetzt. Seit 1999 gibt es das Projekt City-Farm, eine Gärtnerei in St. Pölten, in der Menschen mit psychischen Problemen bei langsamem Tempo wieder an die Anforderungen der Arbeitswelt herangeführt werden.

"Sehr wichtig ist, dass die Betroffenen länger als ein Jahr bleiben können. Das gibt unseren Klienten die Chance, in Ruhe ihre Defizite abzubauen und erfolgreiche Strategien zu entwickeln, wie sie mit Rückfällen zurechtkommen können, erläutert die Ergotherapeutin Gabriele Eichinger, die von Beginn an bei der City-Farm dabei war. "Statt auf das Wunder einer Heilung zu hoffen, versuchen wir unseren Klienten zu helfen, mit ihrer Krankheit leben zu können und trotzdem einen Platz in der Gesellschaft zu finden."

Der Autor ist freier Journalist.

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