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Langzeitarbeitslose: Menschliche Ladenhüter

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Es gibt eine gleitende Grenze der Vollbeschäftigung in Österreich.

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Es gibt eine gleitende Grenze der Vollbeschäftigung in Österreich.

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Nur 439 Personen waren im August des vergangenen Jahres in Wien seit mehr als einem Jahr arbeitslos gemeldet. Unter ihnen ein 65 Jahre alter Kellner, eine Spitzenkraft seines Faches, der in den besten Hotels vieler Länder gearbeitet, aber nicht an die Sicherung seines Alters gedacht hat — seit zwei Jahren arbeitslos, will ihn niemand mehr haben. Unter ihnen eine 32 Jahre alte, gut aussehende und modern gekleidete Frau, ohne jede Ausbildung, die sich zur Sekretärin berufen fühlt, aber keine Voraussetzungen mitbringt — das Arbeitsamt kann sie nur als Bedienerin vermitteln, sie weiß aber, wie man es anzustellen hat, von keinem der Arbeitgeber, zu denen man geschickt wird, eingestellt zu werden. Unter ihnen ein verläßlicher, 58 Jahre alter Arbeiter, der „plötzlich diesen Krach“ hatte und nicht bleiben konnte — und sich wegen seiner Pensionshöhe nicht zu billig verkaufen darf. Unter ihnen die freundliche, gewissenhafte Arbeiterin, die jeden Posten nach einiger Zeit verliert, weil sie Epileptikerin ist. Unter ihnen aber auch der geschiedene, im Obdachlosenheim lebende, trinkende Schwerarbeiter, der für das, was er gelernt hat, nicht mehr gesund genug ist und für anderes nicht genug gelernt hat.

Das alles könnte sich freilich ändern. Auch in Österreich.

Professor Anton Burghardt und Hochschulassistentin Gertraud Horke vom Institut für Soziologie an der Hochschule für Welthandel treten in einer Untersuchung über die bisher vernachlässigte „Restarbeitslosigkeit bei Vollbeschäftigung“ dem noch immer verbreiteten Vorurteil entgegen, in einer Gesellschaft mit Vollbeschäftigung habe sich die Bilanz der Arbeitsuchenden auf der einen und der offenen Stellen auf der anderen als „harter Kern“ langfristig Arbeitsloser übrig bleibe, sei an seinem Schicksal selber schuld. Was ebenso wenig stimmt wie die Hoffnung, in einer Gesellschaft mit hohem Arbeitskräftedefizit, die ihren Bedarf nur noch durch Import von Gastarbeitern zu decken vermag, müsse der Arbeitsmarkt auch noch den letzten heimischen Arbeitslosen problemlos aufsaugen — wenn dieser nur genügend arbeitswillig sei.

Hingegen waren vor einigen Jahren in der Bundesrepublik nur 36 Prozent aller Arbeitslosen unter 25 Jahren mehr als einen Monat, hingegen 70 Prozent aller Arbeitslosen über 60 Jahre bereits mehr als ein halbes Jahr ohne Beschäftigung. Arbeitslosen setzt sich in der Mehrzahl aus Personen zusammen, die eine sozial und individuell von dem der Erwerbsgesellschaft im Sozialstaat zugrunde liegenden Idealbild abweichende Situation aufweisen. Es sind die nicht vollkommen Angepaßten, ledige Mütter, Geschiedene, alleinstehende ältere Männer, ehemalige Häftlinge, Trinker, Immigranten, geistig und körperlich und altersmäßig nicht dem Erfolgstyp der Leistungsgesellschaft Entsprechende, Personen mit langem Auslandsaufenthalt, Personen, die den Anforderungen ihres Berufes nicht mehr gewachsen sind, und solche, die die Arbeitsethik der Leistungsgesellschaft nicht vollständig internalisiert haben, sowie Personen mit sozialen Verhaltensstörungen. Sie sind keine Sozialparasiten und nicht identisch mit dem sozialen Bodensatz, von einigen ,Gestrandeten' abgesehen. Arbeitsfähigkeit — zumindest bedingte — und auch Arbeitswilligkeit sind in den meisten Fällen gegeben.“

Und an anderer Stelle: „Es hat den Anschein, daß bei allen diesen Fällen der Arbeitsmarktverwaltung nicht eigentlich arbeitsmarktregulierende Funktion, sondern Versorgungs-, ja sogar Fürsorgefunktion zukommt. Sie springt ein, wo das Versicherungsprinzip Lücken aufweist“

Dabei verbirgt sich die von Professor Burghardt vermutete strukturelle Restarbeitslosigkeit hinter der Ausübung von Notberufen bzw. Notbeschäftigungen: Oft wird Arbeitslosigkeit nur durch die Annahme einer Stellung, die einen sozialen Abstieg bedeutet, vermieden. In anderen Fällen wiederum retten sich vor allem ältere Arbeitnehmer vor der Kündigung, indem sie sich auf minderrangige Arbeitsplätze innerhalb ihres Betriebes stellen lassen, um nicht überhaupt auf die Straße gesetzt zu werden.

Die (Sommer-)Arbeitslosenrate beträgt in Österreich etwa 1,5 Prozent — nur 0,4 Prozent bei den Männern, doch 2,7 Prozent bei den Frauen. Während etwa 7000 männlichen Arbeitslosen 42.000 offene Stellen gegenüberstanden, konnten die 26.000 arbeitslosen Frauen nur zwischen etwa 22.000 angebotenen Posten wählen — und auch dies leider nur theoretisch, wenn es sich um langfristig Arbeitslose handelte, die dies in den meisten Fällen deshalb sind, weil sie den Vorstellungen der potentiellen Arbeitgeber nicht entsprechen.

Zum gleichen Zeitpunkt gab es in Österreich doch relativ viele Personen, die seit mehr als einem Jahr arbeitslos gemeldet waren. In Wien stammten diese zur Gänze aus der Gruppe der bedingt Vermittlungsgeeigneten, da ja — bei der gegenwärtigen Beschäftigungssituation — immer persönliche Gründe zumindest mitspielen, wenn jemand langfristig keine Arbeit findet. Nur sind diese persönlichen Gründe in den meisten Fällen dem Willen des Betreffenden entzogen: Er kann sich nicht jünger machen, als er ist, kann sich als Hänschen versäumte Ausbildung schwerlich als alter Hans aneignen, sich von seinen körperlichen und geistigen Behinderungen nicht befreien. Meist treten verschiedene subjektive Faktoren gemeinsam auf — als Summierung von Handikaps. Immerhin gibt es von Branche zu Branche starke Unterschiede.

Dabei ist nicht jeder Dauerarbeitslose ein echter Arbeitsloser, der bereit wäre, jede Arbeit anzunehmen, die man ihm bietet. Viele wollen halt doch einen Job, der in ihrer persönlichen Wertskala nicht allzu tief unter dem steht, den sie zuletzt innehatten. Die meisten „Restarbeitslosen“ sind ältere Menschen, denen es oft an Ausbildung, Anpassungsfähigkeit und Mobilität fehlt. Und nicht eben selten sinkt mit der Dauer der Arbeitslosigkeit die Bereitschaft, überhaupt noch eine Stellung anzunehmen, wofür aber wiederum nicht nur Gewöhnung an die Arbeitslosigkeit, sondern daneben auch der Zweifel, den gestellten Anforderungen noch gerecht werden zu können, verantwortlich ist. Arbeitslosigkeit bedeutet auch soziale Isolierung mit allen negativen psychischen Folgen.

Burghardt/Horke sehen in der österreichischen Wirtschaft noch etwas mehr soziales Verantwortungsbewußtsein als in vielen anderen Ländern. Doch niemand kann die Frage beantworten, in welchem Ausmaß sich die Zahl der „Restarbeitslosen“ in einer immerhin möglichen Stagflation vergrößern würde — wenn die Zahl der Arbeitsplätze stagniert oder zurückgeht, während steigende Preise bei stokkenden Absatzzahlen zu noch schärferem Berechnen des von einer eingestellen Arbeitskraft zu erwartenden ökonomischen Nutzens führen.

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