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Die Neue Soziale Frage wartet auf eine Antwort

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In ihrer Mannheimer Erklärung 1975 hat die CDU ein neues Kapitel in der Gesellschaßsund Sozialpolitik aufgeschlagen: Das Kapitel der „Neuen Sozialen Frage“, das jenes der klassischen sozialen Frage, der Arbeiterfrage, nicht ablöst, sondern teilweise überlagert und ergänzt. Beschränkte sich die alte soziale Frage des 19. Jahrhunderts auf ökonomische Belange, die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, geht es in der „Neuen Sozialen Frage“ vielfach auch um metaökonomische Fragestellungen. Es geht um das Bündnis der Starken gegen die Schwachen, gegen die Nichtorganisierten; es geht um die Benachteiligungen der nicht mehr Erwerbstätigen; der kinderreichen Familien; der Minderheiten; der Gastarbeiter; oder der bäuerlichen Zuschußrentner, um nur einige Beispiele zu nennen: Sie alle stehen heute draußen vor der Tür, wie die Fabriksarbeiter im 19. Jahrhundert. Weil es aber nicht nur um ökonomische Fragen geht - um den Klassenkampf- ist es kein Zufall, daß die Neue Soziale Frage in der BRD zuerst vom CDU-Politiker Heiner Geißler aufgegriffen wurde und nun darauf wartet, auch von den österreichischen „Christdemokraten“ analysiert zu werden.

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In ihrer Mannheimer Erklärung 1975 hat die CDU ein neues Kapitel in der Gesellschaßsund Sozialpolitik aufgeschlagen: Das Kapitel der „Neuen Sozialen Frage“, das jenes der klassischen sozialen Frage, der Arbeiterfrage, nicht ablöst, sondern teilweise überlagert und ergänzt. Beschränkte sich die alte soziale Frage des 19. Jahrhunderts auf ökonomische Belange, die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, geht es in der „Neuen Sozialen Frage“ vielfach auch um metaökonomische Fragestellungen. Es geht um das Bündnis der Starken gegen die Schwachen, gegen die Nichtorganisierten; es geht um die Benachteiligungen der nicht mehr Erwerbstätigen; der kinderreichen Familien; der Minderheiten; der Gastarbeiter; oder der bäuerlichen Zuschußrentner, um nur einige Beispiele zu nennen: Sie alle stehen heute draußen vor der Tür, wie die Fabriksarbeiter im 19. Jahrhundert. Weil es aber nicht nur um ökonomische Fragen geht - um den Klassenkampf- ist es kein Zufall, daß die Neue Soziale Frage in der BRD zuerst vom CDU-Politiker Heiner Geißler aufgegriffen wurde und nun darauf wartet, auch von den österreichischen „Christdemokraten“ analysiert zu werden.

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Die klassische soziale Frage hat ihre Wurzeln in Technisierung und Industrialisierung des vorigen Jahrhunderts, in deren Gefolge der Produktionsfaktor Arbeit gegengleich zur steigenden Bedeutung des Kapitaleinsatzes permanent an Wert verlor. Das Resultat war eine zunehmende wirtschaftliche und politische Entrechtung der neuen Unterprivilegierten, der beliebig austauschbaren Fabriksarbeiter, die bei ungerechter Einkommensverteilung, mangelnder Rechtssicherheit, teilweise inhumanen Arbeitsbedingungen und völlig fehlender Mitsprache am Arbeitsplatz an den äußersten Rand des sozialen Gefüges gedrängt wurden. Die soziale Frage war die Arbeiterfrage schlechthin.

Aufgabe der Sozialpolitik der nachfolgenden Jahrzehnte war es, die weitgehend proletarisierten Arbeiter in die Gesellschaft zu integrieren und durch neu entwickelte solidarische Interessenvertretungen gegenüber den Arbeitgebern zu stärken. Bedeutende Marksteine auf diesem viele Jahrzehnte langen und beschwerlichen Weg, der übrigens heute nicht abgeschlossen ist, sind Einrichtungen wie Krankenversicherung, Pensionsvorsorge, Unfall- und Arbeitslosenversicherung, Regelung der Arbeitszeit, des Urlaubs, Verbot der Kinderarbeit, Entgeltfortzahlung, Institutionalisierung von Lohnverhandlungen zwischen den Tarifpartnern. Viele dieser bedeutenden Neuerungen sind der leider nur sehr kurzlebigen Koalitionsregierung am Anfang der Ersten Republik zu danken.

„Die eindrucksvollen Erfolge der Sozialpolitik und die noch vorhandenen Aufgaben täuschen aber nur zu leicht darüber hinweg, daß Probleme in anderer Form und bei anderen Gruppen entstanden sind“, schreibt Heiner Geißler, zuerst Sozialminister in Helmuth Kohls Heimatland Rheinland-Pfalz und nun CDU-Generalsekretär, in seinem Buch über „Die Neue Soziale Frage“. Es ist an der Zeit, rät Geißler, von der alten Vorstellung Abschied zu nehmen, der Arbeitnehmer sei nach wie vor der „Unterprivilegierte“. Niemand sei bei uns heute nur deshalb arm, weil er Arbeiter ist, formuliert der CDU-Politiker. Die Neue Soziale Frage, meinen deren Anwälte, haben nichts damit zu tun, daß die klassische soziale Frage befriedigend gelöst wäre. Vieles ist noch nicht erreicht, was zur Lösung der alten Frage wünschenswert wäre. Wohl aber sind Mittel und Wege gefunden, die immer wieder neu auftauchenden traditionellen Sozialprobleme zu artikulieren und zu regeln.

Wie kann nun die Neue Soziale Frage abgegrenzt werden? Univ.-Prof. Dr. Anton Burghardt, der gerade für das Dr.-Karl-Kummer-Institut eine Katholisch-Soziale Tagung zum Thema „Die Neue Soziale Frage“ (7. und 8. April) vorbereitet, meint: „Es werden neue Erscheinungsformen sozialer Disproportionen sichtbar, die man, um Verwechslungen mit der klassischen sozialen Frage zu vermeiden, insgesamt als Neue Soziale Frage bezeichnet.“ Die neuen sozialen Disproportionen ergeben sich daraus, daß heute „Kapitaleigner und Arbeitnehmer zusammen“ (Geißler) mächtig sind und sich in Verbänden organisieren

Eindrucksvoll beschreibt Warnfried Dettling in „Die Neue Soziale Frage und die Zukunft der Demokratie“ Verursachung und Eskalierung der Neuen Sozialen Frage durch die erstarkende Verbändedemokratie, ein Phänomen, das gewiß nicht nur in der Bundesrepublik, sondern fast noch ausgeprägter auch in Österreich registriert werden kann. Dettling meint, daß zuweilen eine nichtorganisierte ^Mehrheit von der organisierten Minderheit hinter sich gelassen wird: „Dies ist das Problem der Neuen Sozialen Frage. Die Asymmetrie der Interesssenrepräsentanz führt zu ungleichen Startchancen... Während die einfachen demokratischen Wahlbürger nur einmal alle vier Jahre ihre Interessen bei der Wahl ins Gewicht werfen können, vermögen die Organisierten auch zwischenzeitlich über ihre Mitgliedschaft in den Parteien und in den Verbänden ihre Interessen zu vertreten.“

Die politische Praxis ist meist noch schlimmer: Nicht nur, daß die Organisierten ihre Interessen wirksamer und besser vertreten können, sie können diese Interessen auch zu Lasten Dritter, also zumeist der Nichtorganisierten, durchsetzen. Ein Problem für sich ist noch, inwieweit ein ÖGB-Präsident, der einige Hunderttausend Arbeitnehmer vertreten soll, überhaupt in der Lage ist, dies ausgeglichen zu tun, oder ob er innerhalb seiner Interessengruppe wiederum nur eine Lobby der Mächtigen vertritt.

In diesem Spiel der Mächtigen, dem Bündnis der Starken auf dem Rücken der Schwachen, kommt es mit den Worten Richard von Weizsäckers zu dem bedauerlichen Umstand, daß die Mächtigen „faktisch gemeinsam dem Rest der Gesellschaft die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des Lebens“ diktieren: „Dieser Rest umfaßt eine gewaltige MenschenzahL Aber er ist ein Mosaik unzusammenhängender Gruppen. Sie lassen sich nicht auf einen Nenner bringen, weder im Alter noch im Geschlecht, weder in ihren Interessen noch in ihren Beschwerden. Man kann sie nicht wie große Tarifparteien organisieren. Ihr sie einendes Band ist nur, daß sie zusammen die Klasse der Abhängigen bilden: Rentner, ältere Arbeitnehmer, Ungelernte und Angelernte, auf Teilzeitarbeit angewiesene Frauen, Hausfrauen, große Teile der Selbständigen im Handwerk, Handel und in der kleinen Industrie, Bewohner zurückbleibender Regionen, Gastarbeiter.“

Die Unfähigkeit vieler Menschen, sich gegen Benachteiligungen zu wehren, hängt nach Heiner Geißler damit zusammen, „daß sie über kein wirtschaftlich wirksames Leistungsver-weigerungs- und damit über kein Droh- oder Störpotential verfügen, mit dessen Hilfe sie die Berücksichtigung ihrer Interessen erzwingen könnten“.

Sehen wir uns die betroffenen Be-völkerungskreise einmal näher an:

• Die nicht mehr Erwerbstätigen: Als alte Menschen passen sie schlecht in das Image der Leistungsgesellschaft: „Trotz aller bemerkenswert hohen Nachziehverfahren und Dynamisierungen sind die Einkommensunterschiede zwischen marginalen Gruppen außerhalb der Erwerbsgesellschaft und den Erwerbstätigen gestiegen, weil diese ihr Einkommen an Produktivitäts- und Geldwertänderungen anpassen und durch Prämien sowie Nebentätigkeiten in einer Zeit sinkender Sollarbeitszeit vielfach beachtlich ergänzen können“ (Burghardt). Zusätzlich ist noch die zunehmende Isolation der alten Generation eine Ursache ihrer verbreiteten, aber verschämten und versteckten Armut.

• Bestimmte Gruppen in der Erwerbsgesellschaft, etwa Heimarbeiter, ältere Arbeitnehmer in kündbaren Positionen, Gastarbeiter sowie Frauen und Ungelernte, die leicht durch andere Kräfte ersetzt werden können. Darunter fallen aber auch gewisse Gruppen Selbständiger, die angesichts des längst überholten Traditionsgrabens zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber sozusagen auf dem falschen Bahnsteig die Abfahrt ihres Zuges erwarten. Nach marxistischer Ideologie ist nämlich nach wie vor der selbständige Maronibrater am Eck mit seiner

Aushilfskraft der Ausbeuter, während der leitende Angestellte nichts davon weiß, daß er der Ausgebeutete ist. Bei einer solchen Denkart fallen auch Gruppen wie die bäuerlichen Zuschußrentner durch den Rost. Von den Zuschußrentnern weiß man darüber hinaus, daß sich ihr Problem in etwas mehr als zehn Jahren von selbst erledigen wird: Dann wird der letzte Zuschußrentner gestorben sein. • Unter das Stichwort der Neuen Sozialen Frage fallen aber auch kinderreiche Familien, in denen die Mutter ihrer wertvollen Erziehungsaufgabe voll nachkommt und das Einkommen des Vaters auf viele Köpfe aufgeteilt werden muß. Der Katholische Familienverband hat schon oft darauf hingewiesen, daß auch in Österreich Familien mit drei oder vier Kindern am Rande der Armut leben. Dasselbe trifft auch auf unvollständige Familien zu, in denen alleinstehende Mütter wegen der wahrgenommenen Mutterpflich-ten nur unzureichende Einkommen zur Disposition haben. • Schließlich zählt hierher auch noch die große Gruppe der Behinderten. Sogar innerhalb der Gruppe der Behinderten konnte Heiner Geißler das Phänomen der Benachteiligung schlechter organisierter Gruppen nachweisen: „Taubstumme, Gehirngeschädigte und Querschnittgelähmte mit Mastdarmkomplikationen mußten lange Jahre mit einem geringeren Pflegegeld auskommen als z. B. die Blinden, die, nicht zuletzt wegen ihrer traditionell guten ' Organisation, schneller zu ihrem Recht kamen als die weniger artikulations- und kommuni-kationsfahigen vergleichbaren

Schwerstbehinderten.“

In der Bundesrepublik verfügen 5,8 Millionen Menschen über ein Einkommen, das unter dem Sozialhilfeniveau liegt. Vorwiegend sind davon Rentner betroffen (2,3 Millionen).

Warum wurde - vor allem in Österreich - die Neue Soziale Frage von den verantwortlichen Politikern bisher kaum aufgegriffen (neben dem Kummer-Institut will sich auch der ÖAAB und der Cartellverband verstärkt dem Thema widmen)? Warnfried Dettling führt einige Gründe an: Den Politikern scheinen die nichtorganisierten Randgruppen keinen kompensierenden Stimmengewinn zu bringen; sozialdemokratische und sozialistische Parteien sind nach wie vor im Banne des vermeintlichen Grundwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit auf die alte soziale Frage fixiert; Altliberale glauben auch im Verbände- und Dienstleistungsbereich noch immer an die Selbststeuerung der Gesellschaft.

Die Vertreter der Neuen Sozialen Frage leugnen nicht die Verbindungen zwischen Produktionsweise und gesellschaftlicher Realität, „allerdings sind sie nicht auf einem Auge blind“ (Geißler). Auch Burghardt legt Wert auf die Feststellung, daß es sich im Kern nicht mehr um ökonomische Bedingungen, sondern zu einem beachtlichen Anteil um metaökonomische, vor allem um soziale Bedingungen dreht. Die neue Armut umfasse außer materiellen Problemen auch das Problem der „Statusdiskrepanz“ (Abweichen der begehrten sozialen Anerkennung von der tatsächlichen) und das der kulturellen Verarmung: „Der Mensch lebt also nicht vom Brot allein, sondern hat neben materiellen auch immaterielle und ideelle Bedürfnisse“, wie sich ÖVP-Sozialreformer und AK-Präsident Bertram Jäger ausdrückt.

Die Rezepte für die Beantwortung der Neuen Sozialen Frage hegen kaum im Gerüst vor. Stichworte sind hier etwa der von Herbert Kohlmaier und Bertram Jäger geforderte Übergang von der quantitativen zur qualitativen Sozialpolitik. Ein Stichwort ist auch „Subsidiaritätsprinzip“, ist auch die private Vorsorge, die Nachbarschaftshilfe, die Stärkung der Solidarität der Nichtorganisierten, das persönliche soziale Engagement, der Versuch, soziale Leistungen humaner und wirtschaftlicher zu gestalten. Im Raum steht auch ein Uberdenken des vorhandenen Selbstbedienungsladens in der Sozialpolitik: „Es geht nicht um eine soziale Demontage. Freilich ist heute die Situation anders und nicht jede Maßnahme, die früher richtig und wichtig war, muß auch heute noch“ notwendig sein“ (Jäger).

Für alle Parteien, die nicht im Bannkreis der Klassenkampfideologie stehen, ist die Neue Soziale Frage eine große Herausforderving. Heiner Geißler schreibt: „Zur Lösung der Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist der Sozialismus ohne Perspektive. Er hat in der Vergangenheit zwar auch nie die richtigen Antworten geben können, er hat aber im 19. Jahrhundert die richtigen Fragen gestellt Auch dazu scheint er nicht mehr fähig zu sein.“

DIE NEUE SOZIALE FRAGE, Heiner Geißler, Verlag Herder, Freiburg -Basel - Wien 1976, 160 Seifen.

DIE NEUE SOZIALE FRAGE UND DIE ZUKUNFT DER DEMOKRATIE, Warnfried Dettling, Günter Olzog Verlag, München - Wien 1977,152 Seiten.

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