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Die Neue Soziale Frage

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In jüngster Zeit wird auch in Österreich in zunehmendem Maß ein Problem diskutiert, das mit den meist synonym verwendeten Begriffen „Neue Soziale Frage“ und „Neue Armut“ umschrieben wird. Bis auf wenige Ausnahmen hat man dieses Phänomen bis dato nur in der Bundesrepublik Deutschland systematisch untersucht. Diese Tatsache war einer der Beweggründe, warum dieses Thema zum Gegenstand der diesjährigen Katholisch-Sozialen Tagung des Kummer-Institutes gewählt wurde.

Um die Neue Soziale Frage zu erfassen und nicht als „künstlich konstruiert“ abzuqualifizieren, muß man sich die Situation der klassischen Sozialen Frage vor Augen führen, die die heutige Situation teilweise überlagert.

Soziale Konflikte sind Folge und Ausdruck von Macht und Herrschaftsverhältnissen in einer Gesellschaft. Die Grundlagen dieser Macht haben sich verschoben. Die Verfügungsgewalt über Eigentum („Kapital“) als wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Macht wurde durch die Entwicklung der Demokratie durch demokratisch legitimierte Mehrheiten, also politisch begründete Macht, begrenzt. Der klassische Konflikt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wurde im wesentlichen dadurch bewältigt, daß die einst proletarisier-ten Arbeiter heute durch die staatliche Sozialpolitik in die Gesellschaft integriert und ' in Gewerkschaften (als

starke Marktverbände) organisiert sind.

Die gesellschaftlichen Randgruppen, die es heute gibt, die sozial zurückbleiben und „abgehängt“ werden, sind schwer erfaßbar, schon allein deshalb, weil man sie nicht wie ehedem in das dichotomische „Klassenschema“ - hier Arbeiter, da Kapitalisten - pressen kann. Das Problem ist viel komplexer, wesentlich differenzierter zu sehen.

Wer sind nun diese marginalen Bevölkerungsschichten, die die „Neue

Armut“ ausmachen? Vorweg sei festgestellt, daß es sich eigentlich nicht mehr vorwiegend um ökonomische oder materielle Bedingungen handelt, sondern vor allem um nicht-materielle Kategorien „sozialer Ausschließung“. Soziale Armut kann etwa so charakterisiert werden:

• als Vereinsamung durch Isolierung (z. B. aus dem Arbeitsprozeß Ausgeschiedene);

• der Arme hat sich die Schuld an seiner Situation selbst zuzuschreiben,

gilt als Opfer seiner eigenen Schwäche und wird als „Stigmatisierter“ behandelt;

• die Gesellschaft fühlt sich den Armen gegenüber nicht verantwortlich;

• in Anstalten „abgeschobene“ alte Menschen;

• Mangel an Anerkennung nicht nur von Angehörigen anderer gesellschaftlicher Schichten, sondern auch durch das jeweilige soziale Nahmilieu.

Im Zusammenhang mit der Neuen Sozialen Frage stellt sich auch die

Frage der ökonomischen, in Geldwerten quantifizierbaren Aspekte. Man unterscheidet zwischen „absoluter“ und „relativer“ Armut. Erstere Form der Armut hegt dann vor, wenn jemand ohne Hilfe von außen nicht in der Lage ist, seine elementaren Bedürfnisse aus eigenem Einkommen zu befriedigen, während „relative“ Armut ausschließlich in bezug auf das jeweilige Milieu zu sehen ist. Beispiele für Einkommensarme neuer Art wären etwa kinderreiche Familien, die trotz

staatlicher Zuwendungen im Vergleich zum Pro-Kopf-Einkommen Nicht-Kinderreicher materiell drastisch beengt sind; unvollständige Familien, in denen alleinstehende Mütter wegen der Mutterpflichten oft ein geringes Einkommen haben und zudem die Mutter-Kind-Beziehung die mangelnde Partnerbeziehung ersetzt; Bezieher von Mindestrenten, die oft nahe der Armutsgrenze und auch darunter hegen; relativ starke Einkommenseinbußen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben.

Man spricht heute von der „Arbeitnehmergesellschaft“ und meint damit jene Mittelschicht der Mittelverdienenden, die als repräsentativ für die Gesellschaft angesehen wird. Auf diese breite Mittelgruppe stützen sich auch im wesentlichen politische Parteien, die so auch ihre „Mehrheiten“ zustande bringen. Fast völlig durch den Rost der Wohlstandsgesellschaft fallen oft die nicht beachteten Gruppen der neuen Armen. Unter dem Aspekt der Erwerbsgesellschaft lassen

sich auch Armutskategorien feststellen, deren besonderes Merkmal in vielen Fällen die „potentielle“ Armut ist, das heißt die Gefahr, in die neue Armut abzurutschen. Dazu gehören ältere Arbeitnehmer in kündbaren Positionen, die bei Kündigung nur schwer einen passenden Posten finden können; Arbeitnehmer, die geringe Berufskenntnisse aufweisen und bei angespannter Beschäftigungslage als erste freigesetzt werden; Kleingewerbetreibende oder Bauern, deren Einkommenslage unsicher ist; jene Gruppe von-Arbeitnehmern, deren Tätigkeit als minderwertig auf Grund der Entkörperlichung und Intellektualisie-rung des Arbeitsprozesses angesehen wird; die sogenannten bedingt Vermittlungsfähigen, die trotz Vollbeschäftigung arbeitslos sind; Erwerbstätige, die auf Grund zu geringer Beitragszeiten niedrigere Pensionen erhalten werden. s

Im allgemeinen herrscht zwar darüber relative Klarheit, was materielle Armut ist und im besonderen was finanzielle Benachteiligungen betrifft, die Ursachen werden aber ignoriert und oft auch verdrängt, denn sonst könnten nicht 80 Prozent der Bevölkerung, wie Gottburga Stromberger anführt, glauben, in ihrer erfahrenen sozialen Umwelt keine Armutsverhältnisse zu erkennen. Und diese realitätsfremde Bewußtseinslage aufzuhellen/ ist Sinn eingangs erwähnter Tagung.

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