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Das Mißverständnis der Familienpolitik

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Die Familienorganisationen fordern, wie schon 1953, so auch jetzt wieder, angesichts der für 195 8 geplanten Steuersenkung eine wesentlich stärkere Berücksichtigung der Familienlasten im Lohn- und Einkommensteuertarif. Dem wurde und wird entgegengehalten, daß die Mehrzahl der Familien von einer solchen Maßnahme überhaupt keinen, zumindest aber keinen fühlbaren Nutzen haben würde. Denn bei kleinem Einkommen und größerer Kinderzahl, also in jenen Fällen, die Hilfe am notwendigsten brauchten, sei heute schon keine oder fast keine Steuer mehr zu zahlen. Dies scheint auch der Grund zu sein, warum jene Abgeordneten, die sich in den vergangenen Jahren als erfolgreiche Anwälte der Familien erwiesen haben, wenig Neigung zeigen, sich für diese Forderung mit Elan einzusetzen.

Das Mißverständnis, es handle sich bei der Familienpolitik um eine Fürsorge- und Unterstützungspolitik für „arme“ Familien (das Wort „Beihilfe“ weist in diese Richtung), hat die Familienbewegung in ihren Anfängen selbst heraufbeschworen, indem sie zur Erhärtung ihrer Forderungen auf die krassesten Elendsfälle hinwies. Es geht aber in Wahrheit nicht um Fürsorge für arme, sondern um soziale Gerechtigkeit für alle Familien! Dem genannten Einwand zu begegnen, wurde neuerdings die These vertreten, die Forderung nach wesentlicher Erhöhung der Kinderermäßigung (das ist jenes Betrages, der pro Kind von der Steuer abgezogen wird) sei ausschließlich eine Forderung der Steuergerechtigkeit und habe mit Familienpolitik gar nichts zu tun. Soviel ist zweifellos richtig: Es gehört zu den Grundprinzipien der europäischen Steuerpolitik, daß die Staatsbürger zu den öffentlichen Lasten nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beizutragen haben. Die Steuerlasten sollen für alle gleich schwer empfindlich sein. Und es bedarf keines Beweises, daß ein Einkommensträger, der Kinder zu erhalten hat, wirtschaftlich viel schwächer ist als ein Kinderloser gleicher Einkommensstufe. Daß aber die Durchsetzung des Grundsatzes der Steuergerechtigkeit mit Familienpolitik nichts zu tun habe, ist ein Eingehen auf bestehende Mißverständnisse, deren endgültige Beseitigung längst geboten erscheint. Es sollen daher einige grundsätzliche Ausführungen über den Familienlastenausgleich folgen, zum Beweis, daß die Verwirklichung des Grundsatzes der Steuergerechtigkeit ein wesentliches Element dieses Lastenausgleichs darstellt.

Der Familienlastenausgleich, nach G. Macken- roth „die sozialpolitische Großaufgabe des 20. Jahrhunderts", ist aus folgenden Gründen notwendig:

Erstens, weil in der kommerzialisierten Industriegesellschaft das Aufziehen und Erziehen von

Kindern hohe finanzielle Aufwendungen erfordert, die sich mit der Zahl der Kinder wesentlich erhöhen, ja zum Teil vervielfachen. (In der alten agrar-handwerklichen Gesellschaft waren Kinder keine wirtschaftliche Last, im Gegenteil: Kinder waren als Mitarbeiter im FamiHepbetrieb unentbehrlich .und trugen schon früh zur Steigerung der Produktion wesentlich bei.) . ; 5

Zweitens, weil das Arbeitseinkommen — ganz gleich, ob es sich um selbständigen oder unselbständigen Erwerb handelt — zufolge des in

der Wettbewerbswirtschaft unentbehrlichen Leistungsprinzips diesen Kinderlasten nicht Rechnung tragen kann. (Man kann vom Unternehmer nicht 'verlangen, daß er dem Arbeiter mit Kindern für die gleiche Leistung einen höheren Lohn als dem kinderlosen zahlen soll. Aber auch der Kaufmann kann seine Waren nicht deshalb teurer verkaufen, weil er höhere Auslagen für Kinder hat, der Arzt kann aus diesem Grund für seine Visite nicht mehr verrechnen, und dem kinderreichen Bauern gedeihen die Ernten nicht besser als dem kinderlosen )

Drittens ist der Familienlastenausgleich notwendig, weil die Bereitstellung einer nach Quantität und Qualität ausreichenden Nachfolgegeneration ein Lebenserfordernis für die Gesellschaft darstellt. (Ist der Nachwuchs unzureichend, dann schrumpfen mit der Bevölkerungszahl auch Industrie, Landwirtschaft, Handel und Gewerbe, es kommt zu wirtschaftlichem Abstieg, zum Zusammenbruch der sozialen Einrichtungen, letztlich zur Gefährdung der staatlichen und volklichen Existenz.

Viertens erweist sich ein finanzieller Ausgleich zwischen Kinderreichen, Kinderarmen und Kinderlosen als unerläßlich, weil die Verhütungsmethoden, die heute bereits in alle Volksschichten Eingang gefunden haben, einen

beträchtlichen Teil der Bevölkerung dazu verleiten, die Kinderzahl zugunsten eines überhöhten Lebensstandards einzuschränken. (Wenn auch kein einzelner dazu gezwungen werden dürfte, Kinder zu haben, so ist doch die Gesellschaft .als .Ganzes zu ausreichender Fortpflanzung verpflichtet. Es ist und ..bleibt unerläßlich, daß von dem Sozialprodukt, das die arbeitende Generation erzeugt, auch jene leben müssen, die noch nicht arbeiten (die Kinder) und jene, die nicht mehr arbeiten (die Alten). Wer selbst keine Kinder haben will oder sie nicht haben kann, gewinnt daraus kein Recht, jenen Teil des Sozialprodukts, der für das Aufziehen der nächsten Generation bestimmt ist, für sich selber zu verbrauchen. Die Gesellschaft hat vielmehr das Recht, zu verlangen, daß er ihn im Wege des Familienlastenausgleichs an jene abführe, die an seiner Statt für größeren Nachwuchs sorgen. Wenn zur Volkserhaltung durchschnittlich etwa drei Kinder pro Ehe erforderlich sind, dann ist zur Deckung des Ausfalles durch eine Zweikinderehe eine solche mit vier Kindern notwendig, die Einkindehe fordert eine Fünfkinderehe und die kinderlos bleibende Ehe eine solche mit sechs Kindern!

Solange dieser Familienlastenausgleich nicht voll verwirklicht ist (unser Familienlastenausgleichsgesetz hat der Gesetzgeber selbst nur als die „Anbahnung“ eines solchen bezeichnet!), werden Familien mit geringem Einkommen und größerer Kinderzahl am Existenzminimum, wenn nicht unter demselben vegetieren müssen, solche mit höherem Einkommen aber werden gegenüber Kinderlosen gleicher Einkommensstufe sozial deklassiert bleiben. Solange nicht die Diskrepanz in der Lebenshaltung zwischen Kinderlosen, Kinderarmen und Kinderreichen in allen Einkommensschichten beseitigt wird, ist der Tatbestand einer negativen staatlichen Bevölkerungspolitik gegeben: es besteht ein Anreiz zur Kinderlosigkeit, und die ihm folgen, werden dafür durch die Möglichkeit eines höheren Lebensstandards belohnt! Auch dieser Aspekt muß in seiner Bedeutung erkannt werden: materielle und moralische Gesundung müssen Hand in Hand gehen, ihre Maßnahmen einander fördern. Die Predigt nach einfacher Lebensführung bedeutet eine Ueberforderung, wenn man duldet, daß sich die einen Autos kaufen können, während die anderen sich den Straßenbahnausflug mit den Kindern überlegen müssen, weil diese Schuhe und neue Wintermäntel brauchen.

Dieser Familienlastenausgleich kann im wesentlichen nur durch zwei Maßnahmen erzielt werden, die Zusammenwirken müssen:

a) durch Zulagen zum Arbeitseinkommen aller Familien in der Höhe der notwendigen Aufwendungen für Kinder unter Zugrundelegung einfachster Lebenshaltung. (Da heute Frauen wie Männer erwerbstätig sein können und die Nicht

erwerbstätigkeit kinderloser Ehefrauen kaum zu rechtfertigen ist, wird die Tendenz wachsen, das an der Leistung orientierte Arbeitseinkommen als Individualeinkommen zu gestalten. Es mehren sich auch die Stimmen, die den von der katholischen Soziallehre geprägten Begriff des „Familienlohnes“ für die heutige Zeit als „Familieneinkommen“ gedeutet wissen wollen: also Arbeitseinkünfte plus Ausgleichszulagen. Dies rechtfertigt auch die Zuerkennung von Ausgleichszahlungen vom ersten Kind an;

b) durch Differenzierung des Beitrages zy den öffentlichen Lasten der Kinderlosen, Kinderarmen und Kinderreichen entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Während es sich bei a) um die Sicherung des Existenzminimums für jedes Kind handelt, erfolgt durch b) jener „schichtenspezifische“ Ausgleich, der den Familienlastenaus-

gleich insgesamt erst zu einem in allen Einkommensschichten gleich wirksamen macht und damit die soziale Deklassierung der Familie überall beseitigt. Denn: der Familienerhalter mit höherem Einkommen (zufolge höherer Leistung) hat nicht nur für sich selbst Anrecht auf einen besseren Lebenszuschnitt, sondern er wird auch für seine Familienangehörigen höhere Aufwendungen tätigen, in gewissen Sparten sogar tätigen müssen. Er ist dem Kinderlosen gleicher Einkommensstufe gegenüber so lange sozial deklassiert, als .nicht der Steuertarif den zwangsläufigen und daher berücksichtigungswürdigen durchschnittlichen Mehraufwendungen, die ja seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit herabmindern, in ausreichendem Maße Rechnung trägt. Das Anwachsen der Kinderkosten bei steigendem Einkommen ist eine alte Lebenserfahrung, statistisch erhärtet. Soweit sie die Ernährung betreffen, werden erhöhte Aufwendungen für einen Lastenausgleich aus sozialen Gründen nicht in Betracht kommen, wohl aber solche für Wohnung, Bekleidung, Ausbildung, Erholung und Kulturbedürfnisse.

Die abermalige Möglichkeit, die Steuerlast zu senken, eröffnet vielleicht zum letztenmal die Chance, die Kinderermäßigung ohne jede Belastung der Steuerpflichtigen der Gruppe I und II wesentlich zu erhöhen. Wer keine Familienlasten zu tragen hat, kann heute auf eine weitere Steuersenkung leicht verzichten. Die Familien haben jedenfalls das erste Anrecht auf eine solche.

Die unersetzliche Funktion der Einkommensteuer im Rahmen des Familienlastenausgleiches ist fast in allen Industrieländern der Alten und Neuen Welt erkannt worden. Fast überall stehen Familienzulagen und Steuerermäßigungen nebeneinander. Die Nivellierung der Steuergruppen (oder gar ihre Auflassung), desgleichen der Abbau der direkten Steuern zugunsten der indirekten sind gefährliche Tendenzen. Gerade die qualitativ wertvollen mittleren Einkommensschichten schränken heute ihre Kinderzahl aus

wirtschaftlichen Gründen stärker ein. Es geht um den Mittelstand, der heute um die Aufrechterhaltung seiner kulturellen und sozialen Position überall schwer ringt. Ausländische neuere Statistiken beweisen, daß die Kinderzahl in höheren Einkommensstufen wieder ansteigt. Daß „die Armen die meisten Kinder haben“, ist bereits historisches Phänomen, war lediglich eine Durchgangsphase im Zuge der Wandlung zum generativen Verhalten der modernen Gesellschaft.

Familienpolitik ist ein säkulares Anliegen. Richtig verstanden, ist sie weder Bevölkerungspolitik (es geht nur um „die Freiheit, Kinder zu haben“) noch Fürsorge. Familienpolitik ist das Bestreben, die einseitig vom Individualismus gestalteten Ordnungen den tatsächlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Familienpolitik bedeutet daher in unserem speziellen Fall nicht die Einführung eines wesensfremden Elementes in die Steuerpolitik, sondern lediglich deren Orientierung an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Steuerpolitik kann nicht an der Tatsache vorbeisehen, daß die Gesellschaft keine Summe von einzelnen, sondern ein Gefüge von Familien darstellt, und daß ihr Wohl und Wehe mit dem der Familie unlösbar verbunden ist. Eine gerechte Steuerpolitik ist eo ipso Familienpolitik.

Die kommende Steuersenkung kann als Prüfstein gelten, ob die „Großaufgabe des 20. Jahrhunderts" bei denen, die für ihre Lösung verantwortlich zeichnen, Wort geblieben oder klarer Begriff geworden ist.

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