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Digital In Arbeit

Jenseits von Arbeit und Kapital

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Es geht nicht nur um die Verteilung von Einkommen aus Arbeit und Vermögen, sondern um die Frage einer gerechten Verteilung von Lebenschancen.

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Es geht nicht nur um die Verteilung von Einkommen aus Arbeit und Vermögen, sondern um die Frage einer gerechten Verteilung von Lebenschancen.

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Es gibt in Europa einen weitgehenden Konsens, daß grundsätzlich die Notwendigkeit von Umverteilung von Starken zu Schwachen in der Gesellschaft politisch nicht in Frage gestellt wird. Ks ist ein Konsens über den europäischen Weg - im Gegensatz zum amerikanischen oder asiatischen Weg - eines Wohlfahrtsstaates zum Chancenausgleich.

Über die grundsätzliche Notwendigkeit, Umverteilungspolitik betreiben zu müssen, wird sich also leicht Übereinstimmung erzielen lassen. Umverteilung impliziert aber einen gerechten Zustand als Ziel der Umverteilung. Doch gibt es ein Einverständnis darüber, was gerecht ist?

Umverteilung von gestern?

Angesichts eines permanenten Wirtschaftswachstums in der Zweiten Republik ist in einer Phasetter Verteilung von Zuwächsen die Fra/re nach den Grundlagen der Verteilungspolitik in den Hintergrund getreten. Verteilungspolitik (über Steuer- und Sozialpolitik) war ein politisches Spiel, in dem lange Zeit alle Gruppen gewinnen konnten. Daraus wurde in den letzten Jahren bestenfalls ein Nullsummenspilll, in dem nur gegeben werden kann, was anderen genommen wird, und auch noch Zinsen für bereits konsumierte Leistungen bezahlt werden müssen.

Das Wachstum des Sozialstaates schuf dabei ein Konglomerat unterschiedlicher, zum Teil gegensätzlicher Gerechtigkeitsvorstellungen. In Zeiten der wirtschaftlichen Expansion wurde das nicht in Frage gestellt. Steigende soziale Probleme (Armut) und die aufbrechenden Verteilungskonflikte angesichts von Finanzierungsproblemen aber machen uns diese „Gerechtigkeitslücke” schmerzlich bewußt. Dabei sind die Verteilungsmechanismen sozialstaatlicher Institutionen nicht nur Ausfluß gesellschaftlicher Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern prägen selbst wiederum solche Vorstellungen. Unsere Sozialsysteme sind geprägt von einer starken Anbindung an die Erwerbsarbeit und der Dominanz des Versicherungsprinzips und damit einer Dominanz der Leistungsgerechtigkeit.

Der Versuch der Leugnung neuer Anforderungen sowie der naheliegende reflexartige Rückgriff auf vormalige Verteilungsmodelle im privaten Haushalt erweisen sich als Sackgassen. Es kam durch die Wohlstandsentwicklung und die gesellschaftliche Modernisierung auch zu einer Erosion der früher üieHebensnotwendigen Solidargemeinschaften wie Familie, kirchliche und dörfliche Gemeinschaften etc. Diese Gemeinschaften boten - vor allem durch unentgeltliche Leistungen von Frauen - Schutz in schwierigen Situationen, die Sicherheit im Falle von Krankheit und auch im Alter und in ihnen wurden eben auch Mittel zwischen Geschlechtern und Generationen umverteilt. Der Schutz und die Umverteilungsleistung dieser Gemeinschaften wurden aber mit der Zeit für viele nicht mehr notwendig, da jeder und jede für sich am neuen Wohlstand teilhaben konnte. Der Marktzugang für einzelne wurde vereinfacht und die l m Verteilung vielfach von der öffentlichen Hand organisiert. ÜjijSte Aufljäatng dieser Gemein-schauen und die damit verb” oft zitierte Individualisierung bedeuten eine Erhöhung der Lebenschancen und der Eigenständigkeit für viele Menschen. Sie bedeuten aber auch, daß der Schutz jener Gemeinschaften nicht mehr rekreiert werden kann und auch -gerade wenn man die Entwicklung der Lage der Frauen ansieht - nicht soll.

Moderne Chancen und Risken

Die Modernisierung der Gesellschaft hat also einen sozialen Januskopf: Im Zuge der Wohlstandsentwicklung wurde der Großteil der Gesellschaft von einem „Fahrstuhleffekt” (Ulrich Beck) erfaßt, also gewissermaßen nach oben befördert, und es bildete sich eine breite Mittelschicht heraus. Gleichzeitig kam es zu einer Individualisierung der Chancen, allerdings auch zu einer Individualisierung der Risikobewältigung für Bürgerinnen und Bürger.

Die Verteilung von Chancen und Risken war und ist jedoch äußerst ungleich verteilt. War sie früher über den sozialen Status oder das Geschlecht „geregelt” - vor allem zu Gunsten der Männer —, so erfolgt diese Zuteilung nun stärker über den Markt. Es besteht damit möglicherweise eine größere formelle Chancengleichheit, aber auch eine geringere ßerechenbarkeit, was die Risken angeht. Der formellen Chancengleichheit stehen auch unterschiedliche reale Möglichkeiten der einzelnen Menschen entgegen.

Das Festhalten an der Dominanz des Versicherungsprinzips und des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit, aber auch die geringe reale Progression im Steuerbereich führen zu einer Übertragung der Marktgegebenheiten auf den Bereich der sozialen Sicherung. Unser Sozialsystem knüpft an der immer ungleicher verteilten Erwerbsarbeit - was die Sicherheit, die Dauer und die Höhe des Einkommens angeht - an. Es stellt sich aber die Frage, ob das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit nicht partiell ersetzt werden müßte durch das Prinzip der Teilhabegerechtigkeit. Menschen soll demnach nicht nur auf Grund ihres „Tuns” sondern auf Grund ihres „Seins” ein solches Maß an sozialer Sicherheit garantiert werden, das ihnen nicht nur ermöglicht zu überleben, sondern auch ihre Fähigkeiten und Begabungen in die Gesellschaft einzubringen.

Wenn wir aber von einem Konzept der Teilhabegerechtigkeit ausgehen, darf die Umverteilungsdebatte nicht in der Frage stecken bleiben, wie die Gewinne aus einer produzierten Leistung zwischen den Faktoren Arbeit und Kapital verteilt werden. Der klassische Ansatz der Verteilungsdiskussion, nämlich die Frage der Verteilung von Einkommen aus Arbeit und aus Vermögen, kann nur einen Teil der Frage nach einer gerechten Verteilung von Lebenschancen abdecken. Damit soll allerdingicht relativiert werden, daß unter mangelnder gerechter Verteilung im Einkommensbereich auch alle anderen Lebensbereiche leiden. Die Okonomisierung aller Lebensbereiche betrifft nicht nur den öffentlichen Raum und die politische Diskussion, sondern selbstverständlich auch die privaten Lebenssphären. Bildung, Familie, Bege-neration u. ä. sind abhängig von den zur Verfügung stehenden Ressourcen. was ist eine gerechte verteilung?

Die Frage nach der Umverteilung von Teilhabechancen verlangt wesentlich komplexere Modelle von Gerechtigkeit als jene, die versuchen an der Einkommensverteilung anzusetzen. Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft muß so ausdifferenziert sein, daß sie die einzelnen Sphären des Lebens und ihre Besonderheiten und gegenseitigen Abhängigkeiten berücksichtigt

So wird etwa Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern im Erwerbsleben nicht durch formale Gleichheit allein herstellbar sein, sondern es müssen der weibliche Lebenszusammenhang an sich, aber auch die reale Verteilung der Arbeit in einer anderen Lebenssphäre - dem Privatbereich berücksichtigt werden.

Gerechtigkeit muß allerdings auch die unterschiedlichen Möglichkeiten der einzelnen Menschen in Betracht ziehen. Es geht also nicht um die Herstellung einer bloß formalen Chancengleichheit. Es geht um den Versuch der Herstellung einer realen Chancengleichheit durch besondere Zuwendung zu den benachteiligten Gruppen und Öffnung von Lebensund Lebensgestaltungschancen für jene. wer entscheidet, was Gerechtigkeit ist?

In einer Gesellschaft, deren innerer Wettbewerbsdruck auf die einzelnen Menschen immer größer wird, steigen auch die Spannungen zwischen einzelnen Gruppen und deren Interessen: die Spannungen zwischen den Generationen um die Absicherung des Alters, zwischen den Geschlechtern um die Verteilung der Einkommen und der Hausarbeit, zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, zwischen jerifen, die Erziehungsaufgaben übernehmen und jenen, die - freiwillig oder nicht - keine Kinder aufziehen, zwischen Einheimischen und Fremden. In der Auseinandersetzung wird das Argument der „wohlerworbenen Becnte” hier oftmals zum Ausdruck von schlecht verschleierten institutionalisierten Gruppenegoismen. Unter veränderten Rahmenbedingungen werden die Knappheit des gesell-schaftlichen Gutes Solidarität deutlich und traditionelle Gesellschaftsverträge brüchig. Es zeigt sich aber auch die

Gefangenheit der Politik in den Mechanismen des Interessenausgleichs nach den Gesetzen des Stärkeren.

Es bedarf der Verhandlung zwischen Gruppen, um Verständnis dafür zu erzeugen, daß Beschränkungen der eigenen Freiheiten auf Grund der legitimen Ansprüche anderer Gruppen nötig sind. Dieser Prozeß der Verständigung und Solidarisierung hat kein Ende, sondern ist ein Merkmal ziviler Gesellschaften insbesondere 'angesichts globaler Integrationstendenzen. Als problematisch erweist sich allerdings die unterschiedliche Verteilung politischer Einflußsphären zwischen einzelnen Gruppen. Die Vertretung etwa der Gruppe der Arbeitslosen, der Alleinerziehenden oder auch der - politisch abstrakten -Gruppe der Armen sowie etwa der künftigen Generationen entspricht aus der Gerechtigkeitsperspektive nicht der Bedeutung dieser Gruppen.

Umverteilung von morgen?

Was könnten nun zentrale Leitlinien für eine Umverteilungspolitik von morgen sein?

■ Politik der Gegenseitigkeit:

Neue Modelle sollen Modelle der Gegenseitigkeit sein, die die Leistungen aller Mitglieder einer Gesellschaft einbeziehen. Dabei ist auch auf die Unterschiedlichkeit der Möglichkeiten des/r einzelnen zu achten. Wesentlich sollen nicht die Defizite, sondern die Leistungen, die er /sie jeweils für die Gesellschaft erbringen kann, sein.

■ ;Effizienz und Transparenz:

Der Wille der Bürgerinnen und Bürger, relativ hohe Steuern und Abgaben für eine relativ ineffiziente Umverteilung und eine aufgeblähte Sozialverwaltung zu zahlen, wird immer geringer. Durchdieselneffizienz wird die durchaus vorhandene Bereitschaft zu teilen und Solidarität zu leben untergraben. Wo Transparenz nicht gegeben ist und die Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit von Maßnahmen unklar ist, sinkt ebenso die Bereitschaft, sein Scherflein dazu beizutragen.

■ ;Grundsicherung:

Wenn der Arbeitsmarkt nur noch mangelhaft die Integration ins Sozialsystem herstellen kann und damit das Versicherungsprinzip zu einem Ausgrenzungsprinzip wird, müssen wir versuchen Erwerbstätigkeit und soziale Sicherung zu entkoppeln. Es muß also gelingen, eine soziale Grundsicherung stärker an den Bürgerstatus und nicht an den Erwerbstätigenstatus zu knüpfen, als Weg zu einer Sicherung vor dauerhafter sozialer Ausgrenzung nach dem Prinzip der Teilhabegerechtigkeit.

■ ;Durchlässigkeit:

Da aber immer noch der Arbeitsmarkt der zentrale gesellschaftliche Integrationsmechanismus bleiben wird, ist es notwendig, die Durchlässigkeit zwischen Erwerbstätigkeit und Nicht-Erwerbstätigkeit zu erhöhen. Neue Arbeitszeitmodelle, aber auch existenzsichernde Ergänzung geringer Erwerbseinkommen durch Sozialleistungen oder von Sozialleistungen durch geringe Erwerbseinkommen, um den Kontakt zum Arbeitsmarkt aufrecht zu erhalten, müssen das Entweder-Oder von Arbeitslosigkeit oder Erwerbstätigkeit durchbrechen. Trotz möglicher Gefahren durch die entstehenden Grauzonen muß versucht werden, den Zugang zu Arbeit zu demokratisieren, um auch hier Ausgrenzung zu vermeiden und Integrationschancen zu erhöhen.

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