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Solidarität ist der Preis fiiir mehr soziale Sicherheit

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Das österreichische System sozialer Sicherheit gilt vielfach als vorbildlich. Zukünftige Entwicklungen, die sich unschwer absehen, aber nur zu einem geringen Teil wirklich beeinflussen lassen, bedrohen das soziale Netz. Eine mögliche Vorkehrung gegen diese Gefahr wäre ein sukzessiver Ubergang vom Versicherungs-zum Solidaritätsprinzip.

Ansatzpunkt für einen Anspruch des einzelnen auf eine solidarische Leistung der Gemeinschaft wäre dann nicht eine von ihm zuerst erbrachte Versicherungsleistung, sondern seine konkrete Bedürfnislage.

Die Absicherung gegen die Wechselfälle des Lebens ist in unserem System weitgehend an ein Lohnarbeitsverhältnis gebunden. Diese Bindung wird jedoch zunehmend problematisch: Wenn man bedenkt, daß - nach einer Schätzung der IBM-Zentrale in New York - erst rund fünf Prozent des Rationalisierungspotentials realisiert sind, erahnt man die Konsequenzen kommender Rationalisierungsschübe für den Arbeitsmarkt und in der Folge für das gesamte System der sozialen Sicherheit.

Dazu kommt verschärfend die abzusehende Entwicklung in der Altersstruktur unserer Bevölkerung und die Verschiebung im Verhältnis zwischen Aktiven und Pensionisten. Nicht unterschätzt werden sollten „klimatische“ Änderungen in der Gesellschaft: „Leistung muß sich lohnen“, „Schmarotzer sind unter uns“, „Wer arbeitslos ist, ist selber schuld“, „Ausländer raus“ und ähnliche Parolen sind die verbalen Signale dafür, daß die „Mone-tarisierung“ das gesamte Leben zu durchdringen droht, daß der Verteilungskampf härter wird.

Wachsende Finanzierungsprobleme bieten sich als argumentative Brechstange zur Demontage des sozialen Gebäudes. Dabei wird verschleiert, daß Finanzierungsprobleme politischer Natur sind; denn es ist eine politische Entscheidung, ob zum Beispiel Milliardenbeträge für den Kauf von Waffensystemen oder für gesundheitspolitische Maßnahmen ausgegeben werden.

In dieser Situation müssen zunächst die Grundfragen gestellt und beantwortet werden: Soll am primären Ziel der Sozialpolitik — der institutionellen Absicherung aller gegen die Wechselfälle des Lebens - festgehalten werden, oderwill man Ausgrenzungen zulassen? Will man das vorhandene System, das seine Vorzüge hat, beibehalten und durch bloße kosmetische Operationen seinen Bestand sichern — oder will man den Umstieg auf ein neues, den geänderten Verhältnissen besser angepaßtes System wagen?

Sollen dabei die Verteilungswirkungen verändert werden, das heißt, will man anstelle eines Systems, in dem wenige sehr viel, sehr viele ihren Bedürfnissen entsprechend und einige (zu befürchten ist: immer mehr) sehr — zuwenig bekommen, ein neues System, in dem niemand sehr viel, aber auch niemand zu wenig, sondern alle ausreichend bekommen?

Vieles spricht dafür, diesen Uber gang zu wagen. Nicht im Wege einer Revolution, sondern über langfristig wirkende Weichenstellungen.

Wer krank ist, wer alt ist, wer keine Arbeit hat, soll einen einklagbaren Anspruch auf die solidarische Unterstützung jener haben, die gesund und jung sind und. die Arbeit haben.

Der finanzielle Aufwand für ein System dieser Art müßte keineswegs höher sein, als er jetzt ist. Es geht um eine andere Verteilung, um eine bessere Verwirklichung des Solidaritätsgedankens. Und es geht um neue Finanzierungsgrundsätze und -grundlagen beziehungsweise um deren Verbreiterung über den Produktionsfaktor Arbeit hinaus - etwa auf die Wertschöpfung.

Am Beispiel der Altersversorgung: Verteilte man die Gesamtaufwendungen für -Pensionen (einschließlich der Beamtenpensionen, die direkt aus dem Bundesbudget bezahlt werden) gleichmäßig auf alle derzeitigen Pensionsbezieher, käme jeder auf eine monatliche Pension von etwas mehr als 8.000 Schilling - was sogar noch über der durchschnittlichen Alterspension liegt.

Das Hauptargument gegen eine derartige Volkspension, daß nämlich die Pensionsleistung der Ersatz für das Arbeitseinkommen sei und eine Durchschnittspeh-sion bei „Besserverdienern“ den Ersatz nicht leisten könne, verfängt nicht: Ergänzend zur staatlich garantierten Mindestversorgung können zusätzliche individuelle Vorsorgen — betrieblicher und privater Art — treten, die ein Halten des erreichten Standards ermöglichen.

Im übrigen dürfte die reale Entwicklung schon in nicht zu ferner Zukunft zu Anpassungen zwingen.

Nicht mehr die Arbeit, sondern immer mehr die Technik wird zur Quelle des gesellschaftlichen Reichtums. Der Versuch, einen den erreichten Standards entsprechenden Lebensunterhalt an den Besitz von Lohnarbeit zu binden, mündet über kurz oder lang — zu befürchten: eher über kurz — in die Zweidrittelgesellschaft: Zwei Drittel verfügen über Arbeit und Einkommen (und damit über politischen Einfluß, gesellschaftlichen Status, soziale Sicherheit, ein Drittel wird aus dieser Gesellschaft ausgegrenzt.

Um eine solche Entwicklung zu verhindern, müssen neue Formen gesellschaftlicher Solidarität und neue institutionelle Absicherungen gefunden werden.

Die politische Realisierung derartiger Überlegungen ist mit Sicherheit sehr schwierig.

Aber ein Gesellschaftskonzept, das eine wachsende Zahl von Arbeitslosen und soziale Ausgrenzung in Kauf nimmt und das „Leistung“ zum einzigen Zugangskriterium für Ansprüche des einzelnen an die Gemeinschaft macht, sollte gewiß nicht mehrheitsfähig gemacht werden, wenn man an der Gültigkeit sozialer Zielsetzungen für die ganze Gesellschaft festhalten will.

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