Der Mythos von der Mangelware Arbeit

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Der Ruf nach "gerechter Verteilung der Arbeit" beruht auf dem Irrglauben, der modernen Industriegesellschaft gehe die Arbeit aus. Der Bedarf wird durch neue Technologien lediglich umgeschichtet. Das erfordert entsprechende Anpassungen.

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Der Ruf nach "gerechter Verteilung der Arbeit" beruht auf dem Irrglauben, der modernen Industriegesellschaft gehe die Arbeit aus. Der Bedarf wird durch neue Technologien lediglich umgeschichtet. Das erfordert entsprechende Anpassungen.

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Zwei Ärgernisse kennzeichnen die Wirtschaftspolitik unserer Tage: Die inakzeptable hohe Arbeitslosigkeit - im OECD-Raum sind an die 35 Millionen Menschen ohne Beschäftigung - und die unbestreitbar größer werdende Schere zwischen Armen und Reichen (in den letzten zwanzig Jahren ist die Weltproduktion um das nahezu Sechsfache gewachsen, zugleich aber die Zahl der Armen global um zwanzig Prozent gestiegen).

Diese Fehlentwicklungen, wesentliche Ursachen der weitverbreiteten Existenzangst und Unzufriedenheit, mit wirksamen Mitteln zu bekämpfen, ist nicht allein ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, sondern ebenso eine Frage wirtschaftlicher Vernunft.

Doch so gefährlich wie Gleichgültigkeit und Inaktivität sind marktschreierisch verkündete Thesen, die rasch wirkende und schmerzlose Mittel gegen die Arbeitslosigkeit propagieren und auf falschen Ansätzen beruhen: Man müsse nur - so die wirtschaftspolitischen Wunderheiler - die Arbeit von Staats wegen "gerechter" verteilen, die Arbeitszeit mit möglichst vollem Lohnausgleich verkürzen sowie durch staatliche Ausgaben und durch Erhöhung der Masseneinkommen zusätzliche Nachfrage schaffen.

Der Ruf nach "gerechter Verteilung der Arbeit" ist auf den Irrglauben zurückzuführen, der modernen Industriegesellschaft gehe die Arbeit aus. Sie müsse als "Mangelware" rationiert werden wie Brot bei Hungersnot.

In Wahrheit vernichtet der wirtschaftlich-technische Fortschritt nicht zwangsläufig Arbeitsplätze; das hat er weder zur Zeit der Dampfmaschine oder Automatisierung getan, noch tut er es heute in der Ära der Digitalisierung. Wohl aber führt die Technologie zu gewaltigen, keineswegs problemlosen Umschichtungen des Bedarfs.

Mit der Industrialisierung werden zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen wie nie zuvor in der Geschichte. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen in neuen Branchen. Sie erfordern allerdings eine entsprechende Anpassung - vom Einzelnen wie von der Gesellschaft.

Generell verordnete "Arbeitszeitverkürzung" wäre nur gerechtfertigt, wenn von einer allgemeinen Sättigung der menschlichen Bedürfnisse gesprochen werden könnte.

Sicherlich herrscht bei manchen industriell gefertigten Massenartikel ein Überangebot und auf nicht wenige durch eine aggressive Werbung geweckte Wünsche kann verzichtet werden. Doch steht dem ein durch wachsenden Wohlstand ständig steigender, voll gerechtfertigter Bedarf vor allem an Dienstleistungen gegenüber.

Wer kann seriöserweise und ohne Zynismus von mangelnden Arbeitsmöglichkeiten sprechen, solange Schwerkranke in Betten auf dem Gang der Krankenhäuser untergebracht werden, weil modernst eingerichtete Abteilungen wegen Mangel an Pflegepersonal gesperrt sind? Gibt es genug Wohnungen und Bildungseinrichtungen, ist der Ausbau der Infrastruktur in Österreich abgeschlossen? Sind alle sinnvollen Investitionen im Umweltschutz bereits getätigt? Ist für die Entwicklungsländer nichts mehr zu tun?

Das System ist krank Wie aber läßt sich dann die strukturelle Arbeitslosigkeit erklären? Der Faktor Arbeit ist - nicht zuletzt durch die hohen Lohnnebenkosten, den Steuerdruck infolge einer zu teuren Verwaltung, durch ungerechtfertigte Kosten der Leistungen des bisher geschützten Sektors (Post, Kommunikation, Energie) und nicht zuletzt durch bürokratische Überregulierung der Arbeitswelt - zu teuer geworden, daher der Mangel an bezahlbaren, marktgerechten Arbeitsplätzen. Wenn ein Arbeiter fünf Stunden arbeiten muß, um einen Kollegen zu bezahlen, der für ihn eine vergleichbare Arbeit von einer Stunde leistet, ist das System krank.

Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit muß durch eine Reduzierung der Kosten des Produktionsfaktors Arbeit erfolgen. Dazu ist eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes notwendig, die nicht nur die Produktivität des Unternehmens erhöht, sondern auch den Mitarbeitern Vorteile bringen kann: Arbeitsverträge mit einer Bandbreite von Arbeitszeit und entsprechender Entlohnung in Abhängigkeit von der Auftragssituation, beweglichere Jahres- und Lebensarbeitszeit sowie vermehrte Teilzeit- und Temporärarbeit (die in Österreich noch besonders starke Kritik an diesen neuen Beschäftigungsformen wird sich der Frage stellen müssen, ob bei Ablehnung dieser Möglichkeiten Arbeitslosigkeit die bevorzugte Alternative bleiben soll und kann).

Da vor allem Arbeitsplätze mit geringen Qualifikationserfordernissen gefährdet sind, zugleich aber auch der Lebensunterhalt der weniger tüchtigen und glücklichen Mitbürger gesichert werden muß, hat ein Staatszuschuß in Form einer negativen Einkommenssteuer für Ausgleich zu sorgen.

Die öffentliche Hand muß ihre Rationalisierungsbemühungen ernst nehmen und dadurch eine Reduzierung der Steuerlast zur Entlastung der Arbeitskosten ermöglichen. Diesem Ziel dient das in anderen Ländern bewährte New Public Management, das durch eine umfassende Verwaltungsreform Kundenorientierung und Effizienz stärken sowie durch neue Managementtechniken und den Einsatz von Controlling zu besseren Ergebnissen kommt. Hier sind gewaltige Einsparungen möglich, wenn man sich entschließen kann, die unter anderen Voraussetzungen entstandenen "wohlerworbenen Rechte" zur Diskussion zu stellen.

"Hollywood-Effekt" Fortschrittliche Beschäftigungspolitik erfordert auch eine neue Einstellung zur Arbeit. Ein häufigerer Wechsel der Arbeit, des Unternehmens und des Berufs verlangen erhöhte Eigenverantwortung. Früher mußten die in Wirtschaftsunternehmen Beschäftigten nur mitarbeiten, in Zukunft müssen sie mitdenken, das Betriebsergebnis mitgestalten und um den Bestand der Firma, um ihren Arbeitsplatz bangen. Eine neue politische und soziale Philosophie ist im Entstehen. Die zivile, die "anständige Gesellschaft", so der britische Labour Premierminister Blair, basiert nicht allein auf Rechten; sie "gründet sich auf der Pflicht gegenüber dem Mitbürger".

Die wachsenden Ungleichheiten in unserer Gesellschaft, die größer werdenden Gegensätze zwischen Arm und Reich sind entgegen landläufiger Ansicht nicht auf eine Verschwörung des Kapitals oder der herrschenden Klasse, den bösen Willen oder die Unfähigkeit einer Regierung zurückzuführen. Wäre dies der Fall, hätten Revolution oder Machtwechsel nach demokratischen Wahlen längst Abhilfe schaffen können.

Mit Recht fragt ein deutscher Wissenschaftler, ob bei manchen Fehlern, die Regierungen gemacht haben, nicht auch die geänderten Lebensverhältnisse den Trend zur Ungleichheit verstärken. Er nennt in diesem Zusammenhang die "Auflösung der alten Familienbilder und Rollenzwänge". Sie sollten "allen mehr Freiheit und Emanzipation bringen. Viele aber hat sie, etwa nach Scheidungen oder als Alleinerziehende, in eine neue Armut gestürzt."

Der technische Fortschritt schließlich entwertet zahlreiche mittlere und niedrige Qualifikationen. "Eine zunehmend komplexe Gesellschaft zahlt ihren Experten überdurchschnittlich hohe Gehälter." Das als "Hollywood-Effekt" bezeichnete Phänomen läßt sich am Beispiel der Tennis-Weltrangliste gut darstellen: "Wer vorne liegt, verdient um ein Vielfaches mehr als seine Konkurrenten: Ungleichheiten, die durch keine objektiven Leistungen gedeckt sind." Dies betrifft alle Sektoren und natürlich auch die Wirtschaft.

Diesen Schattenseiten des technologischen Fortschritts, der Digitalisierung und der Globalisierung steht der gewaltige Gewinn an allgemeinem Wohlstand gegenüber, den die hochindustrialisierten Länder durch internationale Arbeitsteilung in den letzten Jahrzehnten erreicht haben. Auf ihn will und kann kaum jemand verzichten.

Wir müssen uns aber dann auch die Frage stellen, wem das Wirtschaftswachstum primär zugute kommt und wie die zusätzlichen Ressourcen dorthin geleitet werden können, wo dies am ehesten gerechtfertigt ist. Reicht der Wettbewerb aus, um die Vorteile aus technologischem Fortschritt und Globalisierung auch dem Konsumenten zukommen zu lassen? Verhindert der Steuertourismus, die Ausweichmöglichkeit in Länder mit großen Steuerprivilegien, jene Leistungen an den Staat, die notwendig sind, um zusätzliche Pflichten - etwa im Umweltschutz, Bildungs- und Gesundheitswesen oder in der Altenbetreuung - zu erfüllen? Und können manche dieser Aufgaben nicht besser von privater Hand erfüllt werden?

Diese Fragen sollten nicht im Sinne einer unzeitgemäßen Gleichmacherei ("gemähte Rasen statt Blumengarten"), sondern im Geiste sozialer Fairneß und Vielfalt beantwortet werden. Und in Zeiten, in denen Unternehmen im internationalen Wettbewerb stehen und der Rationalisierungsdruck zur Überlebensfrage wird, schließt soziale Fairneß auch die Erkenntnis ein, daß hohe soziale Folgekosten - auch wenn sie anfangs noch nicht sichtbar sind - die wirtschaftliche Entwicklung auf längere Sicht ernsthaft bedrohen können.

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