Wohlfahrt aller erneut sicherstellen

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Die wachsende Vielfalt der Arbeitskräfte fordert, neue Gruppierungen und Strukturen in den kollektiven Verhandlungsprozess aufzunehmen.

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Die wachsende Vielfalt der Arbeitskräfte fordert, neue Gruppierungen und Strukturen in den kollektiven Verhandlungsprozess aufzunehmen.

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Wir beobachten derzeit einen tiefgreifenden Wandel am Arbeitsmarkt, der seine Wurzeln in Transformationsprozessen hat, die weit über die technologische und ökonomische Domäne hinausgehen. Arbeit wird neu organisiert, und zwar nicht nur im Gefolge der Globalisierung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch auf Grund einer geänderten Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen im Gefolge zunehmender Individualisierung. Die Reorganisation der Arbeit wird vom gesellschaftlichen Wandel ebenso geprägt wie vom technologischen und ökonomischen. Das Resultat des Strukturwandels ist nicht vorgegeben, sondern von Institutionen des Arbeitsmarktes sowie vom Gesetzgeber gestaltbar.

In Österreich bietet sich, aus einer langen Tradition heraus, die Sozialpartnerschaft als wesentlicher Vermittler zwischen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen an. Sie trug bisher dazu bei, dass sich die latenten Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und zwischen sozialen Gruppen in einem Umstrukturierungsprozess - der Verlierer und Gewinner kennt - nicht derart ausweiteten, dass es zu gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsverlusten gekommen wäre. Das System der sozialen Versorgung, das sie aufbauen half, stellt sicher, dass der Weg der Liberalisierung und des verstärkten Wettbewerbs von der Gesellschaft weiterhin getragen wird. So gesehen kommt der Anpassungsfähigkeit der Sozialpartner und der sozialen Versorgungssysteme an die neuen Rahmenbedingungen eine Schlüsselrolle in der Entwicklung des Wirtschaftswachstums und des allgemeinen Wohlstands der Gesellschaft zu.

Folgende Faktoren deuten darauf hin, dass eine Neuorientierung der Sozialpartnerschaft in Österreich notwendig ist: * Der branchenspezifische Strukturwandel, der eine Verlagerung der Beschäftigung von gewerkschaftlich gut organisierten Bereichen auf wenig organisierte in sich birgt * die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsorganisation * die verstärkte Internationalisierung * der Strukturwandel des Arbeitsangebots * sowie die zunehmende Bedeutung von Arbeitslosigkeit in einer postindustriellen Wirtschaft.

Der Strukturwandel impliziert, dass zusätzlich zum traditionellen Konfliktpotential zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern neue Felder hinzukommen. Insbesondere eine Verschärfung der Konflikte zwischen Gruppen von Arbeitskräften, vor allem zwischen Insidern und Outsidern und zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen.

Die neuen Formen der Arbeitsorganisation haben zur Folge, dass große homogene Gruppen von Arbeitskräften, die für die Industriegesellschaft typisch waren und die Voraussetzung für den Erfolg von Kollektivverhandlungen darstellten, an Bedeutung verlieren. Betriebe reagieren auf den verstärkten Wettbewerbsdruck unter anderem mit der Nutzung aller Flexibilitätspotentiale. Jeder Betrieb hält sich ein Portfolio verschiedener Beschäftigungsformen. Eine Kernbelegschaft, die die kontinuierliche Produktion/Dienstleistung sichert. Auf kurzfristige Nachfragesschwankungen wird mit Zeitarbeitern aus Verleihfirmen reagiert. Neue Ideen, Produkte, Märkte werden über zeitlich beschränkte Verträge mit Spezialisten, Konsulenten abgetastet (zum Teil neue Selbständige). Unternehmensorientierte Dienstleistungen, wie Werbung, Logistik, Personalwesen werden ausgelagert (outgesourct).

Kleine Betriebe: schwache Vertretung Die Entlohnungssysteme werden je nach Beschäftigungstyp variiert. Sie reichen vom Kapitalisten, das heißt dem Mitglied der Kernbelegschaft, der über einen Grundlohn hinaus vom Erfolg des Betriebes am Kapitalmarkt (Aktienanteile) lebt, über den Konsulenten, der neben einem Fixbetrag eine erfolgsabhängige Prämie erhält, zu den eingekauften Dienstleistungen, die als Produkt definiert werden (Industrialisierung der Dienstleistungen) und den lohnabhängigen Zeitarbeitern.

Die Flexibilisierung der Arbeitsprozesse und Lohnsysteme stellt die Sozialpartner vor eine schwierige Aufgabe im Bereich der kollektiven Lohnverhandlungen. Verhandlungen über Löhne und Arbeitszeitregelungen verschieben sich von der Branchenebene auf die Betriebsebene. Ausgliederungen (Outsourcing) verstärken die Segmentierung des Arbeitsmarktes in gewerkschaftlich gut organisierte große Betriebe und kleine beziehungsweise mittelgroße Betriebe mit schwacher Vertretung der Arbeitnehmer.

Aber nicht nur die Arbeitnehmervertretung steht unter Druck, sondern auch die Arbeitgebervertretung. Angesichts verstärkter Internationalisierung verringern sich die Vorteile eines Lohnverhandlungssystems, das alle Unternehmen einer Branche umfasst. Firmen mit ausgeprägter Auslandsorientierung fühlen sich nationalen Branchenvertretern weniger verpflichtet als Unternehmen mit ausschließlich einheimischen Produktionsstätten. In dem Maße, in dem nationale Erwägungen an Bedeutung verlieren, wenden sich die Unternehmen von der allgemeinen Interessenvertretung der Arbeitgeber, die ja eine Vielzahl von gegensätzlichen Standpunkten vereinbaren muss, ab, und werden zunehmend Lobbys ihrer eigenen Interessen. Die Forderung nach Verlagerung der Lohnverhandlungen von der sektoralen Ebene auf die Unternehmensebene ist Ausdruck dieser Entwicklung.

Die Flexibilisierung der weltweiten Produktions- und Distributionsprozesse geht Hand in Hand mit einer sozialen Flexibilisierung. Die bürgerliche Familienform löst sich auf und zerfällt in vielfältige Lebensformen, wobei ein Konsens über die "Normfamilie" infolge der Auflösung hierarchischer Wertestrukturen kaum zu erzielen sein wird. Es gibt heute einen höheren Anteil unehelicher Kinder, eine höhere Scheidungs- und Wiederverheiratungsrate sowie mehr Alleinstehende (Mütter und Väter sowie Singles) als zu irgendeiner anderen Phase in den letzten 100 Jahren.

Individualisierung wird Notwendigkeit Die verstärkte Individualisierung der Gesellschaft, die sich auch in der Gesetzeslage (etwa in der Reform des Scheidungsrechts) widerspiegelt, impliziert eine zunehmende Eigenverantwortlichkeit, insbesondere für Frauen. Berufstätigkeit ist heute keine kurze Phase im Lebenszyklus der Frau mehr, kurz ist eher die Familien- und Kinderphase. Individualisierung im Sinne der Selbstgestaltung des eigenen Lebens ist daher kaum mehr eine freie Entscheidung sondern eine Notwendigkeit, insbesondere für Frauen, wenn sie wirtschaftlich nicht benachteiligt sein wollen.

In der Folge verändert sich die Struktur des Arbeitsangebots. Der Anteil der Frauen steigt; die Verlängerung der Ausbildung und der frühere Abgang in die Pension führt zu einer Konzentration der Erwerbstätigkeit auf das mittlere Alter. Zusätzlich steht die Qualifikation der Arbeitskräfte auf dem Prüffeld. Mit der Schließung beziehungsweise Umstrukturierung alter Industriebetriebe werden traditionelle Qualifikationen obsolet. Umschulungen und Requalifizierung werden für jedes Alter unabhängig vom Geschlecht eine Notwendigkeit. Phasen der Beschäftigung werden abgelöst von Phasen der Weiterbildung und Arbeitslosigkeit. Die traditionellen Strukturen der finanziellen Abhängigkeiten, etwa der Frauen von Männern, oder der Jugend von Menschen im Haupterwerbsalter, verlieren in der Folge an Bedeutung.

In Pension zu wenig soziale Absicherung Die soziale Absicherung, die sich an traditionellen Familienstrukturen und Arbeitsbeziehungen orientiert, ist schon heute für bestimmte Personengruppen oder Personen in bestimmten Lebensphasen zumindest in einer Übergangsphase nicht mehr gewährleistet. Die zunehmende Unsicherheit einer lebenslangen Beschäftigung, die Perspektive häufiger Unterbrechungen zum Zweck der Ausbildung impliziert, dass nicht nur in der Phase der Erwerbstätigkeit sondern auch im Pensionsalter bei der Aufrechterhaltung des derzeitigen Sozialsystems häufig keine ausreichende soziale Absicherung gewährleistet wäre.

Dieser kurz skizzierte Wandel der Arbeitsmärkte stellt die traditionellen Interessenvertretungen der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite vor Herausforderungen, die in ihrer Wirkungsbreite und -tiefe noch kaum überschaut werden können. Die internationale Dimension der Arbeitsmärkte legt nahe, dass die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht nur von den nationalen institutionalisierten Interessenvertretungen wahrgenommen werden können, sondern dass internationale Institutionen eine wichtige Rolle spielen.

Die zunehmende Heterogenität der Arbeitskräfte legt nahe, dass neue Gruppierungen in einen kollektiven Verhandlungsprozess aufzunehmen sind. Hier und da gibt es Anzeichen dafür, dass sich neue Interessengruppen zu organisieren beginnen (die Arbeitslosen in Frankreich, zaghaft auch in Österreich und Deutschland), ähnlich den Institutionen der Zivilgesellschaft (NGOs), die eine wichtige Ergänzung in politischen Entscheidungsprozessen geworden sind.

Erst wenn die neuen Interessengruppen identifiziert sind und ihnen ein adäquater Raum in gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen eingeräumt wird, ist zu erwarten, dass es in einem demokratischen Prozess zu einem gesellschaftlichen Konsens über die Zukunftsorientierung unseres Gesellschaftssystems kommt, in dem die Wohlfahrt aller unter den neuen Rahmenbedingungen wieder sichergestellt ist.

Die Autorin ist Wirtschaftsforscherin am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO).

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