Die Stellvertreter

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Ohne Sozialpartner geht in Österreich nur wenig. Machen sie das Land zur "Insel der Seligen" oder stehen sie für Parteibuch und Stillstand?

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Ohne Sozialpartner geht in Österreich nur wenig. Machen sie das Land zur "Insel der Seligen" oder stehen sie für Parteibuch und Stillstand?

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In den 1970er-Jahren, als ich als Wissenschaftler auch im Ausland zu arbeiten begann, hatte Österreich einen seltsamen Ruf. Wir galten als wenig streitbar, harmoniesüchtig und zögerlich. Die große Geste war nicht unser Stil. Auch in Länderstatistiken wurde Österreich als kleines Männchen mit Lederhose und Trachtenhut abgebildet. Diese unserem Land zugeschriebenen Mentalitäten sind natürlich gesellschaftliche Anpassungen an politische, wirtschaftliche oder kulturelle Rahmenbedingungen. So machte auch, wenn man etwa die letzten 100 Jahre überschaut, Österreich unterschiedliche Phasen von extrovertierter, lauter, ja explosiver politischer Kultur abwechselnd mit stillem Rückzugsverhalten aus dem öffentlichen Diskurs durch.

Das ist durchaus erklärbar: Nach den turbulenten Jahren der Ersten Republik mit einer Politik, die vom Gründungstag an auch - und wesentlich - auf der Straße gemacht wurde, nach den vielen Menschen, die 1927 und vor allem 1934 tot am Asphalt lagen, nach den eingeforderten öffentlichen Bekenntnissen mit Fahnen, Abzeichen und Uniformen in der Nazizeit machte sich nach 1945 der Wunsch nach einem Rückzug ins Private nur allzu verständlich breit.

Dazu bot sich für Österreich eine Option an, die historisch und geopolitisch hervorragende Anknüpfungspunkte bereitstellte. Historisch, da sich schon seit 1848 Strukturen herausgebildet hatten, die neben der politischen Mitsprache auch wirtschaftlich-ständische Interessensvertretungen als Konfliktlösungsinstrumente mit delegiertem Aufgabenbereich kannten. Als Errungenschaft der gescheiterten bürgerlichen Revolution bleiben die Handelskammern mit ihrer Pflichtmitgliedschaft, und nach dem Börsenkrach von 1873 wurden für die Kammer sogar zwei Sitze im Reichsrat reserviert, die "Urzelle" des Kammerstaats.

Auch die Arbeiterschaft hatte 1848 an die Tür der politischen Mitsprache geklopft, wenn auch noch vergebens. Trotz des österreichischen Hangs zum Ausgleich der Gegensätze sollte es sieben Jahrzehnte dauern, bis endlich Waffengleichheit zwischen sozialen Gruppen herrschte.

Der Druck der Straße

Als letztes der großen Gesetze zur sozialen Frage, die Ferdinand Hanusch in den ersten Jahren der jungen Republik auch mit dem Druck der Straße durchbringen konnte, wurden die Arbeiterkammern Realität. Sie hatten wohl auch die Funktion, die revolutionären Arbeiterräte in ein demokratisches Repräsentationssystem einzubinden. 1921 wurden Arbeiterkammern und Unternehmerkammern gesetzlich gleichgestellt. Sie hatten ein Begutachtungsrecht bei allen Gesetzesentwürfen.

Nach der Entmachtung der Linken wurde 1934 die Arbeiterkammer mit Vertrauensleuten des Ständestaates besetzt. 1938 wurde sie in die Deutsche Arbeitsfront eingegliedert.

Trotz (oder vielleicht sogar wegen) dieser radikalen Unterbrechung wurden Arbeiter-und Unternehmerkammern 1945 rasch zu Stützen der neuen Republik. Dazu verhalf auch die geopolitische Lage Österreichs: schon in der Zeit zwischen den Weltkriegen war unser Land ein Teil von "Zwischeneuropa", der Pufferzone zwischen den europäischen Großmächten und des cordon sanitaire gegenüber dem revolutionären Russland. 1945 war dieses "Zwischeneuropa" geschrumpft, aber von Finnland bis zur Adria hielten einige Positionen eines "dritten Weges" zwischen Kommunismus und ungehinderter Marktwirtschaft. Trotz der prinzipiellen Grundhaltung für den Westen waren in Österreich ökonomische und soziale Lenkungsinstrumente auf staatlicher Ebene ein Gebot der Stunde.

Die Entstehungsgeschichte der Sozialpartnerschaft ist vielfach beschrieben. Sie verlagerte den Klassenkampf, der ja oft heftig und sogar blutig ausgetragen wurde, von der Straße an den sogenannten "grünen Tisch", reduzierte Zahl und Dauer von Streiks dramatisch, sorgte für sozialen Ausgleich und ließ, sieht man vom September/Oktober 1950 ab, wenig politische Instrumentalisierung der sozialen Differenzen zu.

So wurde sie zum soliden Fundament des österreichischen Wegs, des kontrollierten, aber doch stetigen wirtschaftlichen Aufstieg in den Folgejahrzehnten, der relativ gerechten Verteilung der Zuwächse und der Rückzugsmöglichkeit breiter Bevölkerungskreise ins Private. Politische Anteilnahme war zwar weiter nötig, wenn es um Wohnungen, Posten oder die Karriere ging, aber in der versäulten Republik lief dies jeweils innerhalb der eigenen Lagergrenzen ab, Konflikte, ja sogar soziale Kontakte zu den jeweils "anderen" waren vermeidbar.

Unsere vier Sozialpartner (Österreichischer Gewerkschaftsbund, Arbeiterkammer, Wirtschaftskammer und Landwirtschaftskammer) hatten in den Jahren der Großen Koalition bis 1966 in enger Abstimmung mit den beiden Regierungsparteien ÖVP und SPÖ nicht nur den sozialen Frieden im Land und den wachsenden Wohlstand garantiert, sondern wohl auch zu einer Aufteilung von Macht und Einfluss zwischen den beiden politischen Lagern beigetragen. Da blieb wenig Luft für alternative Konzepte des politisch ja belasteten dritten Lagers oder für neue Positionen. Selbst in der Phase der Alleinregierungen ab 1966 hielt durch die Sozialpartnerschaft der angestrebte gesellschaftliche Ausgleich aufrecht, neue Machtverhältnisse im Parlament wurden bewusst durch die Interessensvertretungen ausgeglichen.

Mitgliedschaft als Lebensversicherung

Deren Ordnungsvorgaben wurden akzeptiert, manchmal aber auch subtil unterlaufen. Da kam es schon vor, dass eine Organisation - im mir bekannten Fall eine Lehrergewerkschaft - regional mehr Mitglieder verzeichnete als sie Stimmen bei Wahlen hatte. Ein richtiges Mitgliedsbuch war eine Art Lebens- oder zumindest Jobversicherung.

All das bewirkte, dass die Sozialpartnerschaft, deren Verdienste unbestritten sind, zunehmend in die Kritik geriet. Sie verhindere die Entfaltung von zivilgesellschaftlichem Engagement, sie verhindere Veränderung, sie grenze Neues und Alternatives aus und sie verteidige Besitzstände gegen Herausforderungen von ökologischer oder humanitärer Seite.

Ein erstes Signal war Zwentendorf. Als Projekt der Regierung Klaus von Kreisky übernommen und von den Bundesländern und Sozialpartnern mitgetragen, scheiterte das praktisch fertige Projekt 1978 in einer Volksabstimmung. Die Stellvertreterpolitik hatte ihre erste Abreibung durch eine bunte, völlig inhomogene Gruppierung von Kernkraftgegnern erhalten.Sechs Jahre später wurde in der Hainburger Au nachgelegt. Grüne, Linke und Rechte hielten die Baumaschinen auf und verhinderten die Umsetzung sozialpartnerschaftlich und politisch beschlossener Bauvorhaben. Die gewachsenen Strukturen der Zweiten Republik gerieten ins Wanken.

Überlebensfähig im 21. Jahrhundert

Aber die Sozialpartnerschaft erwies sich als überlebensfähig. Selbst als unter der Regierung von Wolfgang Schüssel die starke freiheitliche Gruppierung mit Nachdruck den Einfluss der Kammern und des ÖGB zurückdrängen wollte, selbst als die BAWAG als Gewerkschaftsbank zusammenbrach und sich wie schon der Konsum als Stütze der Gewerkschaftsbewegung in Luft auflöste, die Sozialpartner ziehen weiter ihre Fäden, und ohne sie geht in unserem Lande nur sehr wenig.

Das zeigen etwa die aktuellen Diskussionen um eine sechste Urlaubswoche für eine größere Gruppe von Arbeitnehmern als bisher. Das zeigen auch die Treffen beim jährlichen "Bad Ischler Dialog", bei dem es heuer um die Neuverteilung der Arbeit in der Folge der Digitalisierung ging. Es wird intern kontrovers diskutiert, ist aber einmal eine Einigung erzielt, wie könnte die Politik da noch standhalten?

Vieles von dem, was für Außenstehende das Bild von der "Insel der Seligen" geprägt hat, wurzelt in unserer Sozialpartnerschaft. Aber auch vieles von dem, was das Land oft bremst und unbeweglich macht, wächst aus derselben Wurzel. Die Sozialpartnerschaft ist Bollwerk gegen politischen Populismus und gegen die verkürzenden Lösungsvorschläge. Sie ist aber leider kein Fundament für eine engagierte Anteilnahme und für persönliches humanitäres Engagement. Sie wirkt bewahrend, nicht dynamisch verändernd. Klar, bei Veränderungen ist die Richtung offen. Die Sozialpartnerschaft begrenzt und gibt Sicherheit. Aber es gibt für manche von uns auch ein Leben jenseits sicherer Begrenzungen. Ein Vogel im Käfig wird täglich gefüttert und lebt sorgenfrei. Aber es gibt auch außerhalb des Käfigs eine bunte, vielfältige Welt, mit Chancen und natürlich auch Gefahren. Auch das könnte so manchem Vogel gefallen.

Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz

DIE FURCHE

6. Feb. 1971 Nr. 6

Bei jeder Lohnwelle lauert die Inflation

Die Umverteilung hat nicht stattgefunden

Von August Dobbeling

Man könnte die Faustregel ableiten, daß es dem Arbeitnehmer um so besser gehe, je reicher der Unternehmer würde. Hätten die Kapitalisten nur halb so gute Propagandisten und halb so viele willfährige Intellektuelle wie die Kommunisten, so gälte gewiß ihr wachsender Reichtum als im wohlverstandenen Allgemeininteresse gelegen; in der Arbeiterschaft würde eitel Jubel über jeden neuen Rolls-Royce herrschen, den sich der Chef anschafft. (...) So etwa hat die kommunistische "Volksstimme" aus der gleichen Statistik herausgelesen, daß in Streikjahren die Lohnquote am stärksten hinaufschnellte, womit für sie eindeutig bewiesen ist, daß nur Arbeitskämpfe (je härter, desto besser) die Umverteilung bewirken können. Solche Erfolge gehen aber in den Folgejahren immer sehr rasch und gründlich verloren, erst recht dann, wenn die Arbeitskämpfe, womöglich mit immer höheren Forderungen, jahrelang fortgesetzt werden; niemand leidet darunter mehr als der Arbeitnehmer, nichts ist besser geeignet, seinen Lebensstandard sinken zu lassen. Je unbescheidener die Forderungen der Arbeiter werden, um so weniger umverteilungswirksam sind sie, es sei denn um den Preis des wirtschaftlichen Zusammenbruches und der Verarmung der Unternehmer. Doch damit ist dem Arbeitnehmer am wenigsten gedient. (...) Es ist daher nicht bloß eine fromme Mär, daß meist bescheidene Lohnaufbesserungen realeinkommenswirksamer sind und noch eher umverteilungsmäßig "greifen" als hohe Sätze.

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