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Antwort eines „Verwaisten“

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Mit dem Aufsitz Prof. Dr. Burghardts „Die Verwaisten — Gedanken zur christlichen Arbeiterbewegung von heute“ — in der Osternummer der „Furche“ ist, wie das starke Echo der Veröffentlichung beweist, ein ernstes und brennendes Anliegen der katholischen Oeffentlichkeit zur Sprache gekommen. Im folgenden sei nach alter Gepflogenheit einem geachteten Volksvertreter und mutigen Verfechter der christlichen Belange in Kammer und Gewerkschaft das Wort zur Erwiderung gegeben; ihr fügen wir, aus der Feder eines langjährigen Weggenossen Leopold Kunschaks, eine Stellungnahme an, die sich rückhaltlos zur kritischen Darstellung Prof. Burghardts bekennt. Eine Fortsetzung der Diskussion wäre im Interesse der Sache wünschenswert. „Die Osterreichische Furche.“

In seinem Artikel „Die Verwaisten“ („Furche“ Nr. 14 vom 4. April 1953) findet Prof. Dr. Anton Burghardt feierliche Schlußakkorde zur österreichischen Trauerkantate um Leopold Kunschak. Diesem Ab-gesang fügt er ein seltsames Finale in düsterem Mollgrau an, indem er viele Schatten auf Entwicklung, Position und Werk der neuen, christlich orientierten Arbeiterbewegung und nur wenig Licht auf Zustände und ernstes Streben um Reformen gesellschaftlicher, damit auch ökonomischer Ordnung wirft. Ich möchte dem Verfasser nicht eine gute Hand dafür absprechen, wunde Stellen behutsam und freundschaftlich mahnend anzufassen. Ich bestreite auch nicht die Ernsthaftigkeit der im zweiten Teil des Aufsatzes gemachten Anregungen. Dafür werden ihm die Verwaisten Dank wissen. Manche Urteile aber erscheinen mir allzu bündig formuliert. Vermutlich will der Verfasser eine Konfrontation des „Gremiums der Nachfolger“ mit den Anhängern seines persönlichen Urteils über die christliche Arbeiterbewegung der Gegenwart erzwingen, indem er vielfach verneint, was greifbare Tatsache ist. Also Provokation. Darauf nun die Antwort im streitbar gehaltenen Diu.

Vorerst ein ernstes, freies Wort zur ehrwürdigen Person Kunschaks. Für uns war Kunschak der Vertreter eines seltenen, dennoch aber klassischen, in der Geschichte immer wieder auftauchenden Typus: des Politikers, der rein und unbefangen, gleichsam mit statischer Leidenschaft Politik macht, wo immer er hineingeboren oder hineingestellt wird. Weder Jugend noch Alter konnten diese Leidenschaft steigern oder trüben. Kunschak war ein Mann mit den Tugenden des vollen runden Maßes, des hohen Starkmutes, der stets flammenden Vaterlandsliebe. Ob aber Kunschak, reich an hohen Mannestugenden, gleichzeitig das Gefäß eines in ihm nicht geborenen politischen Programms, schon „Sinnbild der Erweckung und Verwirklichung christlichen Gedankengutes unter den Arbeitern bis an sein Lebensende war“, möchte ich — man verzeihe mir die Kühnheit — im Interesse des Verewigten selbst und der sozialgeschiohtlichen Wahrheit bestreiten. Kunschak hatte am sozialen Aufstieg bedeutenden Anteil; Anteile hatten aber neben ihm auch andere Männer in Studierstube und Oeffentlichkeit, aus seinem Stand und aus arideren Kreisen. Kunschak war das leuchtende Gestirn in der Tagespolitik. Der Sozialpolitik im klassischen Sinne verschrieb er sich nur in der ersten Hälfte seines Lebens. Sich in der zweiten Hälfte dann den christlichen Sozialreformern anzuschließen, vermochte er nicht. Seinem Wesen entsprach solche Gefolgschaft nicht. Er gehörte zweifellos zu den letzten Vertretern einer christlichen Arbeiterbewegung im klassischen Sinne. Aber Burghardt sagt doch selbst, daß diese Bewegung schon im Jahre 1933 ihre große Zeit hinter sich hatte. Und diese klassische und die moderne (auch sozialistische) Arbeiterbewegung sind nun einmal voneinander durch lange Zäsur getrennt, wodurch Brüche mit der Tradition fast selbstverständlich sind.

Und nun: Die Kräfte einer neuen Bewegung mußten 1945, vielerorts isoliert von Kirche, alten Ideengemeinschaften und Freunden, mit Hilfe neuer Leute aus anderen Lagern, gesammelt und rasch eingesetzt werden. Burghardt sagt dazu: „Das, was man heute geradezu versehentlich christliche Arbeiterbewegung nennt, wurde 1945 gleichsam eingesetzt, von oben geschaffen: ist also ohne Kampf geworden.“ Ich frage verwundert, ja erschüttert: Ohne Kampf? Nach einem Kampf, den alle bösen Geister gegen die Menschheit führten, der namenloses Leid brachte, hätte die Arbeiterschaft, insbesondere die christliche, kaum zusammengeführt, wiederum kämpfen sollen? 1945 — gegen wen, worum? Damals segneten wir jede demokratisch errichtete Autorität, wenn sie im allgemeinen Hungerzustand uns das ordnende Denken abnahm. Jeder Organisator, der etwas Fleiß bewies, hatte damals Glück, und so entstand eine neue Arbeiterorganisation unter bewußtem Verzicht auf die Beifügung christlich. So entstand auch der Einheitsgewerkschaftsbund, weil es klüger schien, eine geschlossene Arbeitnehmergruppe einer geschlossenen Arbeitgebergruppe gegenüberzustellen. Der Verzicht auf die Betonung des Christlichen ist längst wettgemacht durch die klare, konzentrierte und auch konkrete Ausformung der Ziele, durch den Sauerteig unseres Wirkens, das sich wie ein Bogen vom Betriebsrätegesetz und seinen bisher leider schwach genützten Möglichkeiten der Mitbestimmung bis zum gegenwärtigen Kampf um die gerechte Einkommenstreuung (derzeitige Phase: Familienausgleichskassen) spannt. Der böse Streit zwischen München-Gladbachisten und den Sozialromantikern ist beendet und das Janusgesicht der „klassischen“ Arbeiterbewegung ist abgelegt.

Eine Krisis der neuen Arbeiterbewegung? Von zeitlich bedingten, kleinen Erschütterungen abgesehen, kann man von einer Krisis nicht sprechen. Außerdem: Kann etwas in einer Krisis sein, wenn „es so gut wie nicht existiert“? Burghardt behauptet, „wir stehen jetzt da, wo man 1891 gestanden ist, am Anfang“. Wohl ist diese Bewegung nicht endgültig formiert, sie hat Zulauf und muß unentwegt Spreu vom Weizen trennen; noch ist sie nicht in den entscheidenden Kampf getreten. Aber tausende ihrer Anhänger wissen genau, worum es gehen wird. Der Verfasser beklagt an ihr — obwohl er sie kaum existieren läßt — das Fehlen einer „innigen, gleichsam nahtlosen Verbindung von katholischer Soziallehre und politisch-sozialer Aktion“. Zugegeben, diese Verbindung ist noch nicht innig, aber es hat niemals eine bessere Verbindung zwischen Aktion und Soziallehre gegeben als heute. Man soll doch nicht die fünf Jahrzehnte (1880 bis 1930) der Sozialpolitik, in denen erst die Grundlagen für ein tugendhaftes Leben im Rahmen einer vollständig veränderten Wirtschaft geschaffen wurden, verwechseln mit den folgenden Jahrzehnten der schrittweise einsetzenden Sozial r e f o r m. Die Sozialpolitik auf katholischer Seite begann ohne feste Form einer katholischen Soziallehre; sie entsprang dem naturrechtlichen Denken der Kreise um Bischof Ketteier und Vogelsang. Der Kampf um die Koalitionsfreiheit, um das Wahlrecht, um Achtstundentag und Sozialversicherung usw. war kirchlicherseits vielfach gedeckte Sozialpolitik. Er wurde unterstützt und gewaltig fortgeführt vom klassen- und kulturkämpferischen Führungsstab des glaubenslos gewordenen Proletariats, nicht aber von der bürgerlichen Welt. Der erste Versuch einer „innigen, nahtlosen Verbindung“ zwischen kirchlicher Lehre und öffentlicher Praxis mißlang. Dieser Schritt war von „oben“ getan worden. Der Bau sollte beim Dach beginnen. Das war nach der Epoche der Sozialpolitik der mißglückte Start einer S o z i a 1 r e f o r m. Ist daher Vorsicht und Zögern der „Nachfolger“ und Neuen nicht begreiflich? Für Oesterreich müßte es auch begreiflich sein, wenn trotz der eifrigen und kühnen Mahnungen des allerhöchsten Lehrers der Kirche zur Reform der Gesellschaft ein Echo bei der lehrenden Kirche vorläufig noch aussetzt. Doch deuten die Ergebnisse des Katholikentages 1952 den kommenden Durchbruch bereits an.

Man verstehe nicht, heißt es bei Prof. Burghardt weiter, die Massen anzusprechen. Wohl gebe es Funktionäre, die es verstehen, einen Apparat zu beherrschen, aber repräsentativ seien sie nicht usw. Wiederum muß man ,sol-cher Meinung Dr. Burghardts entgegentreten. Wenn er das geistige Niveau der Kritisierten meint, dann möge er, wo immer er recht hat, die Schuld dort suchen, wo ein „höheres Niveau“ der vergrämten Intellektuellen nutzlos verkümmert. Wer jetzt freiwillig Abstinenz von der Politik übt, statt sich mitzu-schinden, mitzusorgen wie der minderbegabte und mindergebildete Funktionär im Dienste der Oeffentlichkeit dies tut, z. B. als Fürsorgerat, Bezirksrat, Parteifunktionär oder gewerkschaftlicher Vertrauensmann, wird einst, falls er sich dann entschließt, mitzuarbeiten, hören müssen: Besetzt!

Die Interessenvertretung von nichtmarxistischen Beamten bezeichnet der Verfasser im Rahmen seiner Betrachtungen als Kernschicht (in der für ihn fast nicht existierenden Arbeiterbewegung), die sich zumeist nur bis zur Pragmatisierung aktiv verhält. Parasitäre Erscheinungen gab es immer und überall. Davor kann sich keine Bewegung gründlich abschirmen. Aber warum sollen Bewegung und Interessenvertretung nicht ineinander verzahnt gemeinsam wirken? Kernschichten gab es überhaupt nicht, gewiß aber starke und schwache Schichten. Für alle diese gilt der Grundsatz und die Praxis: Die Weltanschauung eint uns und der Kampf um Vorteile einzelner Interessengruppen trennt uns nicht. So kämpft die neue Bewegung auch für die kleinste Schicht. Ein einflußmäßiges Ueber-gewicht ist auch von stärkeren Gruppen, sogar von den Beamten, niemals gefordert vorden.

Uebrigens, wann hat jemals eine christliche Arbeiterbewegung „Massen“ ansprechen dürfen? Das Maximum der christlichen Gewerkschaften lag bei einem Mitgliederstand von etwa 120.000, der Durchschnitt bei 80.000. Heute darf man mit aller Vorsicht 15 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Angestellten als christlich orientiert bezeichnen (Schätzung nach den Arbeiterkammerwahlen 1949). Es gibt 1,300.000 Organisierte von 1,900.000 Beschäftigten. Das ergibt 200.000 christlich Orientierte. Wenn man jedem von ihnen einen wahlberechtigten Angehörigen zuzählt, was 400.000 ausmacht, wenn man ferner etwa 200.000 Unorganisierte aus den Kreisen der Rentner, Pensionisten, Landarbeiter, freien Berufe, Frauen im Haushalt und anderen Berufen anfügt, ergibt dies 600.000 Wähler, die der bündisch gegliederten OeVP ihre Stimme gaben in der Hoffnung auf die Verwirklichung durchgreifender Reformpläne im katholischen Sinne. 600.C00 Wähler sind ein Drittel aller OeVP-Wähler oder ein Siebentel aller Wahlberechtigten Oesterreichs. Das ist vielleicht soviel, daß man von Massen sprechen kann. Aber diese Menschen gehören kaum zur Masse, die man zusammenrufen kann, um sie anzusprechen. Einwandfrei sind von 600.000 Genannten 140.000, also 23 Prozent, beim Oesterrsichi-schen Arbeiter- und Angestelltenbund politisch organisiert. Das als Antwort auf Dr. Burghardts Amputationsversuch.

Zahlen beweisen nicht alles, wird man sagen, Aktionen sagen mehr. Richtig. Es ist schmerzlich, zugeben zu müssen, daß es mehr Unterlassungen gab als Aktionen. Dennoch, in den Zahlen stecken Aktionen. Wenngleich von „oben“ gegründet, hat die neue Organisation ihre Mitglieder in der freien Luft der Demokratie erst sammeln müssen. Man gehe einmal auf Mitgliederwerbung — da ist v i e 1 Aktion notwendig! Mühselige Schulungsarbeit, politische Exerzitien, Versammlungen, Kundgebungen, Diskussionen sind Kleinaktionen, die erst eines Tages große Aktionen ei möglichen. Aber schon jetzt: Ein bedeutender, leider unbedankter Erfolg der neuen christlichen Arbeiterbewegung war der bis zur Stunde anhaltende, mühselig im Lauf gehaltene Klassenausgleich zwischen den Klassenkampfverteidigern auf der sozialistischen Seite und den Klassenkampfschuldigcn im bürgerlichen Lager. Vielleicht hat sich hier das Erbe Kunschaks in reinster Weise erhalten. Der soziale Friede ist nicht, wie fälschlich und verächtlich oft behauptet wird, der Tatsache einer vierfachen Besetzung zuzuschreiben, sondern dem stillen und zähen Kampf einiger Dutzend „wenig repräsentativer Funktionäre“ der christlichen Arbeiter. Wie dies geschieht, ist schwer zu schildern. Ein unzählbares Hin und Her in Meinungen und Weisungen, ein nervenzerstörendes Reiben verschiedener Richtungen in allen Lagern, ein ständiger Verzicht auf sichtbare Erfolgsanerkennung, ein Verzicht auf die geballte, rohe Kraft der Straße, ein unvorstellbarer Einsatz der persönlichen Ehre und des guten Gewissens, das sind die Preise für den sozialen Frieden in Oesterreich, die von den Arbeiterführern auf beiden Seiten täglich gezählt werden müssen. Dazu trugen die 22 Abgeordneten im Parlament und hunderte in den Landtagen und Gemeindestuben als Vertreter der christlichen Arbeiterschaft, als ihren Tribut des „gelähmten linken Flügels“, redlich bei. Von einer gutmütigen Zuweisung reservater Bereiche, jenseits von links und rechts, kann daher keine Rede sein. Die Gutmütigkeit hat in der Politik keinen Platz.

Zum Schluß sei dem Verfasser „Der Verwaisten“ Dank gesagt. Ein gutes Pferd verträgt dann und wann die mahnende Peitsche zwischen den Ohren.

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