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Kongreß der bitteren Notwendigkeit

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Die Frage des Wie der Sozialreform hat die deutschen christlichen Arbeitnehmerverbände ebenso gespalten wie die Stellungnahme katholischer Kreise zum Deutschen Gewerkschaftsbund. Angesichts dessen, was sich an gegenseitigen Beschuldigungen und auch schon Beleidigungen von Menschen zeigt, die dem gleichen Glauben verpflichtet sein wollen, kann man zumindest heute kaum mehr von einer einheitlichen Front der christlichen Arbeiter sprechen. Die Entwicklung des deutschen Wahlkampfes 1957, der südamerikanische Formen anzunehmen scheint, beschleunigt die Tendenzen zur Bildung von christlichen Flügeln und Abweichungen. So hat man auf dem Gewerkschaftssektor bereits drei offizielle christliche Institutionen und eine Vielfalt von Meinungen. Daher können sich schließlich nur mehr Spezialisten ein Urteil über die Bedeutung dieser oder jener Kundgebung und Meinungsäußerung bilden.

In dieser Situation versuchen nun alte christliche Arbeiterführer einen „Arbeiterkongreß" zustande zu bringen. Der Sinn des „Christlich-sozialen Arbeiterkongresses", der von den Repräsentanten aller christlichen Arbeitnehmerorganisationen (ausgenommen die gewerkschaftlich engagierten) getragen werden soll, ist der, endlich die unterschiedlichen Meinungen auf eine allgemeine und alle verpflichtende Formel zu bringen. Ob der Versuch gelingen wird, muß bezweifelt werden, schon deswegen, weil auch die Parteipolitik in den Arbeiterkongreß hinein spielen wird: die fast nur auf die Außenpolitik gerichtete CDU, die merkwürdige Bindungen eingehenden Reste des Zentrums, die eigentlich nur mehr so etwas wie ein katholischer Flügel der SPD sein wollen, die Auseinandersetzungen an der Saar mit neonazistischen Elementen im Hintergrund.

Trotz der scheinbaren politischen Vormacht der Christen in der Bundesrepublik befindet sich alles, was christlich ist, heute im deutschen Raum in der Verteidigung. Die Politiker der CDU verstanden es nicht, die Gedanken ihrer Partei im Bereich der Kultur und in der industriellen Arbeitswelt durchzusetzen. Die neue Konsumgesellschaft und die Last des Wirtschaftswunders haben zu einem Abbau der geistigen und, wie uns Ziffern sagen, auch der religiösen Substanz geführt. Auch die Massenpresse und der Rundfunk sind fast durchweg im anderen Lager. So ist das Groteske entstanden, daß eine Partei, die nach Mandaten die Mehrheit des bundesdeutschen Volkes zu repräsentieren vermochte, vom ersten Tag ihrer faktischen Alleinregierung an in der Verteidigung stand, einfach deswegen, weil ihre Führer mit der gewonnenen Macht im Inland nichts anzufangen wußten. Vor allem wurde die große Chance, die SPD als Folge der Verbürgerlichung der Arbeiterschaft zu beerben, in keiner Weise genützt. Im Gegenteil. Noch nie waren so wenige Arbeitnehmer dem christlichen Gedanken bis hinein in den Raum der Politik verbunden wie in diesen Tagen. Darüber dürfen uns auch die großen Worte der Parteiführer nicht hinweg- täüschen. Die Verkümmerung des Christlich- Sozialen hinsichtlich seiner Massenwirkung zeigt sich nicht allein im politischen Alltag, sondern auch im Leben jener Organisationen, die der unmittelbaren Parteipolitik fernstehen, etwa bei der Katholischen Arbeiterbewegung. Auch das anfängliche Versagen der christlichen Gewerkschaften war nur ein Anzeiger dafür, daß in keiner Weise mehr jenes Reservoir an christlichen Arbeitnehmern vorhanden ist wie etwa vor 1933, ja nicht einmal wie nach 1945.

Daher der Arbeiterkongreß, der ein Kongreß der bitter notwendigen Einigung sein soll. Freilich wird man das jetzt schon fixierte Programm kaum einhalten können, findet doch der Kongreß nach den Septemberwahlen statt, deren Ergebnis, wenn nicht alle Anzeichen trügen, die Struktur der politischen Führung der Bundesrepublik erheblich ändern wird, wobei an einen „Umsturz" gar nicht gedacht werden soll, an ein Arrangement der nationalliberalen, großbürgerlichen Kräfte mit der SPD, das bereits mit Hilfe liberal-christlicher Politiker in Nordrhein-Westfalen und in Bayern geschaffen wurde und Aussicht auf ein langes Fortbestehen hat.

Auch wir in Oesterreich hatten einmal unseren Arbeiterkongreß, den „1. Christlichen A r b e i t e r k o n g r e ß“, vom 21. bis 23. September 1918. Zum letztenmal sahen sich in den Septembertagen 1918, wenige Wochen vor dem großen Zusammenbruch, die Vertreter christlicher Arbeitnehmer des Reiches,

die deutschen Oesterreicher, die Vertreter aus Mähren, aus Böhmen, insgesamt 302 Delegierte, die nicht weniger als sechs politische Organisationen, 68 Arbeitervereine, 27 Arbeiterinnenvereine, 79 Gewerkschaftsgruppen und.20 Gesellenvereine vertraten.

Glanzvolle Namen standen auf der Rednerliste, der große Führer christlicher Gewerk schafter, Franz Spalowsky, Frau Dr. Burjan, Leopold Kunschak (der präsidierte), Prinz Liechtenstein, Minister Mataja, Pater Biederlack.

Wenn wir heute das Nebeneinander der christlichen Arbeitnehmergruppen in Oesterreich betrachten, die Stellung etwa des OeAAB oder der Fraktion christlicher Gewerkschafter, die Tatsache, daß die katholische Arbeiterbewegung erst in den Anfängen steht (und dies schon seit Jahren), wenn wir weiter beachten, wieviel, und dazu ohne Nötigung, an christlichen Positionen im politischen Vorfeld aufgegeben wurde, können wir kaum sagen, daß wir heute weiter sind als 1918. Auch in unserem Land, dessen Bewohner es sich angelegen sein lassen, die politischen Gegensätze, von Episoden abgesehen, in einer gewissen Liebenswürdigkeit auszutragen, wäre es notwendig, eine Koordination der christlichen Kräfte im sozialen Bereich zu erwägen und so etwas wie die Abhaltung eines „Arbeiterkongresses“ in Erwägung zu ziehen.

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