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Randbemerkungen zur woche

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DIE TAGUNG DES EXEKUTIVKOMITEES DES LUTHERISCHEN WELTBUNDES fand dieses Jahr in Wien statt: die Wahl der österreichischen Hauptstadt als Tagungsort war in mehrfacher Weise sinnvoll. Lange vergangen sind die Tage, in denen Wiens Bevölkerung zu einem Großteil lutherisch war, im Stephansdom protestantische Prädikanten predigten und eine Kaiserstochter zur Sühne für die Ermordung der französischen Protestanten in der Bartholomäusnacht jenes Kloster stiftete, das seit Joseph IL zur Stadtpfarrkirche der Wiener Lutheraner wurde: hier, in der Dorotheergasse, predigte denn auch der Präsident des Weltbundes, Dr. Lilje, der Landesbischof von Hannover, weit über die Grenzen seines Landes hinaus bekannt als ein hervorragender Publizist, nun ein Weltreisender, rastlos besorgt um die großen und schwierigen Aufgaben, die sich dem Lutherischen Weltbund heute besonders bei den farbigen Völkern und - in den erwachenden Kontinenten stellen. Vor wenigen Jahrzehnten noch war das Luthertum außerhalb Deutschlands überwiegend eine Sache deutscher Volksgruppen in anderen Ländern, von Auswanderern oder zumindest von Deutschen geführt. Heute bekunden die lutherischen Landeskirchen in Afrika, Asien, Südamerika ein kräftiges nationales Leben und den Willen, in jeder Weise eigenständig zu sein. Hier ergeben sich schwierige Probleme: ein heißer Nationalismus hat die Intelligenzschichten erfaßt, aus den Missionsschulen gehen Menschen hervor, die sich nicht selten von dem „fremden“ Glaubensgut lossagen. Dieser Drang nach Unabhängigkeit, verbunden mit Animositäten gegen die europäischen Lehrer und Missionäre, stellt auch für die katholischen Missionen eine Lebensfrage dar-, es ist an der Zeit, die Erfahrungen der Protestanten auch für die katholische Mission sorgfältig auszuwerten. Neben den Fragen der Weltmission nahm auf der Wiener Arbeitstagung einen besonderen, wichtigen Raum die Lage der lutherischen Landeskirche in den Staaten hinter dem Eisernen Vorhang ein. Führende Kirchenmänner aus Polen, der Tschechoslowakei, aus Ungarn. Rumänien und Jugoslawien berichteten von Leben, Lehre, Arbeit und Wachstum ihrer Gemeinden, theologischen Akademien, Seminare. Was auf dem Großen deutschen lutherischen Kirchentag in Leipzig im Vorjahr sichtbar wurde, kam nunmehr in Wien wieder zum Ausdruck: das Luthertum kennt keinen Eisernen Vorhang, das heißt: es bekennt ihn nicht als eine Trennung, es versucht, ihn mit den großen Tugenden des klassischen Luthertums zu überwinden: mit dem Ertragen jeder Obrigkeit, mit großer Geduld, durch das Aufsichnehmen des Kreuzes, das Staaten und Völker ihm auferlegen. Es hatte etwas Ergreifendes an sich, in die Gesichter der Männer aus den Oststaaten zu sehen; ein Greis, wie Bischof Kotuta aus Warschau, war in seinem Leben durch Verfolgungen mannigfacher Art gegangen; es ziemt dem europäischen Katholiken heute, hier nachdenklich zu werden: Lutheraner inmitten starker katholischer Landeskirchen sind oft Jahrhunderte hindurch als Minderheiten durch Pressungen gegangen, die es ihnen heute erleichtern, die Last des Tages in den volksdemokratischen Regimen zu ertragen ... — Für Wien und Oesterreich hatte diese Tagung eine besondere Bedeutung: die lutherischen Kirchenmänner aus den Nachfolgestaaten und dem Südosten fühlten sich in Wien „daheim“, „zu Hause“: wie beschämend, wie beglückend ist das für uns heutige Kleinösterreicher, die wir allzuoft uns nicht zu unserer Verpflichtung, zu unserer friedlichen Mission in Südosteuropa, in „Zwischeneuropa“ von Krakau bis zum Schwarzen Meer, zu bekennen' wagen. Das ist der österreichische und gut katholische Sinn dieser Wiener Tagung des lutherischen Weltbundes im Februar 2955. Er scheint von den führenden Männern in Kirche und Staat erkannt worden zu sein: der Kardinal von Wien empfing die Mitglieder des Exekutivkomitees, der Bundespräsident, der Bundeskanzler, der Vizekanzler, der Unterrichtsminister und andere Mitglieder der Regierung nahmen an Festveranstaltungen teil, die den Abschluß der Arbeitstagung bildeten.

DEN DRINGENDEN APPELL AN DIE PREISDISZIPLIN DER WIRTSCHAFT, den der Bundeskanzler kürzlich in einer, wie er selbst betonte, ernsten Situation aussprach, lenkte (wieder einmal) die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung des Lohn-und Preisgefüges. Es ist eine, den jeweiligen Umständen angepaßte, verhohlene oder unbekümmerte Bewegung, bei der Stopplichter, wie jene des Milch-und Brotpreises, nicht über die allgemeine Lage täuschen können. So erhöhten — einige Beispiele stehen für viele — die Friseure einer bestimmten Ortsklasse die Preise für Rasieren von 3.50 auf 4.50 Schilling (rund 28 Prozent) und Haarschneiden von 5.50 auf 7 Schilling und führten Lohnforderungen als Begründung an. Das gleiche taten die Gärtner mit der sich daraus notwendig entwickelnden Lawine zum Endverbraucher. Gerade die einfachsten Sorten wurden empfindlich hinaufgeschraubt. Weißkraut, das 1954 durchschnittlich mit 1.30 je Kilogramm notierte, kostet jetzt 3.20 (plus 146 Prozent)-, Sauerkraut war im Vorjahre um 2.60 erhältlich, heuer verlangt man dafür 4.S0; Erdäpfel konnte man 1954 um 60 bis 70 Groschen je Kilogramm haben, heuer verlangt man dafür einen Schilling bis 1.20. Kann man bescheidener sein, als Kraut und Erdäpfel essen? (Daher sei von den Schnitzeln, die vor Jahresfrist 20 bis 22 Schilling und jetzt 24 bis 26 Schilling notieren, nicht besonders die Rede.) Dem Papier entgegnete der Handelsminister ein entschlossenes „Nein!“ und drohte mit handelspolitischen Repressalien im Falle einer Preissteigerung. Das hindert den Kleinverkauf aber keineswegs, ein ebenso entschlossenes „Ja!“ bei dem Maschinenschreibpapier entgegenzusetzen und den Bogen von acht auf em Groschen zu verteuern. Wem bei solchen Praktiken kalt über den Rücken läuft, dem wird nicht wärmer, wenn er den Preis des Kühleises (für jene Kleinen, die keinen Eisschrank besitzen) von 3.60 auf 4 Schilling erhöht sieht. Es mutet wie eine Satire an, daß ministerielle Kollegen des Kanzlers (Preiskommission des Innenministeriums) die Erhöhung des Preises für inländisches Rohzink von 6500 auf 7100 Schilling, für Kupferkathoden von 20.000 auf 22.100 Schilling billigten, ohne billig zu sein — was selbstverständlich auch die Altwarenmärkte zu einem „Nachziehverfahren“ veranlaßt. Die Liste könnte fortgesetzt werden ...

UNTER DEM TITEL: „Kurze GescUtckte Oesterreichs“ ist vor sechs Jahren im Wiener Globus-Verlag aus der Feder der kommunistischen Sachverständigen für Geschichtsschreibung, Frau Eva Priester, ein Buch erschienen. Dem zwielichtigen Produkt ist jetzt eine tschechische Uebertragung gefolgt, eingeleitet mit einem Vorwort, das der Auseinandersetzung gewidmet ist, daß „Oesterreich frei und glücklich sein, ja nur überhaupt dann existieren kann, wenn es eine Politik des Friedens betreibt“. Einverstanden. Doch die Autorin macht eine Einschränkung: vorausgesetzt, daß dies eine „Politik des Sowjetverbandes“ ist. Temperamentvoll lädt dann die kommunistische Geschichtsschreiberin die tschechoslowakischen Freunde „auf ewige Zeiten“ zu „aufrichtigster Freundschaft“ ein und legt ihnen nahe:

„Das Wort Oesterreich hat in eurem Land seit langem einen schlechten Klang und hat ihn mit Recht, weil unser Adel und unsere Bourgeoisie euer Volk, wann immer es sich zum Kampf für Freiheit erhoben hat, blutig unterdrückt (!) haben; und als unsere Arbeiterklasse auf der Bühne der Geschichte auftrat, ließ sie sich, anstatt sich an die Spitze des Freiheitskampfes aller unterdrückten Völker der Monarchie zu stellen, was ihre Pflicht gewesen wäre, durch verräterische Führer dazu verführen, untätig dieser Unterdrückung im Kerker der Völker der Habsburger-Monarchie zuzuschauen.“

Abgestandene Formeln aus überwundener Zeit? Papageiengeschwätz? Leider mehr: Muster kommunistischer Hetze über die Grenze hinüber gegen das eigene Land und den nachbarlichen Frieden, das Ganze eingehüllt in Schönrednerei wie in den Dunst einer Opiumhöhle.

DER GEISTIGE FÜHRER DES DEUTSCHEN GEWERKSCHAFTSBUNDES, Dr. Agartz, hat auf einer Kundgebung der Gewerkschaften in München jenen Unternehmern den Kampf angesagt, die Löhne und soziale Leistungen „außertariflich erhöhen, um ihre Belegschaften den Gewerkschaften zu entfremden“. Daß heißt nun nicht weniger, als daß die deutschen Gewerkschaften, wenn Agartz tatsächlich in ihrem Namen spricht, die Beibehaltung des sozialen Status quo wollen, damit ja nicht die Mitgliedsbeiträge gefährdet werden. Nun sind aber die Gewerkschaften nicht Selbstzweck, wenn sie auch aus der modernen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken sind. Ihre Aufgabe ist es, die Lage der Arbeiter verbessern zu helfen. Auch dann, wenn dies eine gefährliche Zufriedenheit herbeiführt und die Stellung der Gewerkschaften zeitweilig zu gefährden scheint. In der ganzen Sozialreform kommt es nicht so seht auf das Wie an, sondern auf den Effekt der jeweiligen Maßnahmen, der sich im erreichten Grad an Wohlfahrt bei den Arbeitern zeigt. Ob der Arbeiter auf Urlaub in einen Kurort gehen kann, weil es die Gewerkschaft ermöglicht hat, oder weil ein Unternehmer mehr getan hat, als ihm das Gesetz vorgeschrieben hat, ist im Prinzip der Arbeiterschaft ziemlich gleichgültig. Im Gegenteils wenn die Sozialreform auch von den Unternehmern mitgemacht wird und nicht jede Etappe im sozialen Fortschritt erst erkämpft werden muß, liegt dies doch im Wesen echter Sozialreform, die nicht eine Tyrannis durch eine andere ersetzen soll. Man möchte angesichts der Ablehnung so mancher sozial-reformatorischer Versuche gerade durch Gewerkschaftsfunktionäre oft meinen, daß ein Unternehmer, der noch die despotischen Manieren des Hochkapitalismus praktiziert, dem nur auf die Mitgliedsbeiträge bedachten Gewerkschaftsführer lieber ist ah der aufgeschlossene Unternehmer, der im Arbeiter nicht allein ein Objekt der Gewinnerzielung, sondern auch einen Mitmenschen sieht, dem man mehr vom Ertrag geben muß, als gerade abgezwungen werden kjinn. Erst beim sozialen Exzeß blüht der Weizen der Gewerkschaften, so meinen diejenigen unter den Gewerkschaftsfunktionären, denen die Vertretung der Interessen der Arbeiter nur ein Beruf wie jeder andere ist. Mehr nicht. Mit Recht schreibt die evangelische Wochenzeitung „Christ und Welt“, daß den beamteten Funktionär in der Gewerkschaft manchmal mit dem unsozialen Unternehmer eine Art Haßliebe verbindet. Der Generaldirektor Reuseh, dessen unverantwortliche und provokative Haltung den letzten Großstreik in Westdeutsehland ausgelöst hat, ist ebenso wie Dr. Agartz, der sich nicht vorstellen kann, daß Sozialreform auch ohne wilde Enteignung und Aufstand der Massen möglich ist, eine Figur aus dem Panoptikum der Sozialgeschichte. Auch Panoptikumsfiguren entsprechen Wirklichkeiten, aber stets geschichtlichen Der orthodoxe Unternehmer, dessen Blutdruck steigt, wenn er nur das Wort „Gewerkschaft“ hört, ist ebenso ein Reaktionär wie der Gewerkschaftsführer alten Stils, der. hinter jedem Unternehmer einen Ausbeuter sieht.

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