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Die Sehnsucht nach dem „Highlife“

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Beide Eindrücke sind symptomatisch. Die Ungarn, zumal die älteren, leben noch immer getreu ihrem Image, aber sie leben faktisch in einer Welt, in der nahezu nichts mehr normal funktioniert, und sie haben begonnen, zu resignieren. Es ist nicht ein politischer Druck, der etwa auf ihnen lastet — Kädär hat ja weitgehend verwirklichen können, was der glücklose Imre Nagy einst versprochen hat —, sondern es ist das durch und durch Unpraktische der sozialistischen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, das, weil das Unpraktische im elementarsten Sinn inhuman ist, die Menschen zu stumpfen Apparaten degenerieren läßt, oder, sofern sie der Neuen Klasse angehören, zu schamlosen Karrieristen umprägt.

Gerade bei einem Volk von Lebenskünstlern wird dieses von der politischen Diskussion ignorierte Kriterium des Sozialismus grell sichtbar: das Unmenschliche des Unpraktischen: die Verhinderung menschenwürdigen Lebens durch die Behinderung der Funktionen des Menschen in seinem beruflichen und privaten Alltag. So ist der Sozialismus geade für die Ungarn schon längst keine ideologische Plage mehr, sondern nur noch eine lebenstechnische: Man bekommt nahezu alles, was man so braucht, nur nicht immer dann, wann man es gerade braucht; und das gilt für Butter wie für Glühbirnen, für Strumpfhosen wie für Zeitungen. Der Ungar der siebziger Jahre kann jetzt auch ins luxuriöse Ausländerhotel „Royal“ gehen, wenn er die Zeit hat, auch dort schon eine halbe Stunde auf den Kellner zu warten. Er kann sich auf dem Land eine Eigentumswohnung kaufen — sogar mit 20 Prozent Rabatt pro Kind 4-, wenn es ihm nichts ausmacht, daß über dem Waschbecken kein Wasserhahn ist. Er kann seinen Urlaub preisgünstig in einem modernen Gewerkschaftsheim am Plattensee verbringen, wenn er die Anfahrt über eine Schlaglochstraße, wo völlig zu Recht die Höchstgeschwindigkeit mit fünf Stundenkilometern limitiert ist, nicht scheut; wenn es seine Ferienstimmung nicht trübt, daß ihn um 5 Uhr früh die infernalisch scheppernde Müllabfuhr weckt; wenn er gern schwimmen geht, obwohl er vom erquickenden Bad dann durch knöcheltiefen Staub ins Quartier zurückwaten muß.

Nicht wenige dieser Mängel rühren ganz einfach daher, daß im „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ so wenig wie möglich gearbeitet wird, und zwar nicht nur deshalb, „weil“ — wie es in einem diesbezüglichen Budapester Witz heißt — „in Ungarn die herrschende Klasse noch niemals gearbeitet hat“: Für einen Buben will man einen Spielzeugpanzer kaufen, und obwohl einer in der Auslage steht, beharrt die Verkäuferin darauf, daß sie keinen habe, sie will halt nicht diese paar Schritte und Handgriffe tun.

Produktion und Handel stagnieren auch deshalb, weil das sozialistische System immer mehr Funktionäre benötigt und diese Funktionäre derart begünstigt, daß jedermann lieber planen, verwalten und kontrollieren als produktiv arbeiten will: In schroffem Gegensatz zu dem dauernd zitierten Werktätigen hat man in den sogenannten „Schlüsselpositionen“ die Aussicht auf individuelles Gehalt, zusätzliche Gewinnbeteiligung und spezielle Prämien; man darf eine geräumige, natürlich gutbürgerlich eingerichtete Wohnung besitzen, man hat ein Auto und hat vielleicht auch ein Segelboot am Plattensee, eine Jagdhütte im Bakony, und umgekehrt hat man vergleichsweise wenig Probleme mit Paß und Devisen.

Natürlich sind das keine Kommunisten — in ganz Ungarn gibt es vermutlich nicht mehr so viele wie in den westdeutschen Universitäten und Redaktionsstuben. Im politischen Gespräch erzählen sie Witze, die ihrer Eindeutigkeit wegen allerdings meist in anderen Ostblockländern spielen, wie der von dem Rumänen, der täglich die Zeitung kauft, die erste Seite überfliegt und das Blatt dann ungelesen wegwirft und, deswegen befragt, zur Antwort gibt, er interessiere sich nur für die Todesanzeigen. „Aber die stehen ja nicht vorn, sondern hinten!“ — „Ach, wissen Sie, die ich suche, die steht ganz gewiß auf der Seite eins.“

Oder aber: Sie, diese politisch tätigen oder politisch interessierten Intellektuellen, plappern die von Moskau diktierten Phrasen so ostentativ nach, daß dem ausländischen Gesprächspartner die wahre Meinung nicht verborgen bleiben kann. Es ist Parodie durch Zitierung. Kädär, zwar edn Opfer Räkosis, aber auch der Verräter an Imre Nagy, hält sich diskret zurück; und mit ihm auch die Partei. Aufdringlich sind nur die von den Russen errichteten oder ihnen nachempfundenen architektonischen Scheußlichkeiten, und wie ein im Stil des Sozialistischen Realismus aufgeführtes Denkmal wirken auch die drei Uniformierten von Armee, Polizei und Miliz, die am Platz vor dem Parlament als Ehrenwache postiert sind: Man möchte hingehen und sie zwicken, um zu sehen, ob sie überhaupt leben oder nicht auch so tot sind wie das

System, das sie regungslos repräsentieren.

An den Kommunismus gemahnen eigentlich nur noch die zahlreichen ostzonalen Touristen, die auch bei flottester Tanzmusik im Strandcafe bleiben, wozu sie nun einmal verurteilt sind: ernste Deutsche.

Bei den Behörden benötigt man die Geduld eines Esels, gepaart mit dem Spürsinn des Jagdhundes: In dem von In- und Ausländern meistfrequentierten Urlaubsgebiet rund um den Plattensee dauerte es einen vollen (und damit für die Erholung verlorenen) Tag, die polizeiliche Meldestelle ausfindig zu machen und die Formalitäten zu erledigen.

Mit Charme und — das kann man nur wienerisch ausdrücken — „Schmäh“ geht man aber auch im heutigen Ungarn den Amtsweg ein bißchen weniger umwegig als vorgeschrieben, indessen: Als Österreicher trifft man dann leicht auf verwandte Seelen, und man vertut die gewonnene Zeit mit einem doppelt so langen Plauscherl etwa darüber, um wie viele (oder wenige) Ecken herum man ungarisch, beziehungsweise österreichisch versippt und verschwägert sei, bis zur Entdeckung beinahe intimer Verwandtschaft in Fleisch und Blut, auch wenn in der Schlange der Wartenden die Gesichter sich verfinstern.

Wirklich von Übel ist der Ostblocktourismus auf den Straßen: Da schleichen und kriechen fast ausschließlich Autos irgendwelcher volkseigener Fabrikation, die deshalb von Haus aus nicht eben viel taugen, durch volkseigenes Service zusätzlich geschädigt und durch volkseigenes Benzin in ihrer Leistung weiter gedrosselt werden. Zum Kampf gegen den Monopolkapitalismus gedrillt oder ganz buchstäblich vom Fortschrittsdrang beseelt, wetteifern nun die Lenker dieser technischen Kuriosa darin, einander im gehobenen Fußgängertempo zu überholen, und zwar vornehmlich bei Gegenverkehr auf Steigungen und in unübersichtlichen Kurven, so daß schon der schlichte deutsche Volkswagen, vom US-imperialistischen „Mustang“ ganz zu schweigen, alle paar hundert Meter im wahrsten Wortsinn in die Luft gehen möchte. Und zwischen den Notbremsungen meditiert man in seinem Volvo oder Rover darüber, warum wohl nirgendwo auf der Welt die Menschen im Straßenverkehr sich so asozial verhalten wie just in den sozialistischen Staaten.

Die streckenweise guten Straßen übrigens sind vielfach von Soldaten gebaut worden, die für 24 oder

36 Monate eingezogen werden, aber ein halbes Jahr Arbeitsdienst leisten. Die nach ihrem Krieg gegen die Russen Anno 1956 nur langsam wieder formierte Armee mit jetzt sechs Divisionen und starken Heerestruppen steht rüstungsmäßig voll auf der Höhe der anderen kleinen Warschauer Paktstaaten, soll aber, nach dem Zeugnis ungarischer Soldaten, in ihren Leistungen weit hinter der Sowjetarmee zurückbleiben, vor allem in Spezialbereichen wie dem Fernmeldewesen.

Auch die Moral der Truppe wird nicht sehr hoch eingeschätzt, aber Moral ist kein absoluter Faktor, sondern fast unberechenbar relativ. Gerade die Ungarn können unerwartet und auch geradezu unproportional tapfer sein.

Die Freiheiten, die sie sich heute herausnehmen dürfen, verdanken sie jedenfalls den Kämpfern von 1956, wiewohl diese sichtbarlich nicht gesiegt haben. Aber mit der Erinnerung an die Volkserhebung konnte Kädär die Russen dezent erpressen: Genosse Chruschtschow, Sie wissen ja, diese unbedachten Kinder fangen gleich zu schießen an, wenn nicht genug Orangen importiert werden ... Und der ungarische Parteichef selbst hatte seine Politik der inneren Befriedung unter dem Motto in Gang gebracht: „Wer nicht gegen uns ist, der ist mit uns.“

So dürfen die Ungarn seit 1968 ungestraft tun, was den tschechischen Wirtschaftsreformer Ota Sik zur Emigration zwang: die Planwirtschaft in eine Art Marktwirtschaft umstrukturieren. Sie, die im Come-con zwischen der hochindustrialisierten DDR und dem balkanisch armen Bulgarien etwa die Mitte halten, dürfen auch ungestraft tadeln, was in dieser Wirtschaftsgemeinschaft unglücklich konzipiert ist oder unglücklich praktiziert wird: die von Moskau manipulierte Rohstoffabhängigkeit der kleineren Mitglieder von der UdSSR etwa, oder die durch Plan und Zentralismus und Bürokratie verminderte Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt.

Sie gehen weiter, als Nagy gehen wollte, indem sie offen mit dem Kapitalismus kooperieren, im Nachbarland Österreich mit Steyr-Daimler-Puch oder mit dem privaten Wein-und Fruchtsafterzeuger Lenz Moser, aber auch durch Kreditoperationen auf dem Eurodollarmarkt, ja durch die Abkehr vom Clearing zugunsten des Zahlungsverkehrs in frei kon-vertibler Währung. Ob Ungarn nach seinem zwanzigjährigen ökonomischen Rückschritt vorerst nicht doch auch in eine Periode „polnischen“ Elends hineinschliddern wird, mit echtem Mangel (und nicht bloß Verteilungsmängeln) sogar bei den Grundnahrungsmitteln und anderen elementaren Konsumgütern, ist eine offene Frage — so offen, daß jüngst sogar Ministerpräsident Fock, wenn auch in der im Ostblock gebotenen Verklausulierung, sie stellte.

Die Sehnsucht nach „Highlife“ realisiert sich sichtlich in der Ver-himmelung, ja Vergötzung all dessen, was auch nur von fern nach dem Goldenen Westen riecht; und man braucht nicht aus Florida, sondern nur aus Floridsdorf zu kommen, um seiner Autoembleme verlustig zu gehen. Mit Jazz auf Band oder Platte avanciert man zum Weihnachtsmann. Eine Karikatur in „Nepszabadsäg“ deutet an, daß offenbar nur das Militär imstande sei, die Jugendlichen ihrer westlich inspierierten Modetorheiten zu entkleiden. An der Stelle des alten „Düna“ mit der intimsten Bar von vielleicht ganz Mitteleuropa

— man fühlte sich dort so privat wie in dem Musik- und Rauchsalon des Hauses von reichen Freunden —, an dieser Stelle steht jetzt natürlich ein Hilton-Hotel: schöner als das in Wien, doch das will nicht viel heißen in Budapest, wo es mehr vortäuscht als darstellt — wie übrigens auch das Programm in der Bar.

Die Mädchen, die da in ungarischem Englisch ins Mikrophon singen und züchtig gegen das Paprikaklischee antanzen — sie sollen ja nicht Folklore bieten, sondern den „Duft der großen weiten Welt“ suggerieren —, diese Mädchen erwek-ken den Eindruck, als seien sie Schauspielelevinnen, die sich da heimlich ihr Schulgeld verdienen. Und vor dieser Apotheose des Puri-tanismus flüchtet man in die winzige und entsprechend verrauchte Tanzbar im „Busulo Juhäsz“ am Geliertberg droben, gleich unterhalb des sowjetischen Siegesdenkmals, das ein dem Josef Thorak nicht unähnlicher ungarischer Künstler damals nach einem vorhandenen Entwurf für ein faschistisches Trauermal zeitgemäß

— Siegeslorbeer statt geknicktem Propeller — gestaltet und mit klassizistischen Monstrositäten, die bei ihm noch auf Lager waren, garniert hat. Streng nach persönlichem Auftrag von Woroschilow, der an der ideologischen Umwidmung nichts weiter Peinliches fand.

Eine Reise durch Ungarn braucht den Besucher aus dem Westen nicht unbedingt stolz oder gar hoffärtig zu machen: wir haben's gewiß nicht so herrlich weit gebracht wie die Menschen dort drüben in ihrer Einsamkeit wähnen. Doch sollten wir anderseits, mag es im freien Westen auch noch so schick und vielleicht auch schon opportun sein, sich mit jenem neuen Bewußtsein auszustatten, in dem die Wahrheit, zu einer Fiktion des Objektivismus degradiert, nur noch als bürgerliches Vorurteil erscheint — wir sollten uns also dennoch, und jetzt erst recht, nicht genieren, die Tatsachen sprechen zu lassen. Und diese Tatsachen sagen: das Experiment, die Gesellschaft zu verändern, ist daran gescheitert, daß der Mensch sich nicht ändern läßt — in Ungarn jedenfalls.

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