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Statuen schweigen in Budapest

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Ungarn macht gegenwärtig Anstalten, an seinen alten Ruf als gastfreundliches Reiseland anzuknüpfen. Die Zugsverbindung zwischen Wien und Budapest wurde durch einen neu eingestellten Mot.orzug schneller, flotter gemachf. Die ungarischen Zollbeamten versehen ihren Dienst nicht mehr so umständlich, als wollten sie in ‘jedem’ Reisekoffer eine Höllenmaschine entdecken. Sie sind sachlicher, unpersönlicher geworden. Die letzten Reste des revolutionären Elans, mit dem früher die Reisenden auf Herz und Nieren geprüft wurden, sind dahin. Der Gast aus dem westlichen Ausland hat in den geheimen Dienstanweisungen eine merkliche Abwertung erfahren. Statt dessen wuchs sein Stellenwert als Devisenbringer, als neutraler Beobachter, auf dessen Gutachten man Wert legt, als möglicher Freund. Aber die Reise geht sozusagen ins Blaue, nachdem der neue Triebwagen nicht ein ‘einziges Mal zwischen der Grenze und Budapest hält, halten darf, damit die kurze Entfernung zwischen den „benachbarten” Großstädten Wien und Budapest um so anschaulicher dokumentiert wird … Der Reisende sieht kleine und größere Bahnstationen vorbeihuschen, mit ihren ausgedörrten Blumenbeeten und müden Transparenten, die den Eisenbahner zu größeren Anstrengungen aneifern sollen — und er tritt, nur wenige Stunden später, nachdem er den Wiener Westbahnhof verlassen hat, aus der Budapester Bahnhofshalle hinaus in eine abendliche Straßenlandschaft mit dunklen Häuserfassaden und dazwischen dahineilenden gelben Straßenbahnen und vielen Menschen.

DIE ZEUGNISSE DER SPRACHE

Eine Fahrt nach Ungarn ist noch immer eine Fahrt ins Gestern. Mit diesem Satz sei jedoch nicht bloß die subjektive Einstellung des Reisenden zu seinem Reiseziel gekennzeichnet — etwa der Wunsch, den Schauplatz der Jugend, der Militärzeit noch einmal der Vergangenheit zu entreißen —, sondern ein entscheidendes und wesentliches Merkmal dieses Landes mit der gelebten Tradition und der vergessenen Gegenwart.

Was einst galt, gilt auch heute. Umsonst der Hinweis auf den Wechsel der Generationen, auf die gewaltsame Aenderung der politischen Inhalte und Formen. Vieles wurde nur oberflächlich. gleichsam provisorisch verschüttet, und die Aenderungen betrafen nur Personen, allenfalls nur noch die Sprache, aber selbst diese verrät heute mehr Verlegenheit und Unentschlossenheit als ein Wissen um die Aufgaben und Bedürfnisse von heute. Es ist die alte, vertraute Sprache des in Ungarn nicht zuletzt aus dem Barock hervorgegangenen Frühnationalismus, eine manchmal schwerfällig und ungelenk, manchmal pathetisch werdende Advokaten- und Literatensprache, welche, die einsamen Höhenflüge der großen Dichter dieses Landes nicht mitberechnet, bis heute den Ton angibt — etwa auch den Ton der Zeitungsartikel, auch wenn diese nur die neuen mechanisierten Kollektivwirtschaften oder die wachsende Elektrifizierung preisen. Daneben findet sich hier und da ein „alter” Ton jüngeren Datums: der Ton der Stalin-Reden, in gewissen Redewendungen, die seinerzeit von vielen als die sicheren Wegweiser der jeweiligen Linientreue geschätzt und eifrig nachgesagt wurden. Diese Tradition ist freilich sinnlos geworden — und vielleicht doch nicht ganz. Auf jeden Fall verrät das Weiterleben gewisser Eigentümlichkeiten des Stalinschen Satzbaues in der Publizistik von heute manches von inneren Unsicherheitsfaktoren in einem Land: von einer Nachahmung des Stils Chruschtschows oder Kadärs ist indessen noch nichts bekannt geworden.

Dies ist aber schon. Gegenwart, derqp Stil, auch auf anderen Gebieten kaum feststellbar Vorsicht, abwartende Haltung, Schweigen überall. Obwohl es kaum noch ein Land in dieser östlichen Sphäre Europas gibt, in dem die Menschen so mitteilungsbedürftig wären wie in Ungarn. Aber sie umschweigen sorgfältig ihre wesentlichen Fragen. Weniger aus Mißtrauen gegenüber dem Fremden als aus ihrer abwartenden Haltung heraus: sie bewältigen, wie man überall sieht, jahraus, jahrein ihren Alltag mit all den kleinen und kleinsten Problemen, die eben bewältigt werden müssen, wenn man — in der Not, im Lager, im Gefängnis — weiterleben will. Aber ihre Gegenwart als Ganzes meistern sie noch nicht. Zwei Beispiele mögen diesen seltsamen Schwebezustand näher beleuchten.

SELTSAMER PEN-CLUB

Die letzten Aufregungen um den nach Ansicht mancher allzu koexistenzfreudigen Pen- Club schienen, von Ungarn aus gesehen, nur zum Teil berechtigt. Es war gewiß naiv von den Teilnehmern der Frankfurter Tagung, anzunehmen, daß die Regierenden in Ungarn sich von irgendwelchen Wünschen und Petitionen westlicher Schriftsteller in ihren Entschlüssen beeinflussen lassen, zumal wenn von der Forderung die Rede ist, nach staatlichem Recht und Parteigesetz verurteilte kommunistische Schriftsteller freizulassen. Daß er sich nicht „stoßen läßt, hat Kädär selbst in einer öffentlichen Rede erst einige Wochen vorher als Antwort auf ein Telegramm französischer Schriftsteller - Camus, Mauriac, ja sogar der Kommunist Aragon war unter ihnen — unmißverständlich gesagt. Hier geht es nämlich um etwas mehr als um die weitere Bestrafung oder Amnestierung von Schriftstellern, die an der Revolution von 1956 aktiv teilgenommen haben. Denn Tibor Derv und Gyula Häy waren Kommunisten, und ihre beispielhafte Verurteilung dient höchsten Parteizwecken: die Einheit der Partei mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Wären sie keine Kommunisten gewesen, hätten sie Aussicht auf eine mildere Bestrafung. Die in diesem Frühjahr Amnestierten, unter ihnen Politiker und Hauptakteure in den Oktobertagen 1956. wie Zoltän Tildy, waren eben nie Kommunisten.

Der neue Generalsekretär des nunmehr zugelassenen ungarischen Pen-Zentrums, ein Englischprofessor aus Debrecen namens LäszIÖ Kery ist ebenfalls kein Kommunist. Er verdankt sein Glück, die letzten zehn Jahre heil überstanden zu haben, dem Umstand, daß er unter allen Umständen beharrlich schweigen konnte — indem er von Stilproblemen der elisabethanischen Dichter oder von Aehnlichem sprach. Die große Mehrheit der Schriftsteller in Ungarn schweigt auch heute. Manche vergruben sich in der Geschichte, manche leben auf’ dem Land, widmen sich unverfänglichen Themen, weichen allen Fragen aus, welche die Gegenwart betreffen. Das Regime hat sich dem düsteren Spiel angepaßt. Früher, zu Zeiten der großen Schriftstellerkongresse unter Räkosi, wurden die großen Schweigenden gehetzt und immer wieder in die Enge getrieben. Es waren dies die Zeiten der leidenschaftlichen Anklagen und Selbstanklagen, der wortreichen Geständnisse und Zugeständnisse (mit nur gedachten Vorbehalten) vor. dem Plenum des Schriftstellerverbandes. In dieser ständig überhitzten Atmosphäre entstand damals schließlich die Rebellion mit der Parole „Nie wieder lügen …” Die heutigen Nachfolger des einstigen Kulturzars Rėvai lassen nach dreijähriger Pause den Schriftstellerverband Wiedererstehen: aber zunächst bloß als Klub, nicht als politische Plattform. Die großen Streitfragen, die über Freiheit und Unfreiheit entscheiden, werden vertagt. Auch mit dem Pen- Zentrum wird es nicht anders sein.’

SCHWEIGENDE STATUEN

Budapest ist die Stadt der Statuen, der historischen Denkmäler in Bronze und Stein. Man sagt, daß, vielleicht Paris ausgenommen, in keiner europäischen Stadt so viele historische und historisierende Statuen auf den öffentlichen Plätzen, in den Gärten, ja auf Straßenecken zu finden sind wie in Budapest. In diesen Denkmälern suchte die verwundete nationale Seele Tröst und Heilung, in einer Zeit, in der der Kult der Vergangenheit über die unbewältigten Aufgaben des Heute hinwegtrösten sollte. In dieser Zeit, in den Jahrzehnten zwischen 1867 und der Katastrophe, entstanden auch viele imposante Bauten in historisierendem Stil, die dieser Stadt bis heute das eigenartige Gepräge geben. Manche dieser Paläste, wie der neugotische Riesenbau des Parlamentes am Ufer der Donau, Relikt aus einer Zeit, die sich selbst mißverstand, beherbergen heute die höchsten Regierungsämter. Abgeordnete, Minister und Parteisekretäre sitzen in diesen dunklen Räumen mit den schweren Plüschvorhängen und Plüschteppichen, sie gehen in ihnen aus und ein und bedenken wahrscheinlich nicht, daß ihre Umgebung, die sie sich schließlich nicht selber gewählt habeiĮ, dennoch auch sie in ein eigene artiges fficf’äuf sffTJe e’PchfiS AAAA tes ‘Ei’dbt VaucÖt.1 Der:’B,f’U’b1i mit aGökchicbfe und’, zugleich das”Vn ’ewlffegte Hetrf§’—”dasäHelite’olne ‘eigenes Gesicht, das sich hinter den morschen Fassaden einer alten Welt vergräbt —, dies wird durch diese kommunistischen Repräsentationsräume im historischen Kostüm versinnbildlicht. Das Bild ist zum Teil ungerecht, gewiß. Denn das Heute und die Zukunft entstehen auch in den Fabrikshallen und auf den Feldern. Aber freilich nicht nur dort. Viele Straßenpassanten kennen indessen die Namen der historischen Gestalten nicht mehr, die über ihnen auf ihren Marmorsockeln stehen, mit ihrem Arm irgendwohin weisend, oder die anderen, die auf ihren bronzenen Schlachtrössern sitzen. Auch die jungen Menschen, die auf den Terrassen der benachbarten Espressi in die Sonne blinzeln, schütteln unwissend ihre Köpfe. Und die Statuen schweigen.

Es. ist nur wenig bekannt, daß in Ungarn gegenwärtig — und schon seit einigen Jahren — historische Ausgrabungen größeren Ausmaßes im Gange sind, die einzelne Königsschlösser, Klöster, Kirchen aus großen Zeiten der ungarischen Geschichte, vor allem das alte, in der Türkenzeit zugrunde gegangene und nachher schließlich verschüttete Königsschloß des Matthias Corvinus und die anschließende Burg Buda, wieder an das Tageslicht befördern sollen. Diese werden dann nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft konserviert. Es ist dies wieder ein. Symbol — und ein überaus tröstliches — in diesem symbolträchtigen Land. Irgendwo, da und dort, von den Mächtigen des Tages beinahe unbemerkt oder als unwesentlich abgetan, wird am besseren Verständnis der Vergangenheit gearbeitet - an ihrer Befreiung von Schutt und Mörtel der Jahrhunderte, von falschen, protzigen Gipsornamenten, die soviel Unheil gesehen haben. Dieser Weg zurück erweist sich solcherart als Besinnung auf den Seelengrund, aus dem das Neue entstehen muß. Die alten Statuen schweigen in Budapest — aber die einst verschütteten Steine werden von den Abfällen der Vergangenheit befreit und geben den Blick frei für die Zukunft.

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