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Herz und Hirn gegen die Faust

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AUFSTAND DER INTELLEKTUELLEN. Von Heinz Kersten. Verlag Dr. Heinrich Seewald, Stuttgart. 189 Seiten.

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AUFSTAND DER INTELLEKTUELLEN. Von Heinz Kersten. Verlag Dr. Heinrich Seewald, Stuttgart. 189 Seiten.

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Es ist kaum möglich, über ein schwieriges und von zahllosen oberflächlichen Scheinkennern mit trügerischer Leichtigkeit abgewandeltes, wichtiges Thema, wie das des „Tauwetters“ (oder auch der „Schneeschmelze“) im kommunistisch beherrschten Europa, klüger, einsichtiger und besser zu schreiben, als es der Verfasser dieser gehaltigen Schrift getan hat. Heinz Kersten ist ein Pseudonym für einen Autor, der sich als Publizist bereits einen Namen gemacht hat. Er verfügt über die so seltene Fähigkeit, Wesentliches von minder Wichtigem zu unterscheiden, den Kern der Sache zu treffen, die großen Linien der Entwicklung klar herauszuarbeiten und sie eindrucksam darzustellen. Das ist um so rühmlicher und erstaunlicher, als er sichtlich nur mittelbar Zugang zu den zahlreichen von ihm verwerteten Urquellen besitzt — die er aufs passendste ausgewählt hat; er versteht offenkundig weder Polnisch noch Tschechisch noch Madjarisch, und es unterlaufen ihm deshalb, einem deutlichen Streben nach Exaktheit zum Trotz, mancherlei Fehler in der Namensschreibung und andere kleine Irrtümer. Das Bild, das er vom Aufstand der Intellektuellen in der Sowjetunion und in Zwischeneuropa entwirft, ist gar vielseitig, wenn auch nicht allseitig, und keinesfalls einseitig. Es stimmt mit der Wahrheit überein und es beleuchtet die Zusammenhänge von Belang. Der Mensch, den Maschinenmeister — Ingenieure der Seele hieß das Stalin mit euphemistischer Umhüllung — zum Untier herabwürdigen wollten, denn ein Geistiger, der sich freiwillig dem Zwang zum vorgeprägten Denken und Dichten beugt, ist ein Monstrum …, der gepeinigte „Kopfarbeiter“, den man durch Hochhängen des Brotkorbs dressiert und durch Gunstbeweise für Wohlverhalten ködert, er bäumt sich schließlich gegen den Maulkorb und gegen die Ketten auf. Zumal, wenn er nicht in Ketten geboren und nicht an den Maulkorb gewohnt ist. wie das, außer auf die Sowjät-Intelligencija unter Fünfzig, auf alle Gebildeten Zwischeneuropas von über Dreißig zutrifft. In den Ländern zwischen Ostsee und Adria ist aber die Tradition der Freiheit des Denkens und des Schreibens so eingewurzelt, daß sie, freilich in voneinander verschiedenem Grade, auch die meisten Angehörigen der jüngeren Generation umhegt. So bedurfte es nur der ersten Anzeichen, daß sich am Hochsitz der Tyrannei etwas geändert habe, daß von dorther mildere Lüfte wehten, um die Schneeschmelze alle Dämme einreißen zu lassen.

Daß Polen und Ungarn dabei mit dem Beispiel vorangingen, war nur natürlich. Es beruht darauf, daß in diesen beiden Staaten der Stalinismus jeder echten

Grundlage bei der Bildungsschicht ermangelte, daß er in unversöhnlichem Gegensatz zur nationalen Überlieferung stand, der sich gerade dort auch die zeitweilig aus den mannigfachsten Ursachen in die Kommunistische Partei geratenen Dichter, Gelehrten, Publizisten. nicht entziehen konnten. Das wird von Kersten nicht so klar dargelegt, wie es aus seiner an Fakten überreichen Schilderung indirekt hervorleuchtet. Nicht hervorgehoben wurde leider die Tatsache, daß Intellektuelle jüdischer Abkunft beim Ansturm gegen die Zitadellen des Stalinismus eine führende Rolle spielten: von Ehrenburg ging der erste Ruf aus, in Ungarn ist er von Lukäcs, Dery, Häy, Mėray auf genommen worden, in Polen von Slonimski, Wazyk, Jastrun, Kott, Zimand. Stalins Abneigung wider die „Zionisten“ erfuhr da ebenso nachträgliche Rechtfertigung, wie die Gleichsetzung von Juda und schlimmstem Bolschewismus als antisemitische Simplifikation widerlegt wurde.

Mit untrügbarem kritischem Sinn hat Kersten herausempfunden, wer die überragenden Gestalten der geistigen Widerstandsbewegung im Osten waren. In Polen — hier hat er nur Tyrmand vergessen —, in Ungarn und in der Tschechoslowakei, wo freilich die Erhebung am zahmsten blieb. Mitunter fällt er anfechtbare Urteile, wie über Putrament. Den ungarischen Schriftsteller und Exminister Peter Veres als „völkisch“ zu bezeichnen, löst falsche Vorstellungen aus; man erblicke in ihm das, was er ist, einen Dich-

ter des Dorfes und der Bauernschaft, aus der er stammt. Über Rumänien und Bulgarien wäre vielleicht mehr zu sagen gewesen. Im Kapitel über die DDR begegnet der Verfasser Professor Harich, dem Philosophen, und dessen Kollegen, dem Literarhistoriker Hans Mayer, mit Hochachtung und berechtigter Sympathie. Weniger begreiflich ist uns die Nachsicht, ja die Zärtlichkeit, die er für den hin und her wendigen Armin Müller und dessen Schicksalsgefährten Janka und Just an den „Sonntag“ legt. Alle diese Kahlauer sind, gleich deren negativ gewordenem Positiv Heinz Kahlau, ein schlechter Witz auf eine echte antikommunistische Revolution der Geister. Sie haben zuviel Kurella- Pulver auf den Abschlachtfeldem des Klassenkampfes gerochen, um der reinen Wortkunst und dem klaren Denken wiedergeschenkt zu werden. Bedauerlich dünkt uns schließlich das Nichteinbeziehen Jugoslawiens in Kerstens Überblick. Hätte Kersten der südslawischen Bundesrepublik ein Kapitel gewidmet, wäre ihm vermutlich die allzu optimistische Einschätzung der revoltierenden Intelligencija und ihrer Möglichkeiten erspart worden. Das in der Gesinnung, in der ernsten Auseinandersetzung mit dem Stoff, in der Zuverlässigkeit der geschilderten Tatsachen vorbildliche Werk hat nämlich einen schwachen Punkt: es nimmt allzusehr ein paar Wünsche für Wirklichkeit; es dringt nicht zu der lapidaren Erkenntnis durch, daß es innerhalb des Kommunismus keine Gedankenfreiheit geben kann; daß eine Rebellion entweder zum Bruch mit ihm und zum Sieg eines leicht ins Gegenteil ausartenden Liberalismus führen muß oder wieder, auf blutigem — Ungarn —, auf unblutigem Wege — Polen —, zurück ins alte Geleise, zum Marxismus-Leninismus, mit ein paar veränderten und wenig bedeutsamen Vorzeichen.

In dieser Hinsicht sei als typisch eine Stelle aus dem Buch Kerstens zitiert: „Jedenfalls ist Hlasko ein Beweis für die heute gegebenen Möglichkeiten völlig freier künstlerischer Entfaltung.“ Der Verfasser meinte „in Polen“, doch im Licht der jüngsten Erfahrungen wirkt diese Prophezeiung als unbeabsichtigte Ironie. Denn der schon berühmt gewordene junge polnische Schriftsteller hat nach halbjährigem Aufenthalt in Frankreich und in der Deutschen Bundesrepublik auf Rückkehr in seine von ihm geliebte Heimat verzichtet, weil dort, wie er feststellte, für ihn keine Möglichkeit zu freiem Schaffen vorhanden ist.

Noch ein paar weniger schwerwiegende Einwände hätte ich vorzubringen. Es stimmt kaum, daß in der DDR die Intellektuellen um den Preis einer blinden

Fügsamkeit mehr gefördert werden als sonst in Volksdemokratien: sind sie brav, dann haben sogar Überläufer aus dem Großgrundherrenadel in Polen ein herrliches Leben, wie der hochbegabte und zynische Iwaszkiewicz, Erzähler von erlesener Kunst, begnadeter Lyriker, Kritiker und, wie er es der belgischen Königin-Großmutter ' Elisabeth sagte, Katholik aus Überzeugung, doch ohne zu „praktizieren“, Kommunist, ohne daran zu glauben, doch eifrig praktizierend. Auch in Rumänien geht es fügsamen Ci-devant prächtig, siehe Sadoveanu. Zuletzt: Kersten mißt den Intellektuellen östlich des Eisernen Vorhangs zu große politische Bedeutung zu. Sie waren imstande, Stürme zu entfesseln und dem System arge Verlegenheit zu bereiten, doch zu einer dauernden Wirkung sind sįe in Ländern nicht gelangt, die theoretisch den Arbeitern und den Bauern den ersten und den zweiten Platz zuweisen; in Staaten, die faktisch durch zumeist aus dieser Schicht sich herleitende Männer regiert werden und wo die' bei' der Exekutive? beharrende physische Gewalt das letzte Wort spricht.

Der Autodidakt Gomulka mochte sich von der Studentenbewegung mittragen lassen, die Unterstützung von „Po Prostu“ und der Presse der Intellektuellen annehmen; sobald er im Sattel saß, entledigte er sich der unbequemen und nicht mehr nötigen Bundesgenossen. Nicht anders verfuhr Kädär — der ja, was man oft vergißt und woran Kersten mit Recht erinnert, einst eher vorbestimmt schien, auf Seiten des Petöfi-Kreises zu stehen —, als er seine früheren Weggefährten abschüttelte. Es bewährt sich eben die ewig gültige Weisheit des illusionslosen polnischen Satirikers aus dem Rokoko, des bezaubernden Dichters und anfechtbaren Bischofs Ignacy Krasicki: „Der Kluge hat im Disput gesiegt, doch der Dumme hat ihn niedergeschlagen."

Als vortreffliche Geschichte einer der vielen historischen Zeugnisse für diese traurige Wahrheit verdient Kerstens Buch größte Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Universitätsprofessor

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