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Kulinarische Kultur

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I.

Wir müssen uns mit dem Anblick einer Gesellschaft abfinden, die ihre Kultur dem Staat überantwortet hat. Und dem Amtsgang der Kulturpolitik. Und der kommunalen Fürsorge. Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die zwischen der kulturellen Repräsentation und dem Vergnügen unterscheiden gelernt hat. Zwischen der offiziellen Kunst und dem Amüsement mit den Musen, zwischen den künstlerischen Vergnügungsstätten der Entspannung bietenden, sorgenverscheuchenden, gelegentlich „gehobenen“ schöngeistigen Anregung, wo man sich freiwillig seine Eintrittskarte löst und den kul-turamtlicherseits verwalteten Bezirken der öffentlichen Kultur, die zum Pflichtgegenstand der abendländischen Nationen erhoben worden ist, der man seinen gesetzlichen Obolus entrichtet, der man eine Rente bezahlt.

iiar%m wenJSsten? eine Arfeeitslosenunter-4*ützung5wäre, eine Interimszahlung zur Ueber-bruckung eines Stadiums des kulturellen Aufbaues, das ginge noch an — aber es ist eine Sozialrente, die da ausgeschüttet wird, eine Pension — denn als Berufsgruppe ist die Kultur nicht gefragt. Das Staatsvolk benötigt sie nicht zum persönlichen Gebrauch, sie hat lediglich repräsentativen Wert. Und das auch nicht etwa für den einzelnen — der hat ja, wir wir wissen, stets einen arbeitsreichen Tag hinter sich, so daß er sich „leider“ mit einem Klamaukfilm oder einer Komödie oder mit einem naturgetreuen Porträt seiner Gattin begnügen muß. Er persönlich dokumentiert seinen bürgerlichen

Wohlstand nicht mit Bildern (die er übrigens nicht einmal von der Steuer abschreiben kann), da fährt er viel besser mit einem Auto; und er persönlich wird so oft bei Lustspielen oder (sei's drum) bei einem schönen bürgerlichen Trauerspiel gesehen, so daß er es sich vor seinen Nachbarn leisten kann, einem Stück, das ihn geistig anstrengen könnte, entschuldigt fernzubleiben. Die Kultur ist nichts Persönliches, sie repräsentiert als Komplex für die Allgemeinheit. Und weil man sie, zumindest nach Ansicht einiger Volksvertreter, immer wieder betreuen muß — gut, man kann sich schließlich auch das leisten, man hält sich zu diesem Zwecke Angestellte, Kulturbeamte, die es hauptberuflich tun. Die haben dann ja Zeit. Sie üben ihre Tätigkeit im Namen der Gesellschaft und werden dafür bezahlt. Die Kassen, die sie verwalten, gehören der Gesellschaft, und das Mäzenatentum, das sie ausüben, üben sie stellvertretend. Alles hat seinen geregelten Amtsgang, alles hat seine Vorschriften.

Die K u 11 u r ä m t e r sind eine kommunale

Behörde wie die Krankenkasse, ihr Mäzenatentum amtiert wöchentlich vierzig Stunden, die Verantwortung ist aufgeteilt, die Gefahren zweifelhafter individueller Extravaganzen durch gemeinsamen Pensionsanspruch auf ein Minimum beschränkt, an Samstagen und Sonntagen ist frei. Weil es die Kulturamtsleiter dank persönlichen Interesses und durch jahrelangen Umgang mit der Kultur gut mit ihr meinen, tun sie, was sie können: sie sorgen dafür, daß die Nationaldenkmäler nicht verkommen, der Opern- und Theaterbetrieb an Routine nichts einbüßt, daß die Maler nicht verhungern und daß das kommunale Repräsentationsbudget der Gesellschaft ausgeglichen bleibt. Risiko kann man freilich keines eingehen, denn das Geld gehört dem Volk, und die Investitionen müssen belegt werden können und jeder Kontrolle, auch der des an der Kultur weniger interessierten Steuerzahlers, standhalten. Das Volk verlangt Rechenschaft, und die Legitimation fürine ordentliche Gebarung ist mithin der Rechenschaftsbericht, der darüber Auskunft gibt, wieviel in bestimmten Zeiträumen für die Kunst und Kultur getan worden ist und wieviel es gekostet hat. Die einzelnen Posten tragen die Sammelbezeichnung „Subvention“ oder „Unterstützungsfonds“. Das leuchtet vollkommen ein, denn man unterstützt auch altersschwache und kinderreiche Parteimitglieder, und man subventioniert den Milchpreis. Und jedermann ist davon überzeugt, seine Pflicht getan zu haben.

Das hat zur Folge, daß die Künstler, wiewohl Schützlinge einer sozialen und „kulturbewußten“ Gesellschaft, die aber nur in ihrer Gesamtheit von ihnen Notiz nimmt, auf ihre Weise reagieren: sie scheren sich um den einzelnen aus dieser Gesellschaft auch nicht, denn es handelt sich für sie ja nicht um Interessenten an ihrer Kunst, sondern lediglich um eine Masse Vergnügungssüchtiger, die die gesetzlich festgesetzte Vergnügungssteuer zahlen. Wodurch sich zwischen die schöpferische Kultur und die Nation eine in ruhigen Bahnen gegenseitigen Unbeachtens und durch keinerlei anregende Spannung getrübte Koexistenz des latenten Mißtrauens, der beständigen Mißverständnisse und der fortschreitenden Entfremdung etabliert hat.

Die Bürger wollen mehr oder minder anspruchsvoll unterhalten werden — und es mag vorkommen, daß sie, wenn sie sich, ungeübt, wie sie sind, ein und das anderemal in „extremere“ Regionen vorwagen, von so viel Fremdartigkeit wirklich schauerlich erschreckt werden. Die Künstler wieder wollen verstanden werden — und es mag vorkommen, daß sie sich aus Protest gegen so viel Unverständnis unverständlicher geben, als sie sind.

Entfremdung und Bequemlichkeit, Mißtrauen und Ignoranz sind zur Ursache und Wirkung, Wirkung und Nachwirkung einer geistigen Stagnation geworden, die mit dem Hinweis auf die mit riesigen Mitteln des Staatssäckels aufrechterhaltenen glanzvollen und ausverkauften Opernabende und die überfüllten subventionierten Theater nur notdürftig verdeckt werden kann. Der Glanz ist rein äußerlich und der Besuch dieser Kulturstätten gilt in erster Linie dem kulinarischen Genuß. Hier regiert ausschließlich die Kulturkonsumfront.

II.

Kürzlich erklärte der Direktor einer großen Wiener Bühne, daß es ihm nahezu unmöglich gemacht werde, Stücke der zeitgenössischen Lite-

ratur zu spielen, weil sowohl das Publikum wie die verschiedenen Theaterorganisationen an einer halbwegs ernsthaften Auseinandersetzung mit jedweder Art des aktuellen, anspruchsvollen Theaters völlig desinteressiert sind. Der Direktor rechnete klipp und klar vor, daß wegweisende Stücke des gegenwärtigen dramatischen Schaffens, die es in Berlin und Hamburg immerhin bis zu fünfundvierzig Aufführungen bringen, in Wien höchstens sechs- bis siebenmal angesetzt werden können, wobei selbst bei dieser geringen Anzahl von Aufführungen ein Drittel der zur Verfügung stehenden Plätze leer bleibt. Selbst für das für Wiener Verhältnisse beachtlich erfolgreiche Dürrenmatt-Stück „Besuch der alten Dame“ wurden insgesamt 4995 Vollpreiskarten verkauft, während anderseits' für Faulkners „Requiem für eine Nonne“, bei dem die Wahrscheinlichkeit, daß es irgendwem besonders gefiel, sehr gering ist, entgegen allen Erwartungen 15.411 Karten gelöst wurden — weil zwei Filmstars darin spielten. Man geht eben ins Theater, um zu schauen, nicht um zu denken.

Ein anderes großes Privattheater berichtet in seinem Rapport über die Publikumsbefragung 1957 (wobei übrigens nur ein Viertel der ausgesandten Fragebogen beantwortet worden ist), daß sich einundziebzig Prozent der Befragten darin einig waren, ein französisches Lustspiel an die erste Stelle der Erfolgsstücke zu setzen: Pagnols „Großes Abc“. An zweiter Stelle rangierte die Sensation, Oskar Werner als Hamlet zu sehen (57 Prozent), an dritter (mit 45 Prozent) „Zeitgrenze“ von Denker und Berkey, was gemeinsam mit der relativ erfolgreichen Köst-lerschen „Sonnenfinsternis“ am Volkstheater (10.397 verkaufte Karten) andeutet, daß politischen Stücken einige Beachtung geschenkt wird.

Stücke von Lorca, Bernanos, Montherlant, Kafka, Becke oder Steinbeck werden kaum, von Miller, O'Neill, Williams zögernd besucht —und wenn, dann zumeist um einer schlecht verhüllten Sensationslust willen, die bei „umstrittenen“ Stücken empfunden wird und sich vornehmlich dann einstellt, wenn die Stoffe gewagt, das Szenarium reizvoll-zweideutig ist. Auf diese Weise kamen nach dem Kriege der „vieldiskutierte“ Sartre und die „Pieces roses“ von Anouilh zu Ehren („Colombe“ brachte es am Akademietheater auf 69 Aufführungen); auf diese Weise etablierte sich die brillante Spaßmacherei Coc-teaus und der „esprit francais“ von Giraudoux bis Verneuil („Staatsaffären“, an der Burq 114 Aufführungen) auf den Wiener Bühnen, bis man schließlich dort anlangte, wo es r-,.“ ist und wo man zu Hause ist: bei (dem an und für sich sehr ehrenwerten) Molnar und bei Goetz,. bei Lengyel und Lernet-Holenia, bei Bus-Fekete und, Farkas. Bei denen ist eine Hetz — und bei denen kann nichts passieren. Daneben laufen die unterhaltsameren Stücke von Shaw („Kaiser von Amerika“, an der Burg 78 Aufführungen), als Zugeständnis an die österreichische Literatur Schnitzler („Liebelei“, Burg 64) und Bahr (. Kinder“, Burg 46), und — soferne sie picksüß herausgeputzt werden — Nestroy und Raimund. Als Tribut an die ernsten Musen (und wenn Werner Krauß spielt, und unter der Voraussetzung, daß die Inszenierungen bombastisch sind, wie die yMaria Stuart“ vom Vorjahr) die seit Jahrzehnten nicht mißzuverstehenden und ein erhabenes Gefühl der Bildung gewährenden Klassiker, in deren ,olympischer Sphäre man sich einhüllen kann, wie in einen weichen, bequemen Plüschmantel. — Wenn es schon nicht lustig ist, dann muß es schön und attraktiv sein um das viele Geld.

III

In der O p e r und in den Konzertsälen gewinnt man den Eindruck eines gutorganisierten, markterforschten Jahrmarktes hochachtbarer Mußestunden, die zu relativ niedrigen Preisen abgegeben werden. Die Aufnahme ist rein kulinarisch und die Publikumstreue dem bereits Genossenen gegenüber durch nichts zu erschüttern. Es triumphiert eine durch nichts auf dieser Welt abzulenkende Konsumfreudigkeit an dem Althergebrachten, Erhebenden, durch jahrzehntelange Popularität auf breiten, „allgemeinverständlichen“, ausgefahrenen Bahnen klang-und sangvoll Einherstolzierenden für Garten und Familie, für Haus und Kind. Und zwar in der typisch wienerischen Form: schöne Stimmen, schöne Weisen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem anspruchsvollen neuen Spieltheater ist schlechthin nicht vorhanden, am Spielplan der Oper ist wochenlang kein zeitgenössisches Werk zu sehen; das Höchste der Gefühle ist ein moderneres Ballett. Und wenn wir von ein paar besonders anerkennenswerten Ausnahmen der letzten Zeit absehen, ist die Vernachlässigung des Optischen in der Oper nahezu symbolhaft für .unseren „zeitgenössischen“ Musikfreund: wenn schön gesungen wird, versammeln sich die Wiener auch auf einem Dachboden. (Dabei könnte gerade die Oper so manches riskieren, sie hat das Publikum, wie kaum ein anderes Kulturinstitut, in der Hand - allein der Routinebetrieb ist schon so gründlich fest-

gefahren, daß ihn keine noch so großzügige Subvention mehr flott macht.)

Nach übereinstimmender Aussage der Konzertveranstalter muß man bei Ansetzung neuerer Musikwerke, ungeachtet ihrer Qualität, mit dem Verlust eines Drittels der Besucher rechnen. Widerspruchslos akzeptiert werden nur wenige besonders anerkannte Meister, einige sogenannte „Klassiker der Moderne“, die nicht mehr so sehr abschrecken, weil man sich allmählich an sie gewöhnt hat. Ein ähnliches Schicksal teilt übrigens die alte unbekannte Musik: Kostbarkeiten der musikalischen Weltliteratur, der das Publikum seit Generationen entwöhnt ist, werden kaum beachtet. Wenn man sie schmackhaft machen will, muß ein großer Dirigent oder Solistenstar vorgespannt werden. Zwecks der Publizität und Sensation.

Die Liebe des Publikums — dieselben Leute auf denselben Sitzen seit Jahrzehnten, vor den gleichen Programmen — gilt ausschließlich dem Wohlbekannten, immer wieder gespielten — was mit dem 19. Jahrhundert identisch ist, bis einschließlich Richard Strauss. Die Grenze verläuft haarscharf: bereits Pfitzner und Mahler werden

freiwillig und um ihrer selbst willen nur widerwillig akzeptiert. Während die Impressionisten mit gemäßigter Konsumfreude hingenommen werden, ist alles Neuere für einen großen Saal belastend, das Neueste ruinös. So sind beispielsweise die Programme der acht philharmonischen Abonnementkonzerte, auf denen nur zwei Namen lebender Komponisten stehen (bezeichnenderweise übrigens Russen — Vertreter einer biederen, braven, kontrollierten Musikwerkstatt), Kompromiß in höchstem Grade — und somit Ausdruck einer höchst zweifelhaften Einstellung gegenüber der so leidenschaftlich, so demonstrativ beschworenen Musik, von der man bei flüchtiger Betrachtung meinen könnte, daß sie die augenscheinliche Lethargie auf allen anderen Sektoren der Künste auf legitime Weise kompensiere.

Und so stellt sich, dank der nimmermüden Aufführungen stets desselben, sattsam Bekannten, jene so „verblüffende Sachkenntnis“ ein, die den Fremden oft so sehr beeindruckt und als deren höchst stimmungsvolle lokale Beweise der die „Unvollendete“ pfeifende Gemüsehändler und die die „Eroica“ trällernde Blumenfrau fungieren.

die Sowjets damals (die Deutschen waren ja von der Gestaltung Ostmitteleuropas nach Hitlers Sturz praktisch ausgeschaltet!) gegen alle derartigen Pläne und sie mußten auch scheitern, als die bürgerliche CSR-Exilregie-r u n g Beneschs, noch lange bevor die Rote Armee jenen Raum effektiv besetzt hatte, die Weichen in ganz anderer Richtung stellte: sie verriet plötzlich die immer schleppender gewordenen tschechisch-polnischen Unionsverhandlungen an, Moskau und schloß als erste Exilregierung aus diesem Raum eine enge Allianz mit dem ' Kreml (1943), womit Jalta praktisch schon lange vorweggenommen war!

Als es dann 1947 zwischen Warschau und Prag dennoch zu einem Paktabschluß kam (beide Staaten waren damals noch von Volksfront-Koalitionen regiert und noch keine kommunistischen Diktaturen oder Satelliten Moskaus), war dies nur noch ein schwacher Abklatsch der einstigen Londoner Pläne. Und als bald darauf in Warschau und kurze Zeit später auch in Prag die Kommunisten zu alleinigen Machthabern wurden, änderte sich daran ebenfalls nichts. Zwar wurde in der Propaganda viel von „tschechisch-polnischer“ Freundschaft“ gesprochen, welche die seinerzeitige „Feindschaft in der Aera der Bourgeoisie“ abgelöst hätte, aber die Beziehungen waren darum auch nicht besonders herzlich, wenn auch tatsächlich schon besser wie früher zu Zeiten Masaryks, Beneschs und Pilsudskis. Ein neuer Tiefstand kam dann - wie gesagt — erst im Herbst 1956 .. .

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