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LAIENSPIEL UND AVANTGARDE

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Das Theater nimmt heute in der Publizistik seinen Platz ein — auch in Österreich, das noch immer auf diesem Kunstsektor zu den führenden Ländern zählt. Aber nur dann kann so eine Stellung gehalten und ausgebaut werden, wenn ein entsprechender gesunder „Humus” im Land selbst vorhanden ist und gepflegt wird. Sonst würden große Leistungen, wie etwa der Staatstheater, bestimmter Festspiele und so weiter, nur zur schaufensterartigen Fassade, deren Rückseite und Gerüst morsch und nahe dem Zerfall ist. Von diesem „Humus” aber, dem Schulspiel, Laienspiel und Amateurtheater wie auch den übrigen Spielformen, hört man in Österreich eigentlich recht wenig. Es ist keineswegs so, daß in unserem Land das Spielwesen dem Absterben nahe ist und dies den Grund für die geringe Kenntnisnahme der Öffentlichkeit bildet. Vielmehr hat sich der berühmte „alpenländische Spieltrieb” gerade in den beiden Jahrzehnten nach dem letzten Weltkrieg wie kaum zuvor entfaltet. Aber die Aufführungen gehen meist in der Stille vor sich und werden über den örtlichen Raum hinaus kaum bekannt. Die fast ausschließlich schlichten Werbeformen locken nur selten Rezensenten an, und darum mag es wohl auch in der breiten Öffentlichkeit weithin unbekannt sein, daß das Spielwesen in Österreich heute einen so großen Umfang angenommen hat.

Eine wohldurchdachte Beratung und Betreuung der Spielleiter und Gruppen wird seit Jahren durchgeführt, und es steht eine eigene „Materialstelle für das österreichische Laienspielwesen” in Graz zur Verfügung. Deren Statistik weist allein für das vergangene Jahr über 11.000 Veranstaltungen nach, deren nicht mehr überblickbare Wiederholungen diese Zahl voraussichtlich verdoppeln. In fast 1700 Orte wurden die Textbücher versandt. Wollte man den Erfahrungswert von 200 Zuschauern und durchschnittlich 20 Spielern pro Aufführung einsetzen, so würde dies ergeben, daß mindestens vier Millionen Menschen jährlich mit den einzelnen Spielformen in Österreich konfrontiert werden! — Neben den Textberatungen durch die obige Zentralstelle erhalten die Spielleiter und Erzieher in ihren Bundesländern über eigene Arbeitsgemeinschaften und Spielberatungsstellen im Rahmen von Tagungen, Lehrgängen und Einzelberatungen noch weitere Hilfen, besonders in der Steiermark, in Kärnten, Vorarlberg, Oberösterreich und Tirol.

Wie sieht nun der Spielalltag heute aus? Was, wie und wo wird gespielt? Schon wenige Wochen nach Kriegsende feierte das Vereinstheater ältester Prägung fröhliche Urständ. Es gab kaum eine Stadt, kaum ein Dorf oder Tal, welche seine „Segnungen” nicht zu spüren bekamen. Die wie Pilze aus dem Boden schießenden BerufSwartdefbühnen übten auf die Stückwahl auch keinen guten Einfluß aus. Ihnen wollte man in der Anziehungkraft der Stücke’und im Zustrom des Publikums nicht nachstehen. Man spielte also, was die Kassen füllte. So rollte eine Lawine des schlechten Geschmacks und der Verbildung über das Land. Nur wenige Ausnahmen bestätigten umso mehr die Regel. Dazu kam, daß das gute Schul- und Jugendspiel — außer in den Vorweihnachtstagen — fast überhaupt nicht vorhanden war.

Es brauchte einige Jahre, bis sich offizielle Stellen — besonders einige Volksbildungsreferenten — und Arbeitsgemeinschaften fanden, die dem Abwärtsgleiten Einhalt gebieten wollten. Da und dort wurden kleine Spielbüchereien eingerichtet, aber die Beratungen nur sporadisch durchgeführt. Erst als es gelang, eine Gruppe von Fachleuten zu gewinnen, die sich „hauptberuflich” des österreichischen Spielwesens annahmen, war die kontinuierliche Aufwärtsentwicklung gesichert. Es gibt kaum ein Bundesland, in dem in der Folgezeit nicht Spielwochen, Wochenend- und Speziallehrgänge (etwa für Bühnenbildgestaltung, Autoren, Schulspiel, Puppenspiel und so weiter) stattfanden. Dazu kam als kontinuierlich beratendes Organ die Zeitschrift „Der Spielvogel”, welche mit einer Auflage von 7000 Exemplaren heute bereits im vierzehnten Jahrgang steht.

Es setzte etwa vier Jahre nach dem Kriegsende bis zum heutigen Tag eine Entwicklung ein, die hier leider nur in wenigen Zeilen umrissen werden kann. Die in die Tausende gehende Zahl der Spielgruppen, welche jährlich mehrmals abendfüllende Stücke zur Aufführung brachten, reduzierte sich auf ein gutes Hundert. Umso stärker setzte sich das Spiel als Erziehungsfaktor, als Teil des Gesamtmusischen und als Kulminationspunkt oft monatelanger Bemühungen um die Erfassung künstlerischer Belange durch. Es gibt heute kaum eine Pflicht- oder Mittelschule, in der es nicht in irgendeiner Form fest verankert wäre. Hier wird das Puppenspiel gepflegt, dort das pädagogische Schulspiel als Verlebendigung des Unterrichtsstoffes verwendet oder zur Weiterentwicklung der Einzelpersönlichkeit eingesetzt, da wieder steht es etwa im Mittelpunkt einer adventlichen Feier und wirkt gemeinschaftsbildend; die scheinbar unausrottbaren Dressurleistungen für Elternveranstaltungen machen dagegen nur einen Bruchteil aus. Nimmt man dazu die fast ausschließlich niveauvollen Bemühungen in den Kindergärten, so muß man feststellen, daß das Spiel mit Kindern heute fast die Hälfte des österreichischen Spielwesens ausmacht.

Etwa dreißig Prozent der Betreuung durch die zuständigen Stellen gelten dem Spiel in den Jugendgemeinschaften. Begreiflicherweise ist hier die Katholische Jugend am stärksten beteiligt; es folgen die Landjugend, die sozialistischen und evangelischen Jugendverbände, die Österreichische Jugendbewegung, Schülerheime, Pfadfinder und so weiter. Es sind keineswegs nur Bekenntnisspiele, die bei festlichen Anlässen und im Rahmen von Elternabenden zur Aufführung kommen, den größten Teil nehmen vielmehr die Kleinformen des Spiels ein, etwa Sketche, Einakter und ähnliches und besonders innerhalb der Heimstunden die Stegreif-, Gesellschaftsspiele und Scharaden. Sie bilden neben dem Singen und Tanzen die wesentliche Mitte musischer Betätigung. Freilich sind auch die Bemühungen um abendfüllende Stücke (vom Volksstück bis zum Studiospiel) in vielen Gruppen ein hervorragender Bestandteil volksbildnerischer Gruppenarbeit.

Verbänden, Vereinen und Betrieben gilt die restliche Beratungstätigkeit. Auch hier stehen die Kleinformen im Vordergrund, welche bei bunten Abenden und anderen Anlässen oft den Mittelpunkt bilden. Doch hat das Erwachsenenspiel vielerorts auch die Aufgabe übernommen, das Berufstheater zu ersetzen beziehungsweise zu ergänzen.

Bevor auf einige der wichtigsten österreichischen Spielorte eingegangen wird, soll noch auf einige Tendenzen hingewiesen werden, die sich im Laufe des letzten Jahrzehnts abzeichneten. Das Niveau der Texte befindet sich in stetigem Aufstieg, und österreichische Autoren, die sich einst dem Spiel fernhielten, werden immer mehr für dramatische Aufgaben gewonnen. — Es hängt sehr stark von der Initiative einzelner ab, ob gutes Spiel an einem Ort Fuß faßt und kontinuierlich weiter ausgebildet wird, ob es dort durch Jahre bestehen kann oder mit dem Umzug beziehungsweise der Versetzung des Spielleiters wieder erlischt. Am klarsten zeichnet sich die verantwortungsvolle Spielpflege in Heimen ab, die mit irgendeiner Schule (besonders Mittelschule) in Zusammenhang stehen, also vor allem in Internaten. Hier sind es bei weitem nicht nur die Spiele für jahreszeitlich bedingte Fesitanlässe, welche laufend gepflegt werden, vielmehr scheint besonders der Ruf nach Zeitproblemen und die Auseinandersetzung mit ihnen im Vordergrund zu stehen. Es ist überhaupt interessant, wenn man feststellen kann, daß gleich nach Erscheinen eines solchen Textes dieser in vielen Orten fast gleichzeitig aufgegriffen wird. Einige wenige Beispiele sollen das illustrieren: Gräffhagens „Treffpunkt Korea” wurde bei den Redemptoristen in Katzelsdorf (NÖ) aufgeführt, im Linzer Priesterseminar, im Missionshaus Bischofshofen, im bischöflichen Knabenseminar in Graz, in Tanzenberg und Wolfsberg (Kärnten) und so weiter. Kuhns „Jedermann 56” tauchte auch fast gleichzeitig in Saalfelden, bei den Innsbrucker Redemptoristen, in Grazer Internaten, in Wiener Neustadt und Wien auf; ein weiteres Werk um die mitmenschliche Verantwortung und Entscheidung, nämlich Breisachs „Ich kann die Verantwortung nicht übernehmen”, im Hollabrunner Knabenseminar, in Bludenz und Göfis, Altmünster und mehrfach in Wien, Graz, Linz und Klagen- furt. Aber auch wenn ein allgemeingültiges Problem in heiterer Form und mit dramaturgischem Können behandelt wird, wie dies etwa in Wassermanns „Prozeß um des Esels Schatten” (nach Wieland) der Fall ist, so greift man ebenfalls in vielen Orten fast gleichzeitig danach: Hollabrunn, Zwettl (NÖ), Bischofshofen, Seckau, Steyr, Linz, Salzburg und mehr|ach in anderen Landeshauptstädten.

Daß in kleineren Orten wesentlich mehr Spiele gestaltet werden als in den großen (in Relation zur Einwohnerzahl), mag als letztes Phänomen vermerkt werdet!,’ hängt wohl aber nicht zuletzt mit der Wirksamkeit der Berufsbüfanen zusammen, mit Unterhaltungsüberangebot und dem Trend der städtischen Erzieherschaft zur Unterbewertung der Selbstbeschäftigungsformen. So ist etwa für einen Lehrer oder Jugendführer weniger Arbeit nötig, wenn in Unterricht oder Gruppenstunde Filme und Dias vorgeführt werden, als wenn das gleiche Thema in Spiel und Proben gültig erarbeitet wird. Überhaupt erkennt man die persönlichkeits- und gemeinschaftsbildende Kraft des Spiels in den kleinen Orten stärker als in den großen.

Stellvertretend für einige Dutzend Bemühungen um das sogenannte Studiospiel sollen hier noch drei in den Bundesländern wirkende Gruppen genannt werden, die seit vielen Jahren versuchen, die äußersten Grenzen der für Laien spielbaren dramatischen Formen und Autoren zu erproben. In ihrem Spielplan wird wohl am deutlichsten erkennbar, wie weit heute die Aufgabe des Laienspiels und Amateurtheaters reicht und wie groß der Bogen in Österreich ist, der die schlichtesten Spielformen ebenso einbezieht wie die Werke von Autoren mit Weltruf.

In Innsbruck ist es die Gruppe „Der Ring”, welche sich seit Jahren einen guten Ruf verschaffte und auch naheliegende und Südtiroler Städte mit ihren Bemühungen bekannt macht (Leitung: Anton Resseguier). Der „Urfaust” wurde von ihr gleich in drei verschiedenen Inszenierungen dargeboten. Kurzspiele und Einakter von Cocteau, Genet, Ionesco, Tardieu und Wilder standen ebenso im Programm wie Hausmanns „Fischbecker Wandteppich” und Osbornes „Blick zurück im Zorn”. Auffallend erscheint die Spielplanidentität der nächstgenannten Gruppe bei Anouilhs „Antigone”, Claudels „Verkündigung” sowie Hofmannsthals „Der Tor und der Tod” und Melis „Apostelspiel”.

Für Vorarlberg ist schon seit elf Jahren das „Feldkirchner Studio” unter der Leitung Eugen Andergassens tätig; einerseits als Ergänzung zur dortigen Landesbühne, welche sich experimentelle und nicht kassenfüllende Stücke kaum leisten kann, und anderseits zur weiteren Vervollkommnung der Laienspieler und Spielleiter, die aus den dortigen Abendschulungen hervorgehen. Die Werke des Gruppenleiters wurden hier erstaufgeführt, aber auch Pirandellos „Krug”, Tagores „Postamt” und Walsers „Abstecher” für unser Laientheater erarbeitet. Von Felix Braun und Rudolf Henz reicht der Bogen des religiösen Spiels bis hin zu Stefan Andres („Gottes Utopia”) und zum Versuch des Musicals („Halleluja, Billy” von Lange und Barbe).

In Graz wirken schon seit 1951 „Die Spielvögel” (Leitung: Harald Kopp und Ingo Wampera), welche die Aufgabe übernommen haben, neue und unbekannte Werke für andere Gruppen „zurechtzuspielen”. Seit sie mit Beginn des Vorjahres ihre eigenen Studioräume eröffneten, ergibt ihre Arbeit dort zusätzlich eine Ergänzung des Berufstheaterspielplans. Besonders zu erwähnen sind hier die Versuche, Hörspiele für das Amateurtheater zu gewinnen (Bölls „Die Spurlosen”, Hombergs „Schnapsidee”, viele Haßlinger-Texte und so weiter), die tatsächlich eine Fundgrube eröffneten und auch für das Ausland richtungweisend waren. Klassikerbearbeitungen — vor allem für das Mittelschulspiel — haben sich im heiteren Genre hervorragend bewährt: Plautus, Shakespeare, Moliere, Goldoni, auch sehr die Spanier Cervantes, Lope de Vega, Tirso de Molina. Freilich beschäftigt man sich auch stark mit heutigen Dramatikern. Mrozeks „Polizei” wurde zum Serienerfolg, ebenso Candonis „Die Schneebälle”, aber auch Hochwälder, Graß, Audiberti, Tardieu, Wilder und viele andere wurden hier für das österreichische Spielwesen entdeckt. Daß das den „Spielvögeln” angeschlossene Kabarett „Die Tellerwäscher” durch seine bisherigen Programme mit über hundert Aufführungen eine wesentliche Bresche für das Jugendkabarett geschlagen hat, sei noch ergänzend erwähnt.

Schon vor zwölf Jahren konnte sich das österreichische Spielwesen im Rahmen internationaler Begegnungen bewähren, und bei den seither jährlich stattfindenden internationalen Spielwochen (besonders in Korbach und am Scheers- berg bei Flensburg) sind ausnahmslos österreichische Gruppen zu Gast; hauptsächlich die beiden zuletzt genannten konnten auch dem Ausland starke Impulse geben, freilich auch die dort gesammelten Erfahrungen für unser Land fruchtbar machen. Ja, es ist geradezu schmerzlich, wenn man feststellen muß, daß das Ausland voll Achtung auf die österreichischen Spielbemühungen sieht und wie wenig die zuständigen Stellen unseres Landes von ihnen Kenntnis nehmen. Natürlich bestätigen hier die wenigen Ausnahmen die Regel, aber man horcht auf, wenn man entdeckt, daß nicht einmal ein dreißigstel Prozent jener Summe für die gesamte Förderung des österreichischen Spiels aufgewendet wird, die dem Berufstheater zufließt. Könnte man doch endlich überall einsehen, wie wichtig die Pflege des Spiels ist, vom einfachsten bis zum anspruchsvollsten, wenn Österreich auch künftig eine führende Stellung auf dem Sektor des Theaters einnehmen will!

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