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STICHWORT: DRAMATURGIE

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Es gibt Stichwörter der minderen und gehobenen Umgangssprache, die sofort eine süßsaure Reaktion auslösen: Geld natürlich hat auch der zuwenig, der nie genug bekommen kann, Steuer wie kommt man dazu, daß sie immer dazukommt?, Proporz pro? pro patria etwa?, Staatsbürgerschaft selbstverständlich ist immer jene die beste, die man gerade nicht besitzt und Koexistenz die manche als K.-o.-Exi- stenz verstehen wollen.

Ein solches Stichwort ist im Theaterleben der Titel: Dramaturgie. Ein Schauspieler ist meist davon überzeugt, sie sei ein superintellektuelles Hirngespinst; ein Dramatiker, sie sei so etwas wie eine riesige Kreuzspinne, die heimtückisch seine neugeborenen Stücke frißt, bevor sie sich des Rampenlichtes freuen dürfen; ein Intendant, sie sei ein notwendiges Uebel, das er notfalls auch selbst anrichten könne; ein Kritiker, sie sei jedenfalls schlechter als ihr Ruf. Das Publikum ist dagegen oft harmlos. Es vertraut dem fremdklingenden Vokabel und meint treuherzig, ein Dramaturg sei wenigstens eine Art Generaldirektor. Wenn es wüßte...

Nun, die Zeiten scheinen vorbei zu sein, da man den Dramaturgen ins Dachbodenstübchen verbannte und er, mangels anderer Ehren, das von vier Stockwerken verursachte Herzklopfen seiner Besucher für aufgeregten Respekt nehmen mußte. Der Einfluß der Dramaturgen auf die Spielplanpolitik wächst beinahe unmerklich, aber stetig von Jahr zu Jahr; manchenorts ist wirklich die Stellung erreicht, die theoretisch schon immer .zugebilligt worden ist: zweiter Mann im Haus, künstlerisches Gewissen. Durchaus rätlich ist es also, die künstlerische Gesinnung der Dramaturgen kennenzulernen, wenn das Gesicht ihrer Theater erkannt und kritisch angestrahlt werden soll.

Wir haben uns drei Gretchenfragen zurechtgelegt:

Nach welchen Maßstäben werden Stücke beurteilt und für den Spielplan gewählt?

Wie- schätzen Sie heute die internationale Stellung der Theaterstadt Wien ein?

Welche stilistische Entwicklung erwarten oder erhoffen Sie vom deutschsprachigen Drama? Welche hielten Sie für aussichtsreich und für notwendig? Glauben Sie an eine Zukunft des Realismus?

Diese Fragen fordern ein „Credo“ heraus — gerade darauf kommt es uns an, wohl wissend, daß der Vergleich der Antworten den Wert eines Tests für die Zukunft unserer drei großen Sprechbühnen beanspruchen darf.

DIE VERLIESE DES BURGTHEATERS

Wenn man linker Hand vor dem Gitterportal des Burgtheaters steht und kaum wagt, sich durch die schmächtige Pforte zu winden, fürchtet man wahrhaftig für Leben und Freiheit der hier ansässigen Dramaturgen. Unbewiesen fände ein Spaßvogel Glauben, wenn er erklärte: Hier schmachten die doctores und professores, fest in Eisen geschlossen, vor der vollzähligen Weltliteratur und werden erst in späten Abendstunden, wenn sie nachweislich drei, vier Stücke besprochen haben, unter Bewachung heimgeleitet. Aber es ist ganz anders.

Die schmale Treppe führt nicht abwärts in papierdurchraschelte Gewölbe, sondern aufwärts, wie klassischer Höhenflug. Den „Kon- finierten" ist gestattet, mit der Umwelt telephonisch in Verbindung zu bleiben, sie kommen auch zum Empfang zur Tür und erweisen sich sogleich als temperamentvolle, ungebrochene Persönlichkeiten, die ein offenes Wort zu führen und zu schätzen wissen. Unser Attentat gilt dem neuen Chefdramaturgen, Professor Friedrich Schreyvogl. Mit entfesselter, brillanter Plauderlust kommt er zur Sache:

„Grundlage der Spielplangestaltung hier wie anderswo ist das Konzept des Direktors. Den Kurs eines Schiffes bestimmt der Kapitän, und die Mannschaft hat sich an seine Weisungen zu halten. Ich selbst nun habe es mir zum Prinzip gemacht, gerade bei ausländischen Autoren die lebendigsten Stücke zu begünstigen diese müssen durchaus nicht immer die besten oder die erfolgreichsten sein. Darunter verstehe ich Arbeiten, in denen neue Begriffe, neue Menschen, neue Situationen gestaltet worden sind. Diese Lebendigkeit schätze ich, die Phantasie und die persönliche Schau eines dramatischen Dichters. Generell für das Burgtheater wäre zu sagen, daß es am Prinzip .Welttheater’ festhalten soll und wird — Welttheater aller Zeiten und Länder von den Anfängen der Kultur bis herauf in unsere Gegenwart.“

„Die alten Theaterzentren haben sich aufgelöst. Heute ist die Rolle einer Theaterstadt nur noch eine Relation. Wir sehen uns im deutschsprachigen Raum einer Reihe von gleichberechtigten Hauptschauplätzen gegenüber: Hamburg, Berlin, Bochum, Frankfurt am Main, München, Stuttgart, Zürich und anderen. Innerhalb dieser Umschichtun? hat Wien wohl etwas an Glanz eingebüßt, aber wir stehen nicht im

Hintergrund. Wien als Theaterstadt lebt im Bewußtsein und in der Vorstellung von Millionen."

„Und welcher Art, glauben Sie, ist diese Vorstellung? Wofür hält man uns?"

„Für konservativ. Leider. Höffen wir, daß daran die Zukunft einiges ändert. Der Charakter einer Theaterstadt freilich kann nicht organisiert werden, er ist eine Sache der Menschen, die spielen und für die gespielt wird.“

„IcJj muß wohl vorausschicken, was ich unter .Realismus’ verstehe. Realität ist das Sichtbare und das Unsichtbare, alles Wirkende und Gegenwärtige, auch wenn es unseren Sinnen entgeht. Die Schwingungslehre hat bewiesen, daß unser Ohr bestimmte Tonhöhen und -tiefen nicht mehr einfängt, trotzdem bestehen diese nicht hörbaren Töne als Realität. Ein Dichter nun, möchte ich sagen, ist begabt, die Grenzschwingungen unserer Existenz wahrzunehmen, zu gestalten und uns das Ohr zu öffnen. Gerade wenn er realistisch schreibt, geht er über die übliche Realität hinaus. Der Dramatiker der Zukunft wird jener sein, der das wahre Menschenbild darzustellen weiß, samt seinen Ober- und Untertönen. Des üblichen Realismus wird er sich wohl nur bedienen, um das Vertrauen der Zuschauer zu gewinnen, um dann, wenn er es besitzt, seine Funde, seine neue Sicht vorzubringen.“

JOSEFSTÄDTER KAMMERSPIEL

Der „Josefstadt“ wird nachgesagt, sie sei ein Theater mit Familiensinn. Das Ensemble praktiziere im Privatleben glückliche Schauspielerehen ebenso vollendet, wie es auf der Bühne den gedämpften Kammerton des Familienstücks aller literarischen Preislagen trifft. Zweifellos ist die „Josefstadt" auch von Seiten des Publikums ein Familientheater, das bevorzugt in Stärke eines mittleren Konvois besucht wird. Die samtene Ruhe geordneter Verhältnisse herrscht im dämmerigen Raum der Josefstädter Dramaturgie. Vor einem gemütlichen Rauchtischchen antwortet Dr. Kropatschek sehr konzentriert und zergliedernd, wie es seine Art ist:

„Wir wählen unseren Spielplan zunächst nach einem absoluten Maßstab, den ich als Kongruenz von Inhalt und Form definieren möchte. Die Form kann dabei ohne weiteres frei — also episch, selbst filmisch —, nicht aber darf sie rein experimentell sein. Dafür haben wir das Kleine Theater im Konzerthaus. Außerdem muß das Stück sich den spezifischen Gegebenheiten des Hauses, seinem Raum, seiner Atmosphäre, seinem Ensemble und seinem Publikum zuordnen lassen. Ich meine das aktuelle Problemstück, das durchaus heiße Eisen anfassen kann und soll, aber nicht nur quälend oder abstrus sein darf. Auch hier ist so etwas wie eine kathartische Wirkung das Ziel und der Sinn einer solchen Stückwahl. Ebenso entspricht uns der räumlich und personell zu bewältigende Klassiker: poetisches Theater aller Zeiten, dessen Poesie nicht Part pour Part ist. Besonders gesucht und gepflegt wird selbstverständlich das kultivierte Gesellschaftsstück, das Konversationsstück mit Niveau und Geschmack und wenigstens angedeutetem Hintergrund. Glücksfälle, wie Hofmannsthals .Der Schwierige’, sind allerdings, wie Sie wissen, leider nur zu rar.“

„Gibt es.. Stücke, die unbesehen ihrer, ‘Jfhe/uen wegen fün das Josefstädter Theatgr wffanW tracht kommen?“

„Langjährige Publikumserfahrung hat uns eine Reihe thematischer Tabus nahegelegt: reine Kriminalstücke und .Geister’stücke, übersinnliche Taschenspielereien sind in unserem Haus noch nie erfolgreich gewesen.“

„Wien als Theaterstadt war und ist in erster Linie eine Stadt der großen Schauspielerpersönlichkeiten, also der Interpretation. Demnach müßten die durchaus notwendigen Anstrengungen aller Wiener Theater zunächst dem Ziel gelten, nicht nur gelegentlich, sondern möglichst immer ebenso perfekte wie auch in einem modernen, aber soliden Sinn interessante, aufregende Aufführungen zustande zu bringen. Wobei es hier am meisten mangelt, ist der überragende Regisseur, der Reinhardt unserer Zeit, unter dem spielen zu dürfen selbst jedem Film- und Fernsehstar eine Lust, ein inneres Anliegen bedeutet. Ist Wien als Stadt solcher Musteraufführungen einmal international bekannt, wird es keinem vernünftigen Verleger und selbst keinem Weltautor mehr einfallen, bei Ur- und Erstaufführungen Wien auszuschließen, da ja anzunehmen ist. daß dann auch die Kritik sich positiv einstellt.“

„Wie in allen anderen Kunstsparten, zeigen auch die dramatischen Werke der Gegenwart die unterschiedlichsten Formen. Einem bestimmten Ismus die Zukunftspalme zu reichen, scheint mir nicht angebracht. Sicher ist, daß der — allerdings auch heute immer wieder auftauchende — platte Naturalismus abgewirtschaftet hat. Aber hatte er das nicht schon zu seiner Entstehungszeit? Auch Gerhart Hauptmanns beste Werke zeigen magische Ueberhöhung: Ebenso scheint mir reine Abstraktion dem Wesen des Fheaters zuwider theaomai heißt schauen!. Es vird wie immer und überall auf die echte, starke Dichterpersönlichkeit ankommen, auf den geborenen’ Dramatiker, der sich die seinen In- ralten einzig gemäße Form selber schafft. Vieleicht in höherer Synthese einen poetisch-magi- ;chen Realismus? Diese Inhalte mögen um die :wigen Themen der Menschheit kreisen: alle jpielarten der Freiheit — .Der Mensch und die Mächte’: die kosmischen, geistigen und die in einem Innern.“

DAS GRAUE HAUS

Wien ist die Stadt berühmter „grauer -läuser". Da ist einmal jene Delinquentenkaserne, die den terminus erst so recht bekanntgemacht hat. Da sind aber auch die Universität, die Museen, die Alte und die Neue Hofburg und das Parlament, die alle dem Mutterhaus an Gräue nicht nachstehen. Denn Grau ist die Farbe der Tugend. Gleich mächtig herrscht sie innerhalb der grauen Quadern, einmal als Gouvernante, einmal als ratspendende Göttin, einmal eben auch als blinde Gerechtigkeit. Lob dem Volkstheaterr daß es seit seiner äußeren Renovierung eines der grauesten Gebäude ist, hellgrau, mausgrau: eine Synthese von Erfahrenheit und Jugendfrische.

Erfahren und jugendfrisch gibt sich auch der Dramaturg des Hauses, Franz Tassie, einstmals gefürchteter Kritiker, jetzt vertraglich verpflichtet, seine Meinung bei sich zu behalten. In seinem von Textbüchern erdrückten Zimmer begrüßt er den Besuch mit einigen noblen, makabren Scherzen, wie um auszuprobieren, ob er sich in gleichgesinnter und freundlicher Gesellschaft befindet. Dann zum Thema:

„Wir suchen die Qualität, die der Autor als Autor darstellt. Es gibt glänzend gemachte Stücke, die trotzdem keinen Autor besitzen. Die Handschrift wird gesucht, das eigenwillige Temperament. Deshalb spielten wir etwa Os- bornes .Blick zurück im Zorn’. Das Geschäftsmoment ist, an dieser Primärforderung gemessen, an einem subventionierten Theater eher zweitrangig.“

„Bevorzugen Sie bestimmte Themen?“

„Nein. Ich sehe darauf, wie das Thema gemeistert und gestaltet wurde. Das Stück muß interessant sein, nicht bloß sein Thema.“

„Wie denken Sie über die jungen österreichischen Dramatiker?“

„Das sind Individualisten ohne Persönlichkeit. Es fehlt schon an den handwerklichen Primärfaktoren. Jedem wäre zu empfehlen, je hundertmal die Stücke der französischen Boule- vardiers zu lesen."

„Also vermissen Sie Perfektion?“

„Nein, nein, es gibt nichts Perfektes. Ich vermisse die Persönlichkeit, die sich in der theatralischen Durchführung eines Themas offenbart. Denken Sie an .Hamlet’ - ohne Shakespeares Durchführung, auf den Inhalt reduziert, wäre es ein dummes Stück.“

„Glauben Sie, daß der Dramatikerkrise mit Stückaufträgen beizukommen ist?“

„Nein. Die Freiheit des Autors soll gewahrt bleiben. Unbedingt.“

„In Wien wird nicht besser oder schlechter Theater gespielt als in Deutschland. Lediglich der Stil ist anders, weil das Publikum anders ist. Qualität liegt dann vor. wenn es gelang, das Publikum zu packen. Im übrigen muß ich sagen, daß Wien keine Theaterstadt ist. Denn eine Theaterstadt bemüht sich um den Autor, nicht um den Schauspieler. Nicht, daß ich die Wiener Neigung, nicht des Stückes, sondern der Interpretation wegen ins Theater zu gehen, für einen ungesunden Standpunkt hielte — sie ist ein bedauerlicher Standpunkt. Bedenken Sie, bei gleichwertigen Aufführungen des Spiels .Unter dem Milchwald’ kamen in Wien sechs, in Berlin etwa sechzig Aufführungen zustande. Ob sich daran in Zukunft etwas ändern wird? Nur dann, wenn sich das Erziehungssystem ändert, wenn man aufhört, die Menschen hier von Kind, an zu Papageien zu erziehen. Eigene Urteilskraft ist Gewohnheit, sie muß anerzogen sein. Den Wienern wäre mehr vom amerikanischen ,good will’ zu wünschen."

„Das moderne Drama wird uns der Autor zeigen, der es zu schreiben versteht.“

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