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VERSUCHSFELD DER WIRKLICHKEIT

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Ganz Prag spricht augenblicklich von einem Stück, das erstaunlicherweise aus Westdeutschland stammt, von Claus Hubaleks moderner Antigone-Paraphrase „In Theben wohnen keine Helden”. Als westlicher Besucher fragt man sich zuerst, warum denn ausgerechnet dieses bei uns doch keineswegs so erfolgreiche Werk in Prag so gut ankommt. Doch die Antwort ist schon wenige Minuten, nachdem der Vorhang in dem kleinen „Theater am Geländer” (Divadlo na Zähradli) aufgegangen ist, vollkommen klar. Der gegen die Verbrechen unter Hitler und gegen die bequeme Spießbürgerlichkeit gerichtete Stoff eignet sich vortrefflich als Chiffre für die eigenen heutigen Probleme. Die von den Nazis getöteten Fremdarbeiter erinnern an die Opfer Stalins, und der Ruf der Antigone, nicht zu vergessen, muß so manchen heute noch einflußreichen Machthabern sehr unangenehm in den Ohren klingen. Gerade dieses Stück ist ein anschauliches Beispiel für die Blickrichtung des heutigen Prager Theaterbesuchers, der die Bühne mit ganz anderen Augen sieht als wir. An der Moldau wird jedes Werk vom Publikum auf die politische Situation bezogen, das Theater und überhaupt die Kunst sind der Testraum des hartnäckigen Experiments der Freiheit.

Dasselbe „Theater am Geländer”, das übrigens die einzige nicht subventionierte, „private” Bühne Prags ist, beherbergt neben dem Schauspiel noch die Pantomimengruppe Ladislav Fialkas und das berühmte „Schwarze Theater”. Ich konnte mich überzeugen, daß in diesem Haus der Aufführungsstil so präzise, so hart und international gültig ist, wie kaum auf einer anderen Prager Bühne. Und tatsächlich arbeiten heute dort die zwei besten Theaterleute des Landes: der einstige Direktor des großen „Nationaltheaters” Otomar Kresca als Regisseur und Josef Svoboda, einstiger Ausstattungschef desselben Theaters und Mitbegründer der „Laterna magica”, als Bühnenbildner. Die außerordentliche Wirkung des „Schwarzen Theaters” beruht auf seiner Symbolik: im Vordergrund der stumme Mensch, der sich nur durch Gebärden ausdrückt, und um ihn herum die unsichtbar entgegengehaltenen Requisiten — reale und abstrahierte Hemmnisse. Im Licht sind die Figuren und schwebenden Chiffren der feindlichen Wirklichkeit, alles andere verschwindet durch die schwarze Kleidung vor schwarzem Vorhang. Erschütternd vor allem die Szene „Arena”, in der die einzelne Person von Papierballen gestürzt, von Stäben getötet wird, oder „Die Koffer”, in der zwei Gegenspieler mit immer größeren Koffern (Symbolen von Macht und Besitz) prahlen, bis sie vom größten selbst verschlungen werden. Überhaupt ist das „Schwarze Theater” als solches ein Symbol für die Situation von „drüben”, für deren Probleme und den durch sie provozierten künstlerischen Erfindungsgeist. Drei akademische Maler, ein Bildhauer, der die CSSR im Londoner „Museum of modern Arts” vertritt, eine Doktorin der Philosophie spielen mit, die lebendigen jungen Kräfte Prags wirken auf dieser Bühne weit in die Zukunft.

Es zählt zu den sympathischen Merkwürdigkeiten dieser Stadt, daß nicht nur auf dieses Theater, sondern auch auf das „Semafor” sogar von ganz offiziellen Stellen nachdrücklich aufmerksam gemacht wird. Die Leistungen sind unbestreitbare Tatsachen geworden, und so weist man lieber selbst darauf hin. Das „Semafor” ist die zweite „inoffizielle” Bühne, eigentlich ein literarisch-musikalisches Kabarett, das natürlich auch mit dem „Sozialistischen Realismus” nichts zu tun hat. Momentan läuft dort die Zwei-Mann-Show „Jonas und Tingel-Tangel”, wobei sich reichlich die Gelegenheit ergibt, an Hand verschiedener Chansons Schauplätze wie Wien, Paris und London zu besuchen. Der dazu gespielte Jazz ist scharf und voll musikantischem Schmiß, im Zuschauerraum sitzt hauptsächlich Jugend — und die Karten sind für Monate ausverkauft.

An kleineren Bühnen gibt es noch das „Rokoko-Theater”, das eben Mrozeks Einakter „Die Polizei” und „Die Schiffbrüchigen” zeigt, dann das „Theater ABC”, das „Realistische Theater” und das „Burian-Theater”. Doch ist ihre Bedeutung in den letzten zwei Jahren zurückgegangen. Auch von der inzwischen im Westen längst bekannten „Laterna magica”

spricht man in Prag weniger als noch vor zwei Jahren, als ich das letzte Mal diese Stadt besuchte. „Ja, die beiden Begründer, Alfred Radok und Josef Svoboda, sind inzwischen ausgeschieden.” Warum? Vielsagende Handbewegung. Nun, die Produktion ist ungemein teuer, ein abendfüllendes Programm kostet über drei Millionen Schilling und da wollte man wenigstens den offiziellen Stil. Die zweite, von anderen geschaffene Nummer „Hoffmanns Erzählungen” fiel deutlich ab, und nun läuft eine Zusammenstellung von nicht verwendeten Produktionsteilen des ersten Programms mit einem anderen Regisseur unter dem Titel „Variationen”. Auch dieser Abend ist noch ein starker Eindruck, denn es geht hier immer wieder um filmisch ausgedrückte Symbole der Freiheit: um das Flugzeug, um den Rollschuhläufer, der märchenhaft durch den dichten Verkehr der Straßen gleitet, vor dem alles zurückweicht, und überhaupt, in jeder Variation findet man die Auflösung der kompakten Wirklichkeit.

Interessant unter den größeren Bühnen ist das „Theater der Armee”, wo ein junger Regisseur (Jaroslav Dudek) eine Bühnenbearbeitung und Weiterführung von Karel Capeks „Krieg mit den Molchen” inszeniert hat. Der ebenfalls junge Dramatiker Pavel Kohout mischte in Capeks Satire erhebliche Mengen recht scharf gepfefferter Aktualität, die vor allem in dem von ihm allein stammenden zweiten Teil reichlich enthalten ist. Allerdings glaubt man sich auch hier oft in einem riesigen Kabarett, das mit Filmprojektionen (Wochenschau und fingierte Wochenschau), mit Montagen aller Art, heißem Jazz und einer Unzahl Schauspieler geradezu virtuos umgeht. Achtzig volle Aufführungen gab es bereits, aber ein Ende der Beliebtheit ist noch nicht abzusehen.

Vom „Narodni Divadlo”, dem „Nationaltheater”, ist es Prag am wenigsten die Rede. Auch dort hat während der letzten zwei Jahre die Leitung gewechselt, der allseits gerühmte Otomar Kresca legte die Direktion nieder und arbeitet dort nur mehr gelegentlich als Regisseur. Die Aufführung von Shakespeares „Die lustigen Weiber von Windsor”, die ich im Ständetheater sah, konnte man nur mühsam durchstehen, die komödiantische Übertreibung war arg provinziell, die Regie hatte wohl bei Pirandello gelernt, aber es fehlte vollkommen an darstellerischer Disziplin. Auch über andere Aufführungen — von Ausnahmen abgesehen — hört man nichts Gutes. Sehr schwach war ebenfalls ein Opernabend im großen Haus an der Moldau, an dem man die wunderbare „Rusalka” von Anton Dvorak gab. Schon das Orchester spielte glanzlos, trocken (sehr im Gegensatz zur „Prager Philharmonie”), der Dirigent Jan Tichy ließ die Komposition auseinanderfallen, und die Sänger waren mit Ausnahme des Bassisten für unser Urteil Kräfte dritten Ranges.

Insgesamt 22 Bühnen gibt es in Prag, und obwohl so manche in der letzten Zeit an Niveau verloren haben, kann man doch von einem sehr regen und interessanten Theaterleben sprechen. Es gibt einige neue tschechische Stücke — augenblicklich am meisten diskutiert sind die „Schlüsselbesitzer” von Milan Kundera (ebenfalls einem Werk voller aktueller Parallelen) — und auch an westlichen Importen fehlt es nicht: eben sind Dürrenmatts „Physiker” sehr erfolgreich, man spielte Max Frischs „Chinesische Mauer”, Schehades „Geschichte von Vasco”, Tennessee Williams’ 1 „Glasmenagerie”, Ionescos „Nashörner” und vieles andere, aber natürlich nicht Claudel und Eliot. Das Publikumsinteresse ist nicht nur quantitativ außerordentlich, sondern auch im geistigen Sinn von einer Intensität, wie wir sie bei uns kaum kennen. Und das ist verständlich, da dort auf der Bühne die Wirklichkeit getestet wird: die Zeichen der Liberalität und Kritik waren und sind „drüben” immer zuerst im Theater und überhaupt in der Kunst zu sehen. Man strömt zum Schauspiel, um zu erfahren, „wie weit man jetzt gehen kann”, wie der politische Kurs steht und was den gescheitesten Köpfen an Symbolen der Freiheit und eines besseren Lebens eingefallen ist. In Prag ist Theater, ist die Kunst eine Lebensnotwendigkeit wie Brot. Tatsächlich besteht dort ein „funktionelles” Theater, — aber in der genauen Umkehrung der von den Politikern gewünschten Funktion.

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