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Wenig Impulse

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Das Theater vermag wesenhaft die menschliche Situation zu erfassen, sie dem unmittelbaren Erlebnis darzubieten. Wer dies für notwendig, von besonderer Bedeutung erachtet, muß wohl wünschen, daß die Wirkung der Bühnen eine möglichst weitreichende sei. Ihre lebendige Kraft erweist sich an den Impulsen, die von ihnen ausgehen. Hat das Wiener Theater diese lebendige Kraft? — Was die Musik, das musikalische Theater betrifft, ist in der Lausanner „Gazette litteraire" zu lesen, Wien sei von erstickender Tradition, sei erstarrt, sieche dahin. Stimmt das? Trifft es auf das gesamte Theater zu?

Nun ist eine Spielzeit zu Ende, die Festwochen sind vorbei, die Frage stellt sich, wie die Bilanz des Wiener Theaters aussieht, welche Funktion den Festwochenveranstaltungen gegenüber den laufenden Darbietungen zukommt. Da drängt sich die wenig erfreuliche Feststellung auf, daß unsere Bühnen fast nur Nachspielbüh-nen sind, sie führten an neuen Stük-ken von September bis Mitte Mai auf, was in der Bundesrepublik oder in der Schweiz schon gespielt wurde, von Forte bis Henkel, von Storey bis Barnes.

Das ist zweifellos regional notwendig, hat regionalen Wert, damit man in der Entwicklung nicht völlig stekken bleibt, aber Impulse können von solchen Vorstellungen nicht ausgehen. Sie sind überregional bedeutungslos. Was die Wiener Kritik zu diesen Stücken zu sagen hat, hat ebenfalls nur regionale Bedeutung, da über diese Werke vielfältige Urteile außerhalb unserer Grenzen längst gefällt wurden. Nun gibt es gewiß auch gelegentlich Uraufführungen und vereinzelt deutschsprachige Erstaufführungen, aber es zeigt sich, daß es meist schwächere Stücke sind, die im Ausland wenig oder gar keinen Anwert finden. Die vorjährige Aufführung von Turrinis „Rozznjogd" im Volkstheater war eine einsame Ausnahme.

Was aber die Neuinszenierung der

Meisterwerke von früher betrifft, gab es zweifellos durchaus gute Aufführungen, aber sie konnten in keiner Weise über Wien selbst hinauswirken. Nur Theaterleute täuschen sich darüber hinweg. So wurde es auch versäumt, die neue Sicht auf Grillparzer endlich szenisch wirksam zu machen, wonach sich die Neu-eroberurag der ausländischen Bühnen für seine Stücke ergeben könnte.

Welche Akzente setzen nun die Wiener Festwochen? Kennzeichnend für sie ist es, daß ihre Aufführungen zu vier Fünfteln vom heimischen Publikum besucht werden, man veranstaltet sie also zum überwiegenden Teil für die Wiener selbst. Daraus ergibt sich die Forderung — soll die Bezeichnung „Festwochen" berechtigt sein —, daß Besonderes geboten werde, das man in der übrigen Spielzeit nicht sehen kann. Dies müßte zunächst gerade auch für die Wiener Großbühnen gelten, nicht nur für die Veranstaltungen der Festspielleitung. Die führenden Theater Wiens steigerten aber keineswegs ihre Attraktivität. Das galt wohl auch für die Akademiietheater-Premiere unter der Regie von Peter Hall, da Direktor Klingenberg auch sonst Regisseure von internationalem Rang heranholen wird, von Bar-rault bis Strehler. (Im übrigen hat Hall das gleiche Stück schon in London und New York inszeniert.)

Da nun heben sich um so mehr die Veranstaltungen des Festwochenleiters Ulrich Baumgartner heraus. Im musikalischen Sektor fand die Wiener Kritik die Felsenstein-Inszenierung der Komischen Oper Ost-Berlin nur mit Einschränkungen fesselnd, da man hier, wie festgestellt wurde, die Regie-Oper als ungewohnt, als fremd empfindet, auf „schöne Stimmen, schöne Weisen" eingestellt ist. Die Darbietungen des Stuttgarter Balletts und des Indischen Ballets wurden allgemein anerkannt, da sie eine Erweiterung der Sicht mit sich brachten. Bei den Konzerten im Musikverein mit traditionellem, gefälligem Programm rühmte man das hohe interpretato-rische Niveau. Der Wettbewerb für Gesang, Violine und Klavier brachte zwar, nach Ausspruch Zuständiger, keine Entdeckung jüngster Talente, sondern die Prämierung bereits halbwegs Arrivierter, aber die Musikstadt Wien kam ein wenig ins internationale Gespräch, da über 100 junge Musiker nach Wien gelockt wurden.

Unter den Sprechtheateraufführungen zeigte vor allem das Bayerische Staatsschauspiel, München, daß immer noch packende Neuinszenierungen alter Stücke möglich sind, ohne daß sie gewaltsam manipuliert werden. Ein Österreicher hatte Regie geführt, zwei österreichische Darsteller spielten die Hauptrollen, weitere Österreicher waren eingesetzt. Diese Aufführung erregte bei der Münchner Premiere besonderes Aufsehen, sie wurde viel gerühmt. Symptomatisch ist es, daß diese Leistung von Österreichern nicht in Wien stattfand. Aber man konnte sich in Wien dank der Festwochen darüber informieren. Derartigen informativen Zwecken diente auch das Gastspiel des Thalia-Theaters, Hamburg, man sah Stücke, die man bei uns schon aufgeführt hatte, der Vergleich war möglich. Das galt auch für zwei von drei Aufführungen de* Gorki-Theaters, Leningrad. Ein uns vordem unbekanntes Stück machte mit szenischem sozialistischem Realismus bekannt.

Die Darbietungen „Arena 72" im Museum des 20. Jahrhunderts waren, soweit es sich um ausländische Ensembles bandelte, ebenfalls ausgesprochen sehenswert. Das Londoner „Young Vic" brachte seine witzige szenische Bearbeitung einer elisabethanischen Komödie in Wien zur Uraufführung, die musikalische Kerntruppe von „La Mama, New York", führte verschiedene Stücke in theatralisch wirksamer Umsetzung vor, was der „Magic Circus-Paris" bot, wurde als „Austobe-Theater" bezeichnet, „das niemandem weh tut". Gemeinsam war diesen Aufführungen, die sich dem totalen Theater zuordnen, daß die Schauspieler nicht nur gewissermaßen „mit den Händen in den Hosentaschen" spielten, von ihnen wird ungleich mehr verlangt, sie müssen geschulte Sänger, Tänzer sein, akrobatische Gelenkigkeit ist erforderlich.

Von den Veranstaltungen der Festwochenleitung können zweifellos Impulse ausgehen, regionale. Was dargeboten wurde, war geeignet, unseren Theaterleuten als Anregung, als Ansporn zu dienen. Es muß nur auch genützt werden.

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