6548576-1947_29_07.jpg
Digital In Arbeit

Wiederaufbau 1945 bis 1947 bei den Bundestheatern

Werbung
Werbung
Werbung

Das zweite Spieljahr der Bundestheater seit dem Verklingen des Waffenlärms ist vorüber. Wollen wir über das Erreichte ein Urteil abgeben, das halbwegs gerecht sein soll, so müssen wir auch versuchen, uns die Schwierigkeiten zu vergegenwärtigen, die sich auf diesem zweijährigen Weg aufgetürmt hatten und überwunden werden mußten. Die Eröffnungsbilanz des Jahres 1945 zeigte ein geradezu trostloses Bild: auf der Passivseite standen der Verlust der beiden weltberühmten Bauten, Burg und Oper, samt allen technischen Einrichtungen und fast des ganzen Kostüm-, Dekorationsund Requisitenfundus, somit der Verlust fast aller materieller Grundlagen eines Theaterbetriebes; auf der Aktivseite standen an materiellen Werten die erhalten gebliebenen, aber räumlich und technisch gänzlich unzureichenden Häuser Redouten-saal und Akademietheater, ein winziger Fundusrest und — an persönlichen und ideellen Werten — eine stark gelichtete Zahl bewährter künstlerischer und technischer Kräfte sowie der von tiefem Glauben an die künstlerisdie Berufung und Tradition Wiens getragene feste Wille, das Zerstörte wieder aufzubauen.

Dieser Wille äußerte sich zunächst darin, daß ohne langes Uberlegen über das Wie und Womit der Spielbetrieb in Form einer Arbeitsgemeinschaft mit geradezu verblüffender Schnelligkeit, der Hauptsache nach in provisorischen Heimstätten, wieder aufgenommen wurde. Man bedenke: schon am 30. April 1945 öffnete im Ronacher das Burgtheater seine Pforten, ihm folgten am 1. Mai die Oper im Volks-operngebäude, am 19. Mai das Akademietheater, am 5. Juni der Redoutensaal und endlich am 6. Oktober 1945 die Oper im Theater an der Wien. Um allein nur diese Leistung zu würdigen, vergegenwärtige man sich wenigstens flüchtig die damaligen Verhältnisse: mangels eines Telephons mußten alle Proben und Vorstellungen durch Boten angesagt werden, die Verkehrsmittel lagen still, zu Fuß über verschüttete Straßen kam das Personal an seine Arbeitsstätten, um sich nach der Vorstellung durch die unbeleuchtete Stadt förmlich nach Hause zu tasten, die Dekorationen und Kostüme wurden größtenteils auf Handwagen befördert ,viele Straßen weit mußte das nötige Wasser hergeschleppt werden, an Beschaffung nötigsten - Materials war nicht zu denken. Trotz dieser Verhältnisse brachte noch bis Ende 1945 das Burgtheater im Ronacher sechs, im Akademietheater sieben, im Redoutensaal zwei, die Staatsoper im Theater an der Wien neben zwei Balletten vier, in der Volksoper neben vier Balletten zwölf Werke und im Redoutensaal ein Werk heraus.

An ein Erstellen von Programmen auf weitere Sicht war damals nicht zu denken, man mußte aufgreifen, was unter den gegebenen Verhältnissen möglich erschien. Erst allmählich konnte das Vorhandene überblickt, gesichtet, in die Bahn einer geordneten Verwaltung gelenkt und ein Aufbauplan entworfen werden. Aber kaum in irgendeiner Zeit war und ist der Abgrund, der das Wollen vom Vollbringen trennt, schwerer zu überbrücken, als in der heutigen, in der, abgesehen von tausend Schwierigkeiten auf anderen Gebieten, schon die Beschaffung der kleinsten Kleinigkeiten des täglichen Bedarfs, wie Nägel, Glühlampen, Stoffen und anderen Materials aller Art, jedesmal ein beinahe* unlösbares Problem darstellt und in der jedes einzelne Werk von Grund auf neu einstudiert, in der jedes Kostüm und jedes Versatzstück in unzulänglicher Werkstatt fast aus dem Nichts neu hergestellt werden muß.

Wird .berücksichtigt, wie oft die Aufführung einzelner Werke durch räumliche Gegebenheiten bedingt war, so wirken die folgenden Daten über die Arbeit der zwei letzten Spielzeiten um so eindringlicher.

Das Burgtheater brachte im Ronacher 18, im Akademietheater 24 und im Redoutensaal 7 Werke, zusammen also 4 9 Werke heraus Unter diesen finden sich unter anderem zwei Dramen Grill-parzers („Sappho“ und „Ahnfrau“), drei Dramen Sdiillers („Kabale und Liebe“, „Die Jungfrau von Orleans“ und „Die Räuber“), ein Werk Lessings („Nathan der Weise“) und ein Drama Shakespeares („Hamlet“). Die Autoren verteilen sich auf folgende Nationalitäten: Österreicher 9, Amerikaner 2, Deutsche 7, Engländer 5, Franzosen 5, Italiener 1, Norweger 1, Russen 2, Spanier 2, Tschechoslowaken 1, Ungarn 2.

Bis zum Ende der Spielzeit 1946 standen die beiden Bühnen der Staatsoper, das Theater an der Wien und die Volksoper, unter einheitlicher Leitung. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden in der Volksoper außer drei Ballettabenden 14 Opern und 2 Operetten, im Theater an der Wien außer 2 Ballettabenden 8 Opern herausgebracht. Ab 1. September 1946 wurde .das Haus am Währingergürtel unter eine eigene Leitung gestellt und ist seither unter dem Namen „Staatsoper in der Volksoper“ neben der „Staatsoper im Theater an der Wien“ die zweite staatliche Opernbühne, wobei die im Interesse einer wirtschaftlidien Gebarung notwendige Gemeinsamkeit des Balletts, der Werkstätten und der Garderobeverwaltung aufrecht blieb In der seither verflossenen Spielzeit 1946/47 brachte die „Staatsoper im Theater an der Wien“ außer 1 Ballettabend 7 neueinstudierte und neuinszenierte Opern, die „Staatsoper in der Volksoper“ neu einstudiert und neu inszeniert 4 Opern und 1 Operette. Das Gesamtergebnis der Arbeit unserer staatlichen Opernbühnen seit 30. April 1945 sind also Neueinstudierungen und Neuinszenierungen von 6 Ballettabenden, 33 Opern und 3 Operetten. Unter den Opernwerken finden wir unter anderem außer Beethovens unsterblichem „Fidelio“ 4 Opern Mozarts („Figaros Hochzeit“, „Cosi fan tutte“, „Don Giovanni“, „Die Entführung aus dem Serail“), 3 Werke Richard Wagners („Tannhäuser“, „Walküre“, „Tristan und Isolde“), 2 Werke Richard Strauß' („Rosenkavalier“ und „Salome“) und 5 Opern' Verdis („Maskenball“, „Othello“, „Rigoletto“, „Ai'da“, „La Traviata“). Von den Autoren der 33 Opern und 3 Operetten sind 5 Österreicher, 4 Deutsche, 3 Franzosen, 6 Italiener, 2 Russen, 3 Tschechoslowakei.

Diese Zahlen beweisen, daß den verantwortlichen Faktoren sicherlich das vor-sdiwebte, was Heinrich Laube in die Worte gefaßt hat: „Ein“ vollständiges Repertoire ist das Ziel“, wobei unter „vollständig“ die Werke aller Kulturnationen ohne einseitige nationale Beschränkung begriffen werden wollen. Aber Laube fährt fort: „Und um dieses zu erzielen — ein vollständiges Personal.“ Diese Voraussetzung zu erfüllen, wurden die verschiedensten, zum Teil recht erfolgreichen Anstrengungen gemacht. Bedeutet doch die Verpflichtung von sdiarfprofilierten Künstlerpersönlichkeiten, wie Felscnstein und Lindberg, Wallerstein, Böhm und Knap-pertsbusch, sowie einer stattlichen Reihe von Darstellern und Sängern keineswegs ein Zurückdrängen der bewährten Kräfte der Häuser, sonder.i bezweckt, mit diesen zusammen jene großen Aufgaben zu meistern, die dieser notwendige und gewaltige Neubau des Repertoires mit sich bringen muß.

Fassen wir zusammen: Niemand, der gerecht sein will, wird leugnen können, daß in diesen zwei Spielzeiten allen Hindernissen zum Trotz eine gewaltige Arbeit geleistet wurde, die — wie so häufig in Österreich — manchmal von den Österreichern viel weniger gewürdigt wird als vom Ausland. Es sind zweifellos manche unserer Wünsche unerfüllt geblieben, und zwar sowohl hinsichtlich des „Was“ als auch hinsichtlich des „Wie“. Aber, um noch einmal den großen Kenner des Theaters, Heinrich Laube, zu zitieren, wir müssen uns doch auch fragen, „ob dieses Theater lauter Meisterwerke bringen könne“, und dürfen nicht vergessen: „Ein gutes Ensemble läßt sich nicht improvisieren.“

Jedenfalls ist es gelungen, in hohem Grade die Aufmerksamkeit des Auslandes auf die österreichische Bühnenkunst BT lenken. Und wenn wir auch nicht so vermessen sind, zu glauben, daß das französische Gastspiel unserer Staatsoper vom März dieses Jahres oder ihr für September bevorstehendes Gastspiel in London etwa den Staatsvertrag beschleunigen oder verbessern könnten, so sind wir doch überzeugt, daß Österreichs übernationale Mission, nicht auf dem Gebiete der Macht und des Reichtums, sondern auf dem Gebiete des Geistigen und besonders auf dem Gebiete der Kunst und Kultur gelegen ist; dazu einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet zu haben, ist den Bundestheatern zweifellos schon jetzt gelungen. Der in den letzten zwei Jahren von diesen Bühnen erhielte Wiederaufbau kann sich mit jedem auf andern Gebieten Erreichten messen. Wir wollen hoffen, daß Ausdauer und Energie, gepaart mit der nötigen Umsicht und Behutsamkeit, in der nächsten Spielzeit das Erreichte abrunden und wesentlich vervollständigen werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung