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Spielplan und Planspiel der Volksope

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Noch vor einem Jahr war die Wiener Volksoper ein Sorgenkind, das dazu verurteilt schien, im Schatten der glanzvoll eröffneten Staatsoper am Ring ein Aschenbrödeldasein zu fristen. Heute kann davon ernsthaft nicht mehr die Rede sein. Die Volksoper verdankt diese erfreuliche Entwicklung vor allem der frischen Blutzufuhr, die sie durch eine bei uns neueingeführte Gattung, das „M u s i c a 1“, erhalten hat sowie der Gestaltung eines Spielplans, in den nur solche Werke aufgenommen sind, die von der „Großen Oper“ nicht konkurrenziert werden. Ebenso wichtig war die Entscheidung, aus der Volksoper keine reine Operettenbühne, etwa nach dem Vorbild der Bayrischen Staatsoperette, zu machen, sondern eine Synthese anzustreben, die sich im gegenwärtigen Spielplan spiegelt.

Folgende Operetten befinden sich im Repertoire der Volksoper: „Fledermaus“, „Zigeunerbaron“, „Nacht in Venedig“, „Bettelstudent“, „Lustige Witwe“, „Graf von Luxenburg“, „Land des Lächelns“, „Opernball“ und „Wiener Blut“ (in der zweiten Hälfte der Saison soll „Madame Pompadour“ mit Jarmila Novotna in der Titelrolle wiederaufgenommen werden). An Spielopern enthält das Repertoire: „Barbier von Sevilla“, „Rigoletto“, „Butterfly“, „Wildschütz“, „Freischütz“, Orffs „Bernauerin“ und — ab Jänner — „Verkaufte Braut“ sowie „Zar und Zimmermann“. Als Neuinszenierungen sind geplant: „Das schlaue Füchslein“ von Janäcek, „Die Zäubergeige“ von Werner Egk, „Der Mikado“ von Sullivan, „Perichole“ von Offenbach sowie vielleicht noch „Pariser Leben“ vom gleichen Komponisten.“

Prüft man die Liste der genannten Operetten, so wird man sehen, daß damit die Zahl der auch heute noch spielbaren Werke so ziemlich erschöpft ist.

Es mußte also im leichten Genre etwas Neues gefunden werden. Dr. Marcel Prawy, der lange Zeit in Amerika gelebt und während der letzten fünf Jahre an etwa 500 Abenden auf der Bühne, im Radio und im Fernsehen sich für dieses Neue eingesetzt hat, lenkte die Aufmerksamkeit auf das „M u s i c a 1“, jene am Broadway entstandene Mischgattung von Schauspiel, Ballett, Pantomime und Revue mit Musik: zeitnah, lebendig, oft witzig, mit Neigung zur Persiflage, unbedenklich in den Wirkungsmitteln und ihrer Verknüpfung, kurzum: typisch amerikanisch und daher, wie es uns anfangs schien, nicht auf unsere Bühnen zu übertragen. Viel Mißtrauen a priori, viel Skeptizismus und auch grundsätzliche Einwände mußten besiegt werden, bevor es zur Premiere kam. Einer der ersten, der sich für das Experiment aussprach, war der Leiter der Bundestheaterverwaltung, Ministerialrat Marboe. Was war natürlicher, als daß man demjenigen, der sich als Spezialist der neuen Gattung ausgewiesen hatte und der sie mit Enthusiasmus vertrat, die erste Produktion anvertraute? Sie wurde nur dadurch ermöglicht, daß der Direktor der Volksoper, Prof. Salmhofer, das noch kaum bekannte Kind adoptierte, es aber keineswegs als Stiefkind behandelt. Im Gegenteil: es wurde prunkvoller ausgestattet und mit einem viel größeren Aufwand an Mühe und Zeit vorbereitet als seine älteren Geschwister — und reüssierte!

„Kiss me, Kate!“ ist bereits über 70mal, und zwar immer bei fast Cjder total ausverkauftem Haus, gegeben worden und hat damit die hohen Ausstattungskosten zur Gänze „eingespielt“. Das zweite Musical, „Wonderful Town“, amerikanischer, revuemäßiger und vielleicht noch sorgfältiger einstudiert und inszeniert, hatte einen guten Start und wird vielleicht ein ähnlicher Publikumserfolg. Wie ist dieser zu erklären? Dr. Prawy sagt: „Wir müssen Theater spielen für Leute, die gewöhnt sind, im Film die schönsten und jüngsten Menschen zu sehen und zu Hause auf Platten die perfektesten Operndarbietungen zu hören. Sonst müssen wir scheitern. Meine Musical-Produktionen sind, in unserem Sinne, reines Ensembletheater und kein Startheater: die Künstler probieren zehn Wochen, und dieselbe Besetzung bleibt für mindestens 30 bis 50 Vorstellungen. Reisestars werden nicht engagiert.“ Aber auch in der Wahl ihres Regisseurs bewies die Direktion eine glückliche Hand. Heinz Rosen hat Phantasie und hält eiserne Disziplin. Jede Aufführung wird genau kontrolliert, die Fehler und Ungenauig-keiten werden notiert und sofort, d. h. am nächsten Tag, ausgemerzt. Es gibt keine statischen Statisten und inaktive Choristen. — Alles spielt mit, und was jeder einzelne tut, ist bis ins Detail festgelegt. Diese goldenen Regeln jeder Regie- und Ensemblearbeit sind nicht neu, aber ihre Gültigkeit wurde wieder einmal demonstriert. Alle Partien sind wirklich erstklassig besetzt; findet man die betreffenden Künstler nicht in Wien, so holt man sie von auswärts. (Man darf aber wohl erwarten, daß die vorhandenen Volksopernkräfte genau auf ihre Verwendbarkeit geprüft werden, bevor man wesentlich teurere Gäste — einschließlich der Gastdirigenten — engagiert!)

Trotz ihres Erfolges werden die Musicals nicht en suite gespielt, und Direktor Salmhofer denkt nicht daran, den Spielplan von ihnen „überschwemmen“ zu lassen. In dieser Spielzeit werden etwa nur ein Drittel der Abende durch die beiden neuen Stücke besetzt sein. Man wird auch in der nächsten Saison ein oder zwei neue Musicals bringen. Aber man hat auch weiter gedacht: an eine Assimilation des neuen Genres, an ein „W iener Musical“. Dr. Prawy meint nämlich, nicht nur New York sei eine „wonderful town“, sondern auch Wien, und nicht nur die Amerikaner hätten ihren Alltag und ihre Romantik in diesem, sondern auch wir. „Entdeckt die Romantik der Mariahilfer Straße mit ihren Neonlichtern, und ich werde euch nicht mehr den Broadway auf die Bühne stellen müssen! Schaffen wir ein starkes musikalisches Gegenwartstheater aus österreichischem Geist und österreichischem Leben — und ich, der die amerikanischen Musicals nach Wien gebracht hat, werde meine eigenen Babies freudig, stolz und glücklich verabschieden.“

Gäbe es eine Wiener Gegenwarts-Operette der angedeuteten Art — die Autoren hätten wohl schon den Weg in die Volksoper gefunden. Damit sie geschaffen werde, hat die Bundestheaterverwaltung ein Preisausschreiben veranstaltet. Punkt eins der Bedingungen lautet: „Für eine, Prämiierung kommen musikdramatische Werke in Betracht, welche an die Tradition der österreichischen Operette im Sinne eines Kunstwerks, mit großem Orchester, Gesangstimmen, Chor und Ballett, anknüpfen, jedoch von dem Musical die Aktualität und das dichterische Textbuch batiehen. — Der Stoff dieses Werkes muß entweder dem zeitgenössischen Leben entnommen sein oder ein allgemeingültiges Problem von Interesse für Oesterreich behandeln oder auf einem Werk der österreichischen Literatur beruhen.“ Ausgehend von dem Gedanken, daß wohl kaum ein einzelner Autor der Text- und Chansondichter, der Komponist und Instrumentator eines solchen Werkes sein wird, wurde angeregt, daß die Bundestheaterverwaltung zwischen den verschiedenen „Sparten“ (zum Beispiel Schriftsteller und Musiker) vermittelt. Wahrscheinlich wird eine noch weitergehende Kollaboration vonnöten sein, bis ein nicht nur gehaltvolles, sondern auch gut gemachtes und wirksames Wiener Musical bühnenreif ist. Zu diesem Zweck wird sich vielleicht die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft in Form eines Klubs empfehlen, in dem die am musikalischen Theater Interessierten (auch Anreger und Kritiker werden willkommen sein) sich treffen.

Der Appell aber gilt vor allem den jüngeren österreichischen Künstlern: Schriftstellern, Musikern — für später auch den Zeichnern und Malern. Der Versuch muß auf alle Fälle gemacht werden und ist zu begrüßen, schon um jenen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die gegen das jetzt in der Volksoper gezeigte Musical sind, weil dadurch angeblich die heimische Produktion an die Wand gespielt werde. Jetzt also wäre der Zeitpunkt gekommen, zu zeigen, daß man auch etwas kann — und mindestens ebensoviel wie die Amerikaner. Neben den genannten Bedingungen scheint die des literarischen und musikalischen

N i v e a u s die wichtigste zu sein. Die ausgesetzten Preise sind bedeutend. Auf' Initiative ihres Direktors Ludwig Bauer hat die „MARTHA“-Erdöl-G. m. b. H. insgesamt 150.000 S dafür gestiftet. Der Name dieser Firma sei, für das Beispiel modernen Mäzenatentums, das sie gibt, groß geschrieben. Auch wegen der sehr netten — und einzigen Bedingung, die sie an ihre Preise knüpft: es dürfte im Text kein Oel vorkommen. Wir fügen hinzu: auch kein Schmalz und kein Sacharin in der Musik!

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