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Begegnungen

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Während meiner nun ungefähr dreißigjährigen Tätigkeit auf den Opernbühnen und in den Konzertsälen Europas hatte ich häufig Gelegenheit, mit hervorragenden Komponisten und Dirigenten zusammenzukommen und sie teils bei der Probenarbeit, teils privat näher kennenzulernen. Nicht immer deckt sich in der Wirklichkeit das Bild, das sich der Außenstehende von einem Künstler macht, mit seinem Wesen. Dabei möchte ich betonen, daß es sich bei den Persönlichkeiten, über die ich im folgenden spreche, um Künstler in der einzig wahren Bedeutung des Wortes handelt, um Menschen, die kraft ihres Ingeniums, ihrer Genialität, das schmückende Beiwort „Künstler“ wirklich zu tragen berechtigt sind, während heutzutage mit diesem Wort Mißbrauch getrieben wird.

Wohl der größte unter den Großen, denen ich begegnete, war Richard Strauss. Schon der erste Eindruck vermittelte die Gewißheit, daß man bei aller Freundlichkeit und Bescheidenheit, die er an den Tag legte, einer überragenden Persönlichkeit gegenüberstand. Sehr ruhig und oft ziemlich wortkarg, übertrug er seine Ruhe auch auf Sänger und Orchester, so daß seine Proben für die Mitwirkenden auf das angenehmste verliefen. Wenn er ab und zu einen leisen Tadel hinter feinem Sarkasmus verbarg, so wirkte dies niemals verletzend, um so mehr, als er auch gegen sich selbst manchmal in einen leicht ironisierenden Ton verfiel. Als er mich, der ich mehrmals unter seiner Leitung in seinen Opern gesungen hatte, so in „Salome“, „Rosenkavalier“, „Ariadne“ und „Intermezzo“, nach einer Orchesterprobe zur „Salome“ in sein Probenzimmer rufen ließ, wies er den gerade anwesenden Generalmusikdirektor Mikorey, einen Münchner, auf einige schwierige Bläserstellen in der Partitur hin und meinte in seiner breiten, bayrischen Mundart: „Ja, wissen S\ wie ich das g'schrieben hab\ war ich halt noch sehr jung und hab' glaubt, daß sich das so ganz leicht blasen laßt. Jetzt weiß ich, wie schwer das ist.“ Er war kein Freund langer Proben, was ihn beim Orchester sehr beliebt machte; um so mehr Zeit widmete er oft seinem geliebten Skatspiel, und es war bekannt, daß er manchmal in der letzten Minute zum Dirigieren ins Theater kam, um nur ja nicht zu früh vom Skattisch aufstehen zu müssen. Als ich während einer Strauss-Festwoche einen Liederabend mit ihm als Begleiter zu singen hatte und ihn fragte, wann ich mit ihm proben dürfte, meinte er: „Wissen S\ ich kenn' meine Sachen eh, und Sie sind so musikalisch, daß ma keine Prob' brauchen.“ So sprach er nur kurz vor Beginn des Konzertes einige Stellen in seinen Liedern mit mir durch, gab seine Wünsche wegen der Tempi und einiger Phrasierungen bekannt und sagte mir nur noch bezüglich des Liedes „Ich trage meine Minne“: „Singen S' mir das net so langweilig, wie ich's meistens zu hören krieg! Und im übrigen: Sie singen und ich be-gleit'.“ Ich bekenne ehrlich, daß ich bei diesem probenlosen Konzert das Podium mit starkem Herzklopfen betrat; aber schon nach dem ersten Lied war ich ruhig geworden: Strauss begleitete, manchmal ausgesprochen improvisierend, mit einer wunderbaren Einfühlung.

Wer Eugen d'A 1 b e r t s glutvolle, heißblütige Musik seiner Oper „Tiefland“ kennt, müßte glauben, daß der Komponist auch ein temperamentvoller Dirigent seines Werkes gewesen wäre. Ich machte bei einer Aufführung dieser Oper unter seiner Leitung, in der ich den Scbastiano fang, gerade die gegenteilige Erfahrung: d'Albert dirigierte wie ein alter Hofrat, der vor seiner Pensionierung steht, und war seinem Werk alles andere als ein guter Interpret. Um so mehr staunte ich, als ich ihn am nächsten Tag Beethovens Klavierkonzert in Es-dur spielen hörte. Da saß ein kleiner Mann vor dem Instrument, aber beim Spiel wuchs er zum Klaviertitanen, unter, dessen Händen ein Gewitter losfuhr, das den Flügel zu zerbrechen drohte. Von keinem anderen Pianisten habe ich dieses Beethoven-Konzert so herrlich gehört wie von dem Liszt-Schüler d'Albert. Und das ist um so verwunderlicher, als mir der Meister — es war im Jahre 1927 — selbst sagte, daß er sdion jahrelang kein Klavier mehr zum Ueben geöffnet hätte.

Gerade das Gegenteil d'Alberts als Dirigent war Pietro Mascagni: seine „Cavalle-ria rusticana“ dirigierte der damals Sechzigjährige mit jugendlichem Feuer, ohne in den Fehler mancher Kapellmeister zu verfallen, Schnelligkeit mit Temperament zu verwechein. Ich sang sowohl in „Cavalleria“ als im „Bajazzo“ unter seiner Leitung (auch diese Oper betreute er mit der gleichen Sorgfalt wie seine eigene), und war überrascht, welche breiten Tempi der Maestro an manchen Stellen (so im Auftrittslied des Alfio) nahm, die von manchen Dirigenten oft sehr überhetzt und prestissimo abgetan werden.

Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, die Auffassung manches Komponisten in eigenen und fremden Werken kennenzulernen. Siegfried Wagner, im persönlichen Verkehr ein sehr ruhiger, stiller Mensch, bevorzugte in seinen Opern (ich sang unter ihm in seinem „Bärenhäuter“ und in „An allem ist Hütchen schuld“) sehr breite, ausladende Tempi, noch mehr brachte er sie in den Werken seines großen Vaters zur Geltung. Als er einmal ein Richard-Wagner-Konzert der Braunschweiger Staatskapelle dirigierte, dehnte er im „Meistersinger“-Vorspiel, das zu Beginn und am Schluß wohl die Bezeichnung „Sehr mäßig bewegt“ und „Sehr gewichtig“ trägt, die Tempi bis aufs äußerste, wie ich es bis dahin nie gehört hatte. Da ich mir sagte, daß Siegfried Wagner als Hüter der Bayreuther Tradition für die authentische Interpretation der Werke seines Vaters wohl am kompetentesten sei, sprach ich mit ihm nach Beendigung des Konzertes darüber, und er meinte, daß Tempi, auch wenn sie die gleichen wären, sich je nach der Größe des Streicherkörpers verschieden anhörten. „Heute“, sagte er mir, „hatte ich sechzehn erste Geigen zur Verfügung, in Bayreuth spielen wir aber mit zweiundzwanzig Primgeigen; da klingt das Vorspiel mit genau demselben Zeitmaß, wie ich es heute genommen habe, etwas beschleunigter.“ Im übrigen habe ich einigemale erlebt, daß Komponisten während der Proben zu den Uraufführungen ihrer Opern die in der Partitur angegebenen Tempobezeichnungen änderten, nachdem sie ihr Werk das erstemal mit Orchester gehört hatten.

Eine der interessantesten Musikerpersönlichkeiten war Felix Weingartner. Je nach Laun konnte er äußerst liebenswürdig, aber auch gerade das Gegenteil sein, und das Arbeiten unter ihm war nicht gerade einfach. Ein glänzender Beethoven- und Mozart-Interpret, leistete er auch Hervorragendes, wenn er eine oder die andere Spieloper dirigierte. Ich erinnere mich an eine prachtvolle Neueinstudierung der „Lustigen Weiber“, die er herausbrachte: gerade für solche Werke hatte er eine ungemein leichte, „elegante“ Hand. Daß man ihn seines „eleganten“ Dirigierens wegen von gegnerischer Seite als „Damendirigenten“ bezeichnete, beruhte jedoch auf reiner Böswilligkeit, ebenso das Gerücht, daß er seine Dirigierbewegungen vor dem Spiegel einstudiere. Keinesfalls war er das, was man einen für den Sänger „angenehmen“ Kapellmeister nennt. Wer in einer von ihm geleiteten Vorstellung „schmiß“, wie der bekannte Fachausdruck heißt, konnte sich gefaßt machen, daß ihn Weingartner nicht so bald wieder zur Mitwirkung heranzog. Ich entsinne mich, daß er in einer Vorstellung der „Hugenotten“ von Meyerbeer in äußersten Zorn geriet, als der Koloratursängerin, die die Königin sang, eine (allerdings sehr peinliche) musikalische Entgleisung passierte. Weingartner zerschlug bei seinem vergeblichen Bemühen, der Sängerin wieder in ihre Partie hineinzuhelfen, in mehr als temperamentvoller Weise seinen Taktstock am Dirigentenpult, und die Auseinandersetzung zwischen ihm und der Sängerin während des folgenden Zwischenaktes spielte sich ebenfalls sehr dramatisch ab. Nicht vergessen werde ich ein Erlebnis vor einer Englandtournee Weingartners. Der Dirigent hatte damals, kurz nach dem Tode seiner Gattin, der berühmten Sängerin Lucille Marcell, zum dritten- (oder vierten-?) mal geheiratet, und zwar eine bildschöne amerikanische Tänzerin, der er in einer Neueinstudierung von Aubers „Stumme von Portici“ die pantomimische Rolle der Fenella übertrug. Bei einer Probe hatte nun ein sehr bekannter Bassist das Pech, der Gattin Weingartners durch einen unglücklichen Zufall mit einem Theaterdolch eine kleine, gänzlich ungefährliche Verletzung zuzufügen; Weingartner regte sich darüber furchtbar auf. Als nun in einer Szene der Oper die arme Fenella ohnmächtig umzusinken droht und ich sie laut Regieanweisung gerade noch rechtzeitig in meinen Armen aufzufangen hatte, bemerkte ich, daß Weingartner bei dieser Szene vom Dirigentenpult immer ängstlich auf die Bühne hinaufsah. Als er nun zu seinen englischen Gastspielen abreiste und die „Stumme“ ein anderer Dirigent übernahm, stellte Weingartner an mich die Frage, ob er sich „seiner Frau wegen auf mich verlassen könnte und ihr nichts geschehen werde“. Ich muß bei seinen Worten nicht sehr klug dreingeschaut haben, denn ich konnte mir nicht erklären, was Weingartner eigentlich meinte, bis er mir sagte, daß er seit der Verletzung seiner Gattin auf jener Probe immer in Sorge sei, ob sie bei der erwähnten Ohnmachtsszene nicht meinen Händen einmal entgleiten und mit dem Kopf auf den Boden aufschlagen könnte. Ich versprach ihm, sehr erleichtert, daß ich mich in achtnehmen würde; es ist dann auch nichts geschehen und meine schöne Partnerin gab mir nach Beendigung ihres Gastspiels zum Abschied ein Bild mit einer herzlichen Widmung für ihren „Retter in der Ohnmacht“.

Einen ungemein vornehmen, liebenswürdigen Menschen lernte ich in Max von Schillings, dem Komponisten der „Mona Lisa“ und ehemaligen Direktor der Berliner Staatsoper, kennen. Seine große, elegante Erscheinung fiel jedem auf, der ihn zum erstenmal sah. Er war Jahre hindurch der musikalische Oberleiter der berühmten Zoppoter Waldoper, jener herrlichen, kolossalen Naturbühne an der Ostsee, die für manche Opern einen geradezu idealen Rahmen bot. Eine „Walküre“, ein „Siegfried“ oder eine „Götterdämmerung“ war dort ein einzigartiges Erlebnis. Schillings brachte bei diesen Waldopernfestspielen mit den allerersten deutschen Sängern glänzende Aufführungen heraus; er sparte allerdings auch nicht mit ausgedehnten Proben und entschloß sich oft nur ungern, bei drohendem Regenwetter eine solche abzubrechen. Er machte mir manchmal die Freude, ihn an aufführungs- und probefreien Tagen — ich sang damals den Ottokar in den von ihm dirigierten „Freischütz“ — zu einer Auto-partie in die schöne Umgebung Zoppots einladen zu dürfen. Er wußte dabei viel Interessantes zu erzählen, besonders aus der Zeit seiner Tätigkeit an der Berliner Staatsoper. Wie schwer ihm anscheinend die Leitung dieser Bühne bisweilen gemacht worden war, konnte man aus seinen Worten heraushören. Auch nach der Zoppoter Zeit blieb ich mit Schillings in Verbindung und war noch drei Monate vor seinem allzufrühen Tod anläßlich eines Besuches mit ihm in Wien beisammen. Obwohl mir sein leidender Zustand schon damals sehr auffiel, hätte ich nicht geglaubt, diesen lieben, vornehmen Menschen bei diesem Zusammentreffen zum letztenmal gesehen zu haben.

Wenn ich in diesen Zeilen nur von großen Musikern spreche, die — in der Erinnerung stehen sie alle noch so lebendig vor mir — leider schon zu den Toten zählen, so darf ich unseres lieben Altmeisters Wilhelm K i e n z 1 nicht vergessen, der sich bis ins hohe Alter ewig jung zu erhalten schien, bis auch für ihn die Stunde schlug. Seinen grauen Vollbart und seinen Zwicker schien er aus einer vergangenen Zeit herübergenommen zu haben, und wenn man ihn erzählen hörte, wurde eine für die Jüngeren lang entschwundene Epoche des österreichischen und speziell Wiener Musiklebens lebendig. Oft sprach er über das Schicksal einiger seiner Opern, die nicht den großen Erfolg gefunden hatten wie seine bekanntesten Werke, der „Evangelimann“ und der „Kuhreigen“. Da war ihm — und das scheint sein Lieblings- und zugleich sein Schmerzenskind gewesen zu sein — der „Don Quichote“ besonders ans Herz gewachsen, der nach seiner Ansicht zu dem Besten zählte, das er geschrieben hatte, und der trotzdem keinen dauernden Platz auf dem Spielplan der Opernbühnen erringen konnte. Auch seine Lieder wurden verhältnismäßig wenig bekannt, und dennoch findet sich darunter manches Ausgezeichnete. Als ich in den dreißiger Jahren in Wien einen Liederabend mit Kienzl als Begleiter sang, lernte ich die Lieder des Komponisten genauer kennen, und ich muß gestehen, daß mich einige in ihrer kammermusikalischen Feinheit an das Schaffen Robert Franz' erinnerten, der heute leider auch zu den mit Unrecht viel zuwenig gewürdigten, ja fast vergessenen Komponisten zählt. Ein Lied, wie Kienzls „Meine Mutter“, kann man ruhig als Meisterwerk der Vokil-musik bezeichnen. Wie oft habe ich unter Kienzls Taktstock den Johannes Freudhofer in seinem „Evangelimann“ gesungen. Und in dieser gewiß nicht sympathischen Figur des schurkischen Bruders hatte ich einmal die Aufgabe, an das Publikum eine Ansprache zu halten. Das kam so: Anläßlich von Kienzls 70. Geburtstages fand im Innsbrucker Landestheater eine Festaufführung des „Evangelimann“ statt, bei der Kienzl selbst dirigieren und Kammersänger Ziegler und ich als Gäste mitwirken sollten. Da aber Kienzl im letzten Augenblick erkrankte, rief er mich an und bat mich, dem Innsbrucker Publikum im Zww schenakt seine herzlichsten Grüße zu vermel-t den und ihm sein persönliches Kommen — nach seiner Genesung — in Aussicht zu stellen. Ich habe den Wunsch des lieben alten Herrn erfüllt und bei dieser Gelegenheit wahrscheinlich das erste und letzte Mal eine Rede an ein Theaterpublikum gehalten.

Uebe.r manche lebende große Musiker, mit denen ich beruflich zusammenkam, könnte, aber will ich nicht schreiben. Denn, wenn ich auch bestimmt nur Gutes über sie sagte: wer weiß, ob dem einen oder anderen alles so recht wäre, wie er mir als Künstler und Mensch erscheint? Ich glaube, die meisten Menschen (oder wenigstens die Mehrzahl), sind etwas eitel, und da ist es besser...

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