6749276-1967_20_14.jpg
Digital In Arbeit

GUSTAV MAHLER - HEUTE

Werbung
Werbung
Werbung

Während der Wiener Festwochen 1967 wird durch die Konzerthausgesellschaft in der Zeit vom 21. Mai bis 18. Juni zum erstenmal das gesamte kompositorische Werk Gustav Mahlers vorgestellt, angefangen von dem wenig bekannten Jugendwerk „Das klagende Lied“ bis zum Adagio aus der Fragment gebliebenen X. Symphonie. Damit ist den einheimischen Musikfreunden sowie den vielen aus den Bundesländern und dem Ausland zureisenden Gästen Gelegenheit gegeben, das monumentale Opus Mahlers als Ganzes kennenzulernen und als unverlierbaren inneren Besitz für sich zu erwerben. Es geschieht dies, wie uns scheint, zu einem sehr glücklich gewählten Zeitpunkt. Unmittelbar nach dem Krieg nämlich lastete auf manchen Mahler-Konzerten das Odium der „Wiedergutmachung“, nachdem Mahler in Österreich sieben, in Deutschland zwölf Jahre verboten war. Aber seither, besonders während des letzten Dezenniums, hat Mahlers Werk immer mehr Verehrer und Freunde gewonnen, einzelne Symphonien und Liederzyklen werden überall in der Welt aufgeführt und sämtliche Symphonien liegen in mehreren, zuweilen ausgezeichneten Plattenaufnahmen vor. Es gibt unter den ältesten Dirigenten noch einige, die Mahler am Pult erlebt haben, und in Wien hat die Internationale Gustav Mahler Gesellschaft ihren Sitz, deren Präsident, Prof. Erwin Ratz, zugleich auch Betreuer der kritischen Gesamtausgabe ist und der gemeinsam mit Doktor Jossf Pollnauer als der profundeste Kenner des Mahlerschen Werkes angesehen werden kann. Zur gleichen Zeit rückt eine jüngere Dirigentengeneration nach (Abbado, Mehta, Maazel), die sich und ihr Publikum für Mahler begeistert, und bei den avanciertesten jungen Komponisten steht er in hohem Ansehen. Geschmäcklerdsche Einwände gegen Mahler sind fast ganz verstummt. Auf sie hat Arnold Schönberg bereits 1913 in seiner „Rede auf Mahler“ die richtige Antwort gegeben: „Es ist ganz ausgeschlossen, daß musikalische Ergriffenheit auf unlautere Mittel zurückzuführen ist, denn die Mittel der Musik sind unreal, unlauter ist nur die Wirklichkeit.“

In dem kleinen böhmischen Ort Kalischt nahe der mährischen Grenze wurde Gustav Mahler am 7. Juli 1860 geboren. Er kam aus sehr bescheidenen Verhältnissen, und so früh auch seine musikalische Begabung erkannt wurde und so sehr seine Eltern bestrebt waren, ihm die ersten Schritte zu erleichtern, so war er doch schon in jungen Jahren, als halbes Kind, darauf angewiesen, sich sein Brot selbst zu verdienen. In Iglau wächst er heran, in Prag absolviert er das Gymnasium, und an der Wiener Universität hört er Vorlesungen, hauptsächlich aus Philosophie. Von unstillbarem Bildungshunger erfüllt, verschafft er sich Lektüre jeder Art und legt das Fundament zu jenem universalen Wissen, das ihn aus der Reihe seiner Musikkollegen so bedeutsam heraushob. Gleichzeitig studiert er am Wiener Konservatorium, tritt als Schüler in die Nähe Anton Bruckners und beginnt — nach Abschluß seiner Studien — den Leidensweg eines jungen Theaterkapellmeisters. Bad Hall, Laibach, Olmütz und Kassel heißen die nächsten Stationen seines Lebens. In Prag kommt er zum erstenmal in eine leitende Stellung, und 1888 wird er an die Budapester Hofoper berufen. Aber schon nach drei Jahren verläßt er Budapest, um als erster Dirigent an das Hamburger Opernhaus zu gehen. Von dort folgt er 1897 einer Berufung an das Wiener Hofoperntheater, dessen Direktor er im folgenden Jahr wurde und an dem er bis 1907 wirkte. Diese Stellung gibt er unter unerfreulichen Begleitumständen auf, innerlich zermürbt und mit geschwächter Gesundheit. Er will sich ganz seinem kompositorischen Schaffen widmen, dem er in der Zeit seiner Direktionstätigkeit nur während der Sommermonate sich ganz hingeben konnte. Während einiger längerer Aufenthalte in Amerika, die ihm nicht nur Ehre und Ruhm, sondern auch Reichtum brachten, erkrankt er schwer, liegt mehrere Wochen zwischen Tod und Leben in Paris und stirbt am 18. Mai 1911 in Wien, in der Stadt, deren Operntheater er den kostbarsten Teil seines Lebens gewidmet — die den Lebenden verkannte, dem Toten aber die Ehre und Anerkennung nicht versagte.

Ein Künstlerleben, ein Musikerleben: nicht- gerade arm, aber auch nicht reich an Zügen und Episoden für eine Künstlerbiographie, trotz des steilen Aufstiegs des kleinen Kaufmannssohnes aus einem böhmischen Nest zum allmächtigen Opernchef und in den Glanz und Reichtum, den die Neue Welt einem Künstler von Weltruhm anbot. Mahlers äußeres Leben hat sein Schaffen kaum wesentlich bedingt. Nur die landschaftlichen und musikalischen Eindrücke seiner frühen Kindheit und Jugend haben eine unverhältnismäßig tiefe Wirkung auf sein kompositorisches Schaffen ausgeübt. Die deutschen und böhmischen Volkslieder seiner Heimat, die Signale und Marschrhythmen, die vom nahen Exerzierplatz der Garnison seines Heimatortes herübertönten, erstehen verwandelt und veredelt in seinen Liedern und in den erhabenen Trauermärschen seiner gewaltigen Symphonien. Und er, der anspruchsvolle Kulturmensch, hat diese ersten Eindrücke seiner Kindheit in rührender Treue bewahrt. Von den „Liedern eines fahrenden Gesellen“, deren Text er sich selbst schrieb, und der I. Symphonie, die er mit 22 Jahren entwarf und im 28. Lebensjahr vollendete, bis in seine letzten Werke tauchen diese Motive in Mahlers Musik auf; ja sie bilden geradezu einen Grundbestandteil seines Schaffens. Von allen übrigen Einflüssen — solchen der klassischen Werke der Vergangenheit und der mitstrebenden Zeitgenossen — ist Mahlers Musik fast frei. Denn es ging Mahler nicht um die Fortsetzung einer bestimmten Tradition und die Erneuerung alter Formen. Ihm war Musik nicht tönend bewegte Form, sondern Spiegelung der Welt und des Alls.

Was wir in Mahlers Musik erleben, ist immer ein Stück seelischer Autobiographie, „Bruchstück einer großen Konfession“, die Auseinandersetzung einer eigenwilligen Individualität mit den letzten Dingen: Gott und Welt, Tod und Unsterblichkeit, Geist und Natur. Dieses titanische Streben, diese höchste Prätension seiner Kunst führte Mahler zwangsläufig auch zu neuen Formen und Ausdrucksmitteln. Zwangsläufig und nicht willentlich oder aus Neuerurugssucht, wie er es in einem Brief aus späterer Zeit ausgesprochen hat: „Es ist ein seltsamer Vorgang! Ohne daß man es anfangs weiß, wohin es führt, fühlt man sich immer weiter und weiter über die ursprüngliche Form hinausgetrieben, deren reicher Gehalt doch, wie die Pflanze im Samenkorn, unbewußt in mir verborgen lag.“ Seine Symphonien und einzelne seiner symphonischen Sätze nehmen gewaltige Ausmaße an. Der Orchesterklang wird äußerst differenziert und der Aufführungsapparat wächtst ins Gigantische. Die instrumentalen Ausdrucksmittel allein wollen nicht mehr genügen: die menschliche Stimme wird zur Verdeutlichung des seelischen Ausdrucks herangezogen, das Wort soll den Inhalt und die künstlerischen Absichten realisieren helfen. So treten in der zweiten, dritten und vierten Symphonie zu den Stimmen der Instrumente noch Solostimmen, Knaben- und Frauenchöre. Die folgenden drei Symphonien, von der fünften bis zur siebenten, verzichten auf die Menschenstimme, während die Achte, die Symphonie der Tausend — äußerlich der Gipfel des Mahlerschen Schaffens —, einen riesigen Apparat in Bewegung setzt. Zu dem stark besetzten Orchester, den zahlreichen Schlaginstrumenten, zu Orgel, Harmonium, Klavier, Celesta, Harfen, Mandolinen und Glocken treten zwei gemischte Chöre, ein Knabenchor und acht Solostimmen, die im ersten Teil den gewaltigen mittelalterlichen Hymnus „Veni creator spiritus“ anstimmen und im zweiten Teil die feierlich-verklärten Verse der letzten Faustszene in Tönen erhabener Ruhe verkünden. „Es ist das Größte, was ich bis jetzt gemacht habe, das Universum beginnt zu tönen und zu klagen'“, sagt Mahler in einem Brief über dies Werk von großartiger Intention, das nach Form und Gehalt als symphonisches Weihefestspiel bezeichnet werden kann. Im September 1910 wurde das Riesenwerk unter Mahlers Leitung, acht Monate vor seinem Tode, in München uraufgeführt. Es war die letzte seiner Kompositionen, die er hören durfte. „Das Lied von der Erde'“, die IX. und X. Symphonie vernahm nur noch sein inneres Ohr.

In diesen letzten Werken schien sich ein neuer Stil Mahlers anzubahnen. Schon in den „Kindertotenliedern“ und an zahlreichen Stellen seiner Symphonien erfreut und begeistert das reiche und dabei immer übersichtliche Gewebe der einzelnen Stimmen. Seit dem „Lied von der Erde“ wurde Mahlers Schreibweise noch linearer, der Klang des Orchesters ungemischter, das ganze Werk transparenter. Die große Ruhe und Gelassenheit beginnt sich auszubreiten, jene östliche Stimmung, die Mahler wahlverwandt aus den Gedichten der großen Chinesen des achten und neunten Jahrhunderts ansprach und die im „Lied von der Erde“ in die Worte ausklingt:

„Ich werde niemals in der Ferne schweifen.

Still ist mein Herz und harret seiner Stunde!

Die liebe Erd' allüberall blüht auf im Lenz und grünt

Aufs neu! Allüberall und ewig blauen Licht die Fernen!

Ewig... Ewig...“

Diese innere Entwicklung Mahlers spiegelt sich auch in seiner Vorliebe für die großen schöpferischen Gestalten der anderen Künste. In jungen Jahren waren es vor allem die Philosophen und Dichter der Romantik, die ihn anzogen, insbesondere Novalis, Hoffmann und Jean Paul. Schopenhauer, Wagner und Dostojewsky verdankt er Wesentliches, stets aber leuchtete das ruhige Gestirn Goethes über ihm, dessen Sphäre er sich in reiferen Jahren immer mehr näherte.

Als Opernchef sah Mahler seine Aufgabe vor allem darin, durch werkgetreue, in jeder Hinsicht musterhafte Aufführungen den Menschen Weihestunden höchster Kunst zu schenken. Das war natürlich nur dadurch möglich, daß er von den ausführenden Künstlern ungewöhnliche Leistungen forderte. Die allgemeine Anerkennung während der ersten Zeit und der Eindruck seiner Persönlichkeit waren so stark, daß sich das Publikum von ihm Neuerungen gefallen ließ, die für uns heute zu den Selbstverständlichkeiten gehören, die vor ihm aber kein anderer hätte wagen dürfen: ungekürzte Aufführungen auch der Wagner-Opern, Verdunkelung des Zuschauerraumes, Aussperrung der Zuspätgekommenen und Abschaffung der Claque. Von allen Ausführenden verlangte er, was er von sich selbst dn aufopferungsvoller, schonungsloser Probenarbeit forderte: Dienst am Werk. Hierbei stand ihm hindernd der besonders in Wien so verbreitete Kult von Lieblingssängern und -Sängerinnen im Wege. Mahler aber kannte, wenn es um das Letzte ging, keine Menschen mehr, sondern nur noch die Sache. Das war das Unwienerische an ihm, und diese Eigenschaften, die ihn auf dem Gebiet der Kunst unüberwindlich machten, brachten ihn letzten Endes zu Fall. Mit einem ganzen Ballast von Schlendrian und schlechter Operntradition galt es aufzuräumen. „In Jeder Aufführung muß das Werk neu geboren werden. Es gibt keine Tradition, nur Genius und Stupidität“, pflegte er in seiner unkonzilianten Art zu sagen. Wenn er auch versuchte, durch doppelte Güte wettzumachen, wo er in der Erregtheit des Zielbesessenen verletzt hatte, so schuf er sich doch mit der Zeit Feinde ringsum. Gleichzeitig erkannte er, daß es auch ihm unmöglich war, den Opernbetrieb grundlegend zu reformieren, die Werke der darstellenden Kunst zu monumentalisrieren und aus dem Operntheater ein Festspielhaus zu machen, was ihm als letztes und höchstes Ziel vorschwebte. Zu einem Freunde sagte er darüber resignierend: „Wenn ich mir die allergrößte Mühe gegeben hatte, eine vollendete Vorstellung zu erzielen, mußte ich schon bei der Wiederholung mitansehen, wie allmählich das Beste abbröckelte; die dritte vierte und fünfte Aufführung verschlechterte sich zusehends, und es war mir keine Möglichkeit gegeben, innerhalb des Repertoirebetriebes so viele Proben zu halten, als zur Aufrechterhaltung des Niveaus, das ich für entsprechend hielt, notwendig gewesen wären.“ Diese angespannte Tätigkeit, dieser verzehrende Dienst am Kunstwerk brachten ihm nur Anfeindungen und Undank und gingen auf Kosten der eigenen Produktion, die ihm auch während seiner Wiener Zeit als seine oberste Aufgabe erschien, der er sich aber nur während der Sommermonate ungestört widmen konnte. So kam es, daß sich Mahler von der Leitung des Wiener Hofoperntheaiters zurückzog und damit die glanzvollste Ära der Oper ein unrühmliches Ende fand, ein Ende, das einer seiner mitstrebenden Zeitgenossen als eine „Kulturtragödie und eine Schande“ bezeichnet hat.

Unübertrefflich und unbestritten aber war Mahlers Leistung als Dirigent. Wenn er am Pult stand, konnte niemand — weder das oft widerstrebende Orchester noch das Publikum — sich der Faszination seiner Persönlichkeit entziehen. So beschreibt ihn einer seiner ersten Biographen und Freunde:

„Wenn der kleine Mann mit den lebhaften Bewegungen sich dem Pulte näherte, trat Stille ein. Er grüßte mit freundlicher, klarer, sympathischer Stimme die Musiker, die, sobald er den Taktstock erhob, von seinem Blick gebannt, seinem führenden Willen sich ergaben. Aus seinen Zügen spricht Ernst und heiliger Eifer, die leuchtenden Augen verbreiten Licht und Helligkeit, bei mystischen Stellen wie verträumt drein-blickend; im kraftvollen Kinn äußert sich energischer Wille wie in den belebten Flügeln der scharfgeschnittenen Nase und in der hohen Stirn, in die sich Falten legten, sobald Zweifel und Zorn sich erhebt, wogegen aus den feinen schmalen Lippen ein mildes Lächeln sprechen kann. In allem überlegend und überlegen läßt er sich in seinen Körperbewegungen frei ergehen, manchmal ins Groteske, mit nervösem Zucken und Aufschlagen des Fußes. Doch seine Bewegungen wurden im reiferen Alter immer konzentrierter. Die Arme scheinen sich mit der notwendigen Angabe von Takt und Tempo begnügen zu wollen, Auge und Miene bohren sich in die aufmerksam Aufsehenden ein, Handgelenk und Fingerspitzen leisten mehr als früher Arme und Füße. Mahlers Dirigieren vergeistigte sich immer mehr und mehr, und der Wille teilte sich wie in elektrischen Entladungen mit, die dem Auge des Zuschauers unsichtbar blieben. Mahlers Arbeit im Dirigieren und Komponieren verinner-lichte sich stetig.“

Mehrere zeitgenössische Künstler haben dem Menschen und Künstler Gustav Mahler ein Denkmal gesetzt. Thomas Mann verlieh unter dem Eindruck der Nachricht von Mahlers Tod dem Helden seiner Meisternovelle „Der Tod in Venedig“, Gustav Aschenbach, nicht nur den Vornamen des großen Musikers, sondern, bei der Beschreibung von dessen Äußerem, auch die Maske Mahlers. Und der große französische Bildhauer Auguste Rodin huldigte ihm, indem er dem Haupte seines Genius ebenfalls die Züge Mahlers gab.

So steht das Bild Mahlers, des großen Dirigenten und Komponisten, vor unserem geistigen Auge. Die Frage aber, die einer seiner Biographen aufwirft, „ob die eigentliche Größe dieser Erscheinung im Wesentlichen des musikalisch Substantiellen, in der gewaltigen Monumentalität der Architektur in Tönen oder in ihrer sittlichen und geistigen Macht und deren Auswirkung liegt“, ist für uns heute keine Frage mehr, zumindest kein Dilemma. Mahler ist für uns nicht nur der Künstler, in dessen Persönlichkeit und Werk sich eine Zeitwende am deutlichsten und eindringlichsten spiegelt — auch das Lebensgefühl unserer Gegenwart mit ihren äußeren Katastrophen und ihren inneren Aufschwüngen hat er vorweggenommen. Mahler nannte sich selbst gelegentlich einen „Unzeitgemäßen“, und er mag es in seiner Zeit gewesen sein. Uns, die wir vieles von dem erlebt haben, was Mahler visionär gestaltet hat — uns ist er der Zeitgemäßesten einer. Seine Tonsprache ist allen, wenn auch auf verschiedene Weise, verständlich: Naiven und „Intellektuellen“. Der einfältige Naturlaut und die tiefsten geistigen Probleme sind in seinem Werk Klang geworden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung