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Jens Malte Fischer zeigt Gustav Mahler inmitten seiner damaligen Lebenswelt.

Gustav Mahlers komplexe Persönlichkeit findet sich als Leitmotiv in zahlreichen Schriften über den Komponisten. Diese Sichtweise fortführend, hat der Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer seiner Biografie den Untertitel "Der fremde Vertraute" gegeben. In Fischers an die 1.000 Seiten umfassendem Opus Magnum stehen 18 chronologisch geordnete, die verschiedenen Lebensabschnitte und Wirkungsstätten ausführlich beschreibende Kapitel elf kürzeren gegenüber, die ausschließlich einzelnen Werken, den Liedern und Symphonien, gewidmet sind. Sieben weitere Kapitel thematisieren wesentliche Aspekte von Mahlers Leben, Persönlichkeit und Ruvre - ein Aufbau, der bereits Bruno Walters Mahler-Porträt aus dem Jahre 1957 kennzeichnete.

Nicht nur aufgrund seines gewaltigen Umfangs und Detailreichtums vermittelt das Buch den Eindruck, Mosaiksteinchen zu einem immer ein wenig unscharf bleibenden Gesamtbild zusammenzutragen. Es ist der spezifische Zugang des Autors, der, über weite Strecken bewusst konstruierend, Distanz vermittelt. Nicht ein erzählender Ton prägt das Buch, auch nicht der des primär am Werk orientierten Musikwissenschaftlers, wie er etwa das 1998 erschienene Mahler-Buch von Constantin Floros auszeichnet, sondern der Blick des kühlen Berichterstatters, der aus historischen Quellen, Berichten von Zeitgenossen und Mahler selbst seine Darstellung entwickelt, immer Aussagekraft und Wahrheitsgehalt der Dokumente kritisch kommentierend. Aus dieser Perspektive gelingt es, ein differenziertes Bild der Ehe Mahlers mit Alma Schindler zu zeichnen, um nur ein besonders gelungenes Kapitel exemplarisch herauszugreifen, oder auch, die Wesenszüge des erfolgreichen Dirigenten ohne verklärende Genie-Metaphorik wohltuend rational zu beleuchten.

Hauptaufgabe der Biografie sei, so Goethe in seinem Vorwort zu "Dichtung und Wahrheit", "den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich seine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet." Diesen Anspruch, auf den eingangs mittels eines knappen Zitats hingewiesen wird, erfüllt das Werk hervorragend: Zahlreiche Exkurse vermitteln ein breitflächiges Bild der Lebensumstände und Parallelwelten zu Mahlers Lebenswelt. Ausschweifungen, die zu verfolgen sich lohnt. Zu den besten zählt wohl das Porträt Wiens in den 1870er Jahren, am Beginn von Mahlers Studienzeit.

Persönlichkeiten, die den Weg Mahlers kreuzten, wird mitunter weit ausholend nachgegangen, etwa dem frühen Nietzsche-Verehrer Siegfried Lipiner oder dem begabten Studienkollegen Hans Rott, dessen immenser Einfluss auf Mahlers kompositorischen Stil erst seit einigen Jahren bekannt ist. Dass bei einer solch reichhaltigen Darstellung Ungenauigkeiten nicht ausbleiben, ist wohl kaum zu vermeiden, wie etwa im Falle Hugo Wolfs, dessen tragisches Ende in der Geisteskrankheit - Wolf behauptete bekanntlich, statt Mahler Hofoperndirektor geworden zu sein - allzu vereinfacht wiedergegeben wird.

Die beeindruckende Fülle macht das Buch zu einer Fundgrube an Details und Zusammenhängen und zu einer abwechslungsreichen Lektüre, die es auch erlaubt, einzelne Kapitel herauszugreifen. Eines der lohnenswertesten ist sicherlich das zu Mahlers Literaturverbundenheit, das auch wichtige Hinweise auf den bekannt großzügigen Umgang des Komponisten mit seinen Texten enthält. Ebenso wesentlich und wohltuend sachlich der Abschnitt über Mahlers Verhältnis zum Judentum. Hervorzuheben weiters die gelungene Darstellung der Wirkung Mahlers auf Komponisten des 20. Jahrhunderts wie Berio, Schnittke oder Rihm sowie die qualitätvollen Hinweise zu Interpretation und Diskografie.

Die offensichtliche Intention, Vorurteile zu beseitigen, ist zweifellos verdienstvoll, wirkt jedoch manchmal etwas bemüht, besonders im Abschnitt über Kindheit und Jugend in Kalischt und Iglau. Gar zu weit scheint da oft hergeholt, was der Autor entkräften zu müssen vermeint.

Dass das Eingangskapitel zur Physiognomie Mahlers beinahe deplaziert anmutet, liegt wohl großteils daran, dass keines der besprochenen Fotos abgebildet ist. Der Bezug auf Mahlers "musikalische Physiognomie" im Sinne Adornos hingegen fließt an vielen Stellen gewinnbringend ein, etwa am Ende des Kapitels zur Wirkungsgeschichte, wo der Autor, auf Adornos Essay "Die Wunde Heine" Bezug nehmend, resümiert: "Es gibt auch die Wunde Mahler; sie will und wird sich nicht schließen, solange es eine menschliche Gesellschaft gibt, die der Versöhnung ermangelt. Von diesem Mangel spricht Mahlers Musik so deutlich wie kaum eine zweite."

Gustav Mahler. Der fremde Vertraute Biografie von Jens M. Fischer

Verlag Zsolnay, Wien 2003

991 Seiten, geb., e 46,30

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