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Gustav Mahlers römischer Mißerfolg

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Häßliche Dissonanzen tönen über die Alpen ins benachbarte Österreich. Sie rühren von einer Schimpforgie her, welche die römische Musikkritik anläßlich der italienischen Erstaufführung der Zweiten Symphonie von Gustav Mahler zu entfesseln sidi bemüßigt gefühlt hat und sie gelten einem Werk dieses österreichischen Komponisten, das durch seine Monumentalität Hunderttausende in allen Ländern aufs tiefste ergriffen hat. .-Diese Symphonie sei' überhaupt keine Symphonie- denn um eine solche zu schaffen, genüge es nicht, ein Riesenorchester, einen verstärkten Chor und mehrere Solisten einzusetzen. Alles ist unverdaut- mit allzuleichten Themen allzu bekannten Rhythmen, die an den Operettenstil erinnern!“ — „Kein Wunder“, urteilt ein anderer Kritiker, „daß dieser getaufte Jude mit seiner gewollten, aber nicht gekonnten Musik bei uns nie populär geworden ist. Seinen Kompositionen fehlt die Klarheit, die Einfachheit und die Meisterschaft des wirklichen Genius.“ „Ein gewaltiger Kraftaufwand gebäre ein Mäuslein, in dem Bestreben, tief zu sein, enthüllte Mahler nur eine schreckliche Hohlheit.“ Und die galligste Betrachtung gipfelt in dem Satz: „Die Besucher erinnern sich mit' Bedauern daran, daß sie das gleichzeitig stattfindende Fußballmeister-chaftsspiel zwischen Rom und Turin versäumt haben, dessen zweite Halbzeit soeben begonnen hat.“

Wenn man von dem jedem Musikfreund unverständlichen Faktum absieht, daß eine Schöpfung, die noch zu Lebzeiten Verdis, Brahms und Brudcners entstanden und uraufgeführt worden ist. erst nach 54 Jahren den römischen Ohren zugänglich ge-madit wurde, so kann man sich nidit leicht ejnes befremdlichen Erstaunens erwehren-über die Art, mit welcher Mah'.crs Musik einmütig abgelehnt wird und über die Intensität von Argumenten, die nidit allein in ästhetischer Aversion zu wurzeln scheinen. . Ich kenne weder den Dirigenten dieser Aufführung. Jonel Perlea, nodi das Qrdiester oder den Chor der Akademie von S. Cecilia. Aber sicher ist, daß die Ausführenden — mögen sie audi nicht ausgesprochen spezialisierte Experten Mahler-scher Interpretation sein — als repräsentative Künstler der Hauptstadt des Musiklandes Italien keine so verzerrte, so undeutliche Auslegung dieser Partitur dargeboten haben, daß diese Umstände einen so allgemeinen Mißerfolg begründen und rechtfertigen könnten. Das Land, in welchem Koloraturen, melodiöse Kantüenen und strahlende Tenorhöhen hodi im Kurse stehen, mag vielleicht weniger aufnahmefähig für die grandiose Metaphysik dieses symphonischen Werkes sein; aber eine so bedeutende Figur wie Gustav Mahler in dieser Weise äbzutan, kann nicht unwidersprochen bleiben. In einem demokratischen Land, wie es das Italien von heute darstellt, ist die Kritik — also auch die musische Kritik gewiß völlig frei, aber die Musikgeschichte lehrt, daß die Nachgeborenen das beifällige oder mißfällige Urteil der Zeitgenossen mehr wie einmal umgestoßen haben. Durch Jahrzehnte, waren J. S. Bachs

■Werke in eine zweite Linie gedrängt; von der Verständnistosigkeit der damaligen zünftigen Beurteiler der Pastorale zieht sich die Kette der Irrtümer über den Pariser jjTannhäuser“-Skandal und den Mißerfolg der „Carmen“-Premiere bis zur Verkennung Bruckners -und Mahlers. Es sei ohne weiteres

•zugegeben, daß Mahlcrs Gciühlswelt und.

Aüsdrucksform manchem modernen Schaffenden und Zuhörenden ferner stehen, daß, ästhetisch gesehen, die hyperromantischen Züge seiner Persönlichkeit inaktuell wirken und daß aus der Anwendung neuer Tonreihen klanglidie und harmonische Weite-

rungen sich ergeben haben, die das Interesse an den Schöpfungen einer jüngsten Vergangenheit etwas in den Hintergrund rückten — obwohl gerade zwei bedeutende Komponisten der Gegenwart diesen Satz Lüge strafen: Messiaen und Schostakowitsch. Die Mystik des ersteren ist mit der Mahlerschen durchaus verwandt, und manche Fäden spinnen sich von den Partituren des letzteren zu denen des großen österreichischen Symphonikers. Aber jede künstlerische Wertung ist nur zum Teil Geschmacksache; irgendwo muß denn doch ein absoluter allgemeingültiger Maßstab zur Anwendung kommen, und das ist im Falle Mahler längst geschehen. Keine ernstzunehmende Musikgeschichte hat seinen Namen, seine Werke, seine Gesamtersdieinung anders als positiv beurteilen können. Er bedarf nicht unserer Anerkennung, aber wir bedürfen seiner Schöpfung.

Der bedauernswerte Tatbestand, daß eine Reihe von Kritikern einem Meisterwerk schwerhörig gegenübersteht, ist eine lokale Angelegenheit, ein Sturm im Wasserglas, der nur musikalische Kreise zu beschäftigen vermag. Aber von allgemeiner Bedeutung wäre die Tatsache, wenn auf künstlerischem Gebiet Symptome eines national oder wie immer orientierten Chauvinismus wieder zu keimen begännen. Der Meldezettel eines Kunstwerks soll nur eine Rubrik enthalten: die der Schönheit, die immer wieder zu verkünden eine freudige Pflicht aller Kunstbeflissenen sein müßte. In mustergültigen Aufführungen sollten die Mahlerschen Symphonien auferstehen nach vieljähriger unfreiwilliger Pause. Sie würden zweifellos ein Publikum, welches das Gefühl für Qualität im Blut hat wie das römische, nicht unbeeindruckt lassen. -Mit einem Kunstwerk“, sagt Schopenhauer, „muß man sich . verhalten wie mit einem großen Herrn, nämlich sich davor hinstellen und warten-bis es einem etwas sagt.“

So trostlos wäre die Vorstellung- daß es zwischen der Kunst eines Landes und einer angestrebten Grenzberichtigung einen Zusammenhang geben sollte, daß sich eine Proportion aufstellen ließe, welche die meßbaren Höhen der Südtiroler Berge in eine Beziehung zu jenen unmeßbaren Höhen bringt, in die uns Mahlers Musik führt. Als es vor nicht allzu langer Zeit in gewissen Musikerkreisen zur Mode geworden war, Puccini. der ebenso wie Respighi Mahler hoch geschätzt hat, als Komponisten sentimentaler Operettenmelodien und nachtlokalartiger Rührseligkeit zu bezeichnen, ist Österreich diesem Widersinn durch Wort und Tat entgegengetreten. Möge die italienische Musikkritik die gleiche Objektivität den Schöpfungen Gustav Mahlers angedeihen lassen.

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