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Gustav Mahler und unsere Zeit

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Vor 35 Jahren starb in Wien Gustav Mahler. Das bedeutet: wir blicken heute, da unser Gefühl und unser inneres Ohr geschärft sind für das wahrhaft Große und Wertvolle, aus dem Abstand einer Generation auf das Werk und die menschliche Person Mahlers. Sein Werk: zehn gewaltige Symphonien und eine große Zahl beglückend schöner Lieder, die sieben Jahre lang verboten waren und für immer ausgelöscht sein sollten, gilt es, als unverlierbaren Besitz zu erwerben, indem wir sie wieder hören. Mahlers faszinierende Persönlichkeit, der geniale Dirigent und Hofoperndirektor, wirkt lebendig fort in der Tradition des Hauses, das er zehn Jahre lang leitete, und 'in der Erinnerung seiner Schüler, der Sänger, die er erzog, und des Publikums, dem er Stunden edelsten Kunstgenusses geschenkt hat.

In dem kleinen böhmischen Ort Kalischt, nahe der mährischen Grenze, wurde Gustav Mahler am 7. Juli 1860 geboren. Er kam aus kleinen, bescheidensten Verhältnissen, und so früh auch seine musikalische Begabung erkannt wurde und seine Eltern bestrebt waren, ihm seine--ersten Schritte zu erleichtern, so war er doch schon in jungen Jahren, ein halbes Kind, darauf angewiesen, sich sein Brot selbst zu verdienen. In Iglau wächst er heran, in Prag absolviert er das Gymnasium und an der Wiener Universität hört er Vorlesungen, hauptsächlich Philosophie. Von unstillbarem Bildungshunger erfüllt, verschafft er sich Lektüre jeder Art und legt das Fundament zu jenem universalen Wissen, das ihn aus der Reihe seiner Musikkollegen so bedeutsam ' heraushob. Gleichzeitig studiert er am Wiener Konservatorium, tritt als Schüler Anton Bruckner nahe und beginnt den Leidensweg eines jungen Theaterkapellmeisters. Hall, Laibach, Olmütz und Kassel heißen die nächsten Stationen seines Lebens. In Prag kommt er zum ersten Male in eine leitende Stellung, 1888 wird er an die Budapester Hofoper berufen. Nach einem Jahr schon verläßt er Budapest, um als erster Dirigent an das Hamburger Opernhaus zu gehen. Von dort folgt er 1897 einer Berufung an das Wiener Hofoperntheater, dessen Direktor er im folgenden Jahre wurde und an dem ,er bis zum Jahre 1907 wirkte. Diese Stellung gibt er unter unerfreulidien Begleitumständen, innerlich zermürbt und mit geschwächter Gesundheit auf, um sich intensiver seinem kompositorischen Schaffen widmen zu können. Während einiger längerer Aufenthalte in Amerika, die ihm nicht nur Ehre und Ruhm, sondern auch äußeres Wohlleben und Reichtum brachten, erkrankt er schwer, liegt mehrere Wochen zwischen Tod und Leben in Paris und stirbt am 18. Mai 1911 in Wien, in d e r Stadt, deren Operntheater er den kostbarsten Teil seines Lebens gewidmet — die den Lebenden verkannte, dem Toten aber Ehre und Anerkennung nicht versagte.

Ein Künstlerleben, ein Musikerleben: nicht gerade arm, aber auch nicht reich an Zügen und Einzelheiten für eine Künstlerbiographie, trotz des steilen Aufstiegs des kleinen Kaufmannsohnes aus einem böhmischen Nest zum allmächtigen Opernchef und in den Glanz und Reichtum, den die Neue Welt einem Künstler von Weltruhm anbot. Mahlers äußeres Leben hat sein Schaffen kaum wesentlich bedingt. Nur die landschaftlichen und musikalischen Eindrücke seiner frühen Kindheit und Jugend haben eine unverhältnismäßig tiefe Wirkung auf sein kompositorisches Schaffen ausgeübt. Die deutschen und böhmischen Volkslieder seiner Heimat, die Signale und Marschrhythmen, die vom nahen Exerzierplatz der Garnison seines Heimatortes herübertönten, erstehen verwandelt und veredelt in seinen Liedern und in den erhabenen Trauermärschen seiner gewaltigen Symphonien. Und er, der anspruchsvolle Kulturmensch, hat diese ersten Eindrücke seiner Kindheit in rührender Treue bewahrt. Von den „Liedern des fahrenden Gesellen“, deren Text er sich selbst schrieb, und der I. Symphonie, die er mit zweiundzwanzig Jahren entwarf und im achtundzwanzigsten Lebensjahr vollendete, bis in seine letzten Werke tauchen diese Motive in Mahlers Musik auf; ja sie bilden geradezu einen Grundbestandteil seines Schaffens. Von allen übrigen Einflüssen — solchen der klassischen Werke der Vergangenheit und der mitstrebenden Zeitgenossen — .ist Mahlers Musik fast frei. Denn es ging Mahler nicht um die Fortsetzung einer bestimmten Traditon und die Erneuerung alter Formen. Ihm war Musik nicht tönend bewegte Form, sondern Spiegelung der Welt und des Alls.

Was wir in Mahlers Musik erleben, ist immer ein Stück seelischer Autobiographie, „Bruchstück einer großen Konfession“, die Auseinandersetzung einer eigenwilligen Individualität mit den letzten Dingen: Gott und Welt, Tod und Unsterblichkeit, Geist und Natur. Dieses titanische Streben, diese höchste Prätention seiner Kunst, führte Mahler zwangsläufig auch zu neuen Formen und Ausdrucksmitteln. Zwangsläufig und nicht willentlich oder aus Neuerungssucht, wie er es in einem Brief aus späterer Zeit ausgesprochen hat:

„Es ist ein seltsamer Vorgang! Ohne daß man es anfangs weiß, wohin es führt, fühlt man sich immer weiter und weiter über die ursprünglidie Form hinausgetrieben, deren reicher Gehalt doch, wie die Pflanze im Samenkorn, unbewußt in mir verborgen lag.“ Seine Symphonien und einzelne seiner symphonischen Sätze nehmen gewaltige Ausmaße an. Der Orchesterklang wird äußerst differenziert und der Aufführungsapparat wächst ins Gigantische. Die instrumentalen Ausdrucksmittel allein wollen nicht mehr genügen: die menschliche Stimme wird zur Bereicherung des seelischen Ausdrucks herangezogen, das Wort soll den Inhalt und die künstlerischen Absichten verdeutlichen helfen. So treten in der zweiten, dritten und vierten Symphonie zu den Stimmen der Instrumente nodi Solostimmen, Knaben- und Frauenchöre. Die folgenden drei Symphonien, von der Fünften bis zur Siebenten, verzichten auf die Mensdienstimme, während die Achte, die Symphonie der Tausend — Gipfel des Mahlerschen Schaffens —, einen riesigen Apparat in Bewegung setzt. Zu dem stark vergrößerten Orchester, den zahlreichen Schlaginstrumenten, zu Orgel, Harmonium, Klavier, Celesta, Harfen, Mandolinen und Glocken treten zwei gemischte Chöre, ein Knabenchor und acht Solostimmen, die im ersten Teil den gewaltigen mittelalterlichen Hymnus „Veni creator Spiritus“ anstimmen und im zweiten Teil die feierlich-verklärten Verse der letzten Faustszene in Tönen erhabener Ruhe verkünden. „Es ist das Größte, was ich bis jetzt gemacht habe, das Universum beginnt zu tönen und zu klagen“, sagt Mahler in einem Brief über dies Werk von großartiger Intention, das nach Form und Gehalt als symphonisches Weihefestspiel bezeichnet werden kann. Im September 1910 wurde das Riesenwerk unter Mahlers Leitung, acht Monate vor seinem Tode, in München uraufgeführt. Es war das letzte seiner Werke, welches er hören durfte. „Das Lied von der Erde“, die IX. und X. Symphonie vernahm nur mehr sein inneres Ohr.

In diesen letzten Werken schien sich ein neuer Stil Mahlers anzubahnen. Schon in den „Kindertotenliedern“ und an zahlreichen Stellen seiner Symphonien entzückt uns bei Mahler das reiche und dabei immer übersichtliche Gewebe der einzelnen Stimmen. Seit dem „Lied von der Erde“ wurde Mahlers Schreibweise noch linearer, der Klang des Ordiesters ungemischter, das ganze Werk transparenter. Die große Ruhe und Gelassenheit beginnt sich auszubreiten, jene östliche Stimmung, die Mahler wahlverwandt aus den Gedichten der großen Chinesen des 8. und 9. Jahrhunderts an-spradi und die im „Lied von der Erde“ in die Worte ausklingt:

„Ich werde niemals in die Ferne schweifen. Still ist mein Herz und harret seiner Stunde! Die liebe Erd allüberall blüht auf im Lenz

und grünt

Aufs neu! Allüberall und ewig blauen licht

die Fernen!

Ewig . . . ewig . . .“

Diese innere Entwicklung Mahlers spiegelt sich auch in seiner Vorliebe zu den großen schöpferischen Gestalten der anderen Künste. In jungen Jahren waren es vor allem die Philosophen und Dichter der Romantik, die ihn anzogen, insbesondere Novalis, Hoffmann und Jean Paul. Schopenhauer, Wagner und Dostojewski verdankt er Wesentliches, immer aber schien das ruhige Gestirn Goethes über ihm, dessen Sphäre er sich in reiferen Jahren immer mehr näherte.

Als Opernchef sah Mahler seine Aufgabe vor allem darin, durch werkgetreue, in jeder Hinsicht musterhafte Aufführungen den Menschen Weihestunden höchster Kunst zu schenken. Das war natürlich nur dadurch möglich, daß er von den ausführenden Künstlern ungewöhnliche Leistungen forderte. Die allgemeine Anerkennung während der ersten Zeit und der Eindruck seiner Persönlichkeit waren so stark, daß sich das Publikum von ihm Neuerungen gefallen ließ, die für uns heute zu den Selbstverständlichkeiten gehören, die vor ihm aber kein anderer hätte wagen dürfen: ungekürzte Aufführungen auch der Wagner-Opern, Verdunkelung des Zuschauerraumes, Aussperrung der Zuspätgekommenen und Abschaffung der Claque. Von allen Ausführenden verlangte er, was er von sich selbst in aufopferungsvoller, schonungsloser Probenarbeit forderte: Dienst am Werk. Hiebei stand ihm hindernd der besonders in Wien so verbreitete Kult mit Lieblingssängern und -Sängerinnen im Wege. Mahler aber kannte, wenn es um das Letzte ging, keine Menschen mehr, sondern nur noch die Sache. Das war das Unwienerische an ihm, und diese Eigenschaften, die ihn auf dem Gebiet der Kunst unüberwindbar machten, brachten ihn letzten Endes zu Fall. Mit einem ganzen Ballast von Schlendrian und schlechter Opernträdition galt es aufzuräumen. „In jeder Aufführung muß das Werk neu geboren werden. Es gibt keine Tradition, nur Genius und Stupidität“, pflegte er in seiner unkonzilianten Art zu sagen. Wenn er auch versuchte, durch doppelte Güte wettzumachen, wo er in der Erregtheit des Zielbesessenen verletzt hatte, so schuf er sich doch mit der Zeit Feinde ringsum. Gleichzeitig erkannte er, daß es auch ihm unmöglich war, den Opernbetrieb grundlegend zu reformieren, die Werke der darstellenden Kunst zu monumentalisieren und aus dem Cperntheater ein Festspielhaus zu machen, was ihm als letztes und höchstes Ziel vorschwebte. Zu einem Freunde sagte er darüber resignierend: „Wenn ich mir die allergrößte Mühe gegeben hatte, eine vollendete Vorstellung zu erzielen, mußte ich schon bei der Wiederholung mitansehen, wie allmählich das Beste abbröckelte; die dritte, vierte und fünfte Aufführung verschlechterte sich zusehends, und es war mir keine Möglichkeit gegeben, innerhalb des Repertoirbetriebes so viel Proben zu halten, als zur Aufrechterhaltung des Niveaus, das idi für entsprechend hielt, notwendig gewesen wären.“ Diese angespannte Tätigkeit, dieser verzehrende Dienst am Kunstwerk brachten ihm nur Anfeindungen und Undank und gingen auf Kosten der eigenen Produktion, die ihm auch während seiner Wiener Zeit als seine oberste Aufgabe erschien, der er sich aber nur während der Sommermonate ungestört widmen konnte. So kam es, daß sich Mahler von der Leitung des Wiener Hofoperntheaters zurückzog und damit die glanzvollste Ära der Oper ein unrühmliches Ende fand, ein Ende, das einer seiner mitstrebenden Zeitgenosssen als eine „Kulturtragödie und eine Sdiande“ bezeichnet hat.

Unübertrefflich und unbestritten aber war Mahlers Leistung als Dirigent. Wenn er am Pult stand, konnte niemand — weder das oft widerstrebende Orchester, noch das Publikum — sich der Faszination seiner Persönlichkeit entziehen. So beschreibt ihn einer seiner ersten Biographen und Freunde:

„Wenn der kleine Mann mit den lebhaften Bewegungen sich dem Pulte näherte, ;rat Stille ein. Er grüßte mit freundlicher, klarer, sympath:scher Stimme die Musiker, die, sobald er den Taktstock erhob, von seinem Blicke gebannt, seinem führenden Willen sich ergaben. Aus seinen Zügen spricht Ernst und heiliger Eifer, die leuchtenden Augen verbreiten Licht und Helligkeit, bei mystischen Stellen wie verträumt dreinblickend; im kraftvollen Kinn äußert sich energischer Wille wie in den belebten Flügeln der scharfgeschnittenen Nase und in der hohen Stirn, in die sich Falten legten, sobald Zweifel und Zorn sich erheb*, wogegen aus den feinen schmalen Lippen ein müdes Lächeln sprechen kann. In allem überlegend und überlegen, läßt er sich in seinen Körperbewegungen frei ergehen, manchmal ins Groteske, mit nervösem Zucken und Aufsdilagen des Fußes. Doch seine Bewegungen wurden im reiferen Alter immer konzentrierter. Die Arme scheinen sich mit der notwendigen Angabe von Takt und Tempo begnügen zu wollen, Auge und Miene bohren sich in die aufmerksam Aufsehenden ein, Handgelenk und Fingerspitzen leisten mehr als früher Arme und Füße. Mahlers Dirigieren vergeistigte sich immer mehr und mehr, und der Wille teilte sich wie in elektrischen Entladungen mit, die dem Auge des Zuschauers unsichtbar blieben. Mahlers Arbeit im Dr gieren und Komponieren verinnerlichte sich stetig.“

In einem seiner schönsten Gedichte aus dem Zyklus „Die Herren des Lebens“ beschwört Stefan Zweig die Gestalt Mahlers am Dirigentenpult:

......Aber dort

Hoch über diesem Meer schwebt einer noch, Wie eine schwarze Möve mit den Schwingen Hinreisend über das erregte Stürmen Des namenlos beseelten Elements. Er ringt damit, taucht bald hinab, als griff Er Perlen von dem Grund, bald schnellt er hoch

Wie ein Delphin sich aus dem wild-gepeitschten Gewirr der brennend lodernden Musik. Ein einziger, da wir schon hingerissen Und schwank verströmt sind, selber Wind

und Welle, Kämpft er noch mit den losen Elementen, Gebändigt halb und halb der Töne Meister.“

Noch zwei andere große Zeitgenossen Mahlers haben seiner menschlich-künstlcrisehen Person ein Denkmal gesetzt. Thomas Mann verlieh unter dem Eindruck der Nachricht von Mahlers Tod dem Helden seiner Meisternovelle „Der Tod in Venedig“, Gustav Achenbach, nicht nur den Vornamen des großen Musikers, sondern, bei der Beschreibung von dessen Äußerem, auch die Maske Mahlers. Und der große französische Plastiker Auguste Rodin huldigte ihm, indem er dem Haupte seines Genius ebenfalls die Züge Mahlers gab.

So steht das Bild Mahlers, des großen Dirigenten und Herrschers im Reich der Töne, vor unserem geistigen Auge. Die Frage aber, die einer seiner Biographen aufwirft, „ob die eigentliche Größe dieser Erscheinung im Wesentlichen des musikalisch Substantiellen, in der gewaltigen Monumentalität der Architektur in Tönen oder in ihrer sittlichen und geistigen Macht und deren Auswirkung hegt“, ist für uns heute keine Frage mehr, zumindest kein Dilemma. Mahler ist für uns nicht nur der Künstler, in dessen Persönlichkeit und Werk sich eine Zeitwende am deutlichsten und eindringlichsten spiegelt — auch das Lebensgefühl unserer Gegenwart mit ihren äußeren Katastrophen und ihren inneren Aufschwüngen hat er vorweggenommen. Mahler nannte sich selbst gelegentlich einen „Unzeitgemäßen“, und er mag es in seiner Zeit gewesen sein. Uns, die wir vieles von dem durchlitten und durchlebt haben, was Mahler visionär gestaltet hat uns ist er der Zeitgemäßesten einer. Deshalb wird Mahlers Musik all denen verständlich sein, in denen das neue Lebensgefühl wirksam ist. Er wendet sich an alle: an Naive und Geistige. Der einfältige Naturlaut und die tiefsten geistigen Probleme sind in seinem Werk Klang geworden.

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