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„Menschheitsdämmerung“ — nach 40 Jahren

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Dieses berubmte Sammelwerk, gegen Ende des Jahres 1919, erstmalig erschienen„ wurde in zwei Jahren viermal neu gedruckt und war in 20.000 Exemplaren verbreitet. Bis vor kurzem gehörte es zu den seltensten, meistgesuchten Büchern seiner Art, und Interessenten boten dafür Phantasiepreise. Es fand damals, in den zwanziger Jahren, sehr schnell die Anteilnahme einer Zeit, deren Ausgeburt es war. Und es wird auch heute wieder Interesse finden, und zwar nicht nur literarhistorisches.

Doch zunächst: Was wollte der Herausgeber damals, was schwebte ihm vor, was gelang ihm? Keine Blütenlese zeitgenössischer Poesie jedenfalls, keine Mustersammlung „schöner" Gedichte, die man ge- mießen konnte, sondern eine Sammlung — „Sammlung im doppelten Sinn: Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche — unserer Epoche“. Es sollte nicht „Skelette von Dichtern zeigen, sondern die schäumende, chaotische, berstende Totalität unserer Zeit". Auch kein Gesamtbild jener Zeit — es handelt sich ausschließlich um das lyrische Jahrzehnt von 1910 bis etwa 1920 —, sondern „charakteristische Dichtung einer Jugend, die recht eigentlich als die junge Generation des letzten Jahrzehnts zu gelten hat, weil sie am schmerzlichsten an dieser Zeit litt, am wildesten klagte und mit leidenschaftlicher Inbrunst nach dem edleren, menschlicheren Menschen schrie“. Trotzdem: keine Gruppe und Schule wird hier präsentiert, sondern „diese Gemeinsamkeit ist die Intensität und der Radikalismus des Gefühls, der Gesinnung, des Ausdrucks, der Form, und diese Intensität, dieser Radikalismus zwingt die Dichter Wieder zum Kampf, gegen die Menschheit der zu Ende gehenden Epoche und zur sehnsüchtigen Vorbereitung und Forderung neuer, besserer Menschheit." —- „Es ertönt die Musik unserer Zeit, das dröhnende Unisono der Herzen und Gehirne“, schreibt Kurt Pinthus in der ersten Vorrede von 1919, ganz in der Sprache und im Stil der von ihm Betreuten.

Doch — versuchen wir, etwas nüchterner zu fassen, was diese Sammlung „Menschheitsdämmerung“ ist. Zunächst der Titel: Alle diese Gedichte kreisen um den Menschen „schlechthin", nicht sein privates Leben und Schicksal interessiert, sondern „die Menschheit“, die, so glauben diese Dichter zu fühlen, in die Dämmerung, in die Nacht des Unterganges versinkt. Dem Untergang geweiht sind die alten Gesellschaftsformen, die Kunst, wie sie bisher war, der Lebensstil des einzelnen. Dies Gefühl hatten jene Dichter, die man als Expressionisten zu bezeichnen übereingekommen ist, nicht erst nach, sondern schon vor und während dem ersten Weltkrieg. Eine alte Zeit versinkt — aber schon dämmert ein neuer Tag herauf, der neue Menschheitstag, den viele von ihnen prophetisch künden und enthusiastisch preisen. (Die Sammlung beginnt mit Jakob van Hoddis „Weitende“ und der sprachmächtigen Untergangsvision Georg Heyms „Umbra vitae“ — und .sie klingt aus mit Kurt Heynickes Lobpsalm und Werfels „Lebenslied“, das in die Verkündigung mündet „Wir sind!“) Alle diese Dichtungen hat Kurt Pinthus nicht nach ihren Autoren aufgereiht, sondern — in der Art . ęįner SympJionig —• in vier Sätzen mit folgenden großen Themen angeordnet: Sturz und Schrei, Erwek- kung des Herzens, Aufruf und Empörung, Liebe den Menschen. Innerhalb dieser großen „Sätze“ war der Herausgeber bestrebt, die einzelnen Gedichte nach kleinen und kleinsten Motiven zu gliedern. Auf diese Weise entsteht ein mächtiges polyphones Gebilde, dessen Humanitätsmelodie bald grell, bald zart durchklingt, und das die Einheit einer Generation erweist, welche die letzte große literarische Weltbewegung, den Expressionismus, repräsentiert.

Sämtliche 23 Autoren, mit Ausnahme von Theodor Däubler und Else Lasker-Schüler, sind in den achtziger und neunziger Jahren geboren. Fast alle könnten noch unter uns sein. Aber von den 23 Dichtern der „Menschheitsdämmerung“ sind nur noch drei am Leben. Einen „Zug sehnsüchtig Verdammter“ hat der Herausgeber diese Dichter in der Vorrede von 1919 genannt, und er meinte wohl ihr Leiden an der Zeit, das Scheitern dieser „Utopisten“ an der Wirklichkeit, die hoffnungslose Aufgabe einer kleinen Schär, den Glauben an das Gute, Zukünftige, Göttliche inmitten einer ahnungs- und glaubenslosen Menschheit bewahren zu müssen. — Aber die Wirklichkeit War schlimmer, als die Untergangspropheten sie sahen, und der „neue Tag“ ist für die allermeisten von diesen Umgetriebenen und Unsteten, Duldern und Kämpfern nicht gekommen. Das ungeheure Blutopfer, das unsere Zeit von dieser Generation ge-

fordert hat, spiegelt sich im Schicksal dieser 23. Im Jahre 1933, als man sich anschickte, diesen „Menschheitsbeglückem mit Linksdrall“ den Garaus- zu machen, waren sieben von ihnen nicht mehr am Leben: Georg Heym war in der Havel ertfunken, Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz, Ernst Stadler und August Stramm sind im ersten Weltkrieg gefallen, Georg Trakl war zugrunde gegangen und Ludwig Rubiner wurde 1920 ein Opfer der Nachkriegsgrippe. Das Schicksal der übrigen: Walter Hasenclever — Selbstmord auf der Flucht vor den Deutschen (1940), desgleichen Alfred Wolfenstein (1945), Albert Ehrenstein stirbt nach langer Krankheit 1950 in tiefem. Elend in New York, Else Lasker- Schüler in gewohnter Armut 1945 in Jerusalem, Karl Otten erblindet während der Bombardierung in London, Franz Werfel stirbt wenige Jahre nach der Flucht aus Spanien in Kalifornien, Paul Zech auf einer Straße in Buenos Aires. Renė Schickele stirbt, verfolgt, 1940 in Südfrankreich, Iwan Goll gelingt die Flucht nach New York, wo er an Leukämie zugrunde geht. Nur Rudolf Leonhardt und Johannes R. Becher kehren nach Deutschland zurück und werden — letzterer als höchster Kulturbeamter der DDR — geehrt. (Von ihm stammt das Zeugnis — in seiner „Poetischen Konfession“: „So sehr habe ich dich die Poesie geliebt, daß ich auch das, was mir aus tiefster Seele zuwider war, nicht ausschlug und mancherlei unternahm, was nicht nur die Hände beschmutzte, sondern worunter auch die Seele Schaden litt — und damit auch meine Liebe zu dir.“) In Deutschland waren nach 1933 geblieben: Jakob van Hoddis (1942 geisteskrank abtransportiert und seither verschollen), Theodor Däubler (der: 1942 arm und einsam im Schwarzwald Starb) und Gottfried Benn, der nach wechselvollem politischem und persönlichem Schicksal seine letzte Ruhestätte auf dem Dahlemer Friedhof in Berlin fand. Die letzten Ueberlebenden sind Wilhelm Klemm (der als Dichter. seit 1922 schwieg), Kurt Heynicke (der Unter- haltungsromane schreibt) und Karl Otten (nach 22 Jahren Exil in England gegenwärtig in der Schweiz ansässig).

Zum Schluß die Frage nach der literarischen Relevanz dieser Bewegung, ihre etwaige Bedeutung für die Gegenwart. Dem heutigen Leser kommt vieles, ja das meiste in diesem Band, überinstrumentiert, überschrien, fragmentarisch und zerrissen vor. Aber hat man einmal das hohe Pathos, den heißen Atem und den Ueberschwang, die Ekstase und die große Gebärde dieser Dichtung verspürt, dann will einem das, was die zornigen jungen Männer von heute produzieren, wie die uninteressante und selbstgefällige Beschäftigung von Schrebergärtnern und Bastlern erscheinen, und ihre gelegentlichen Exzesse muten wie Ungezogenheiten Halbwüchsiger an. Und während die Form- und Sprachzertrümmerung der jungen Expressionisten irgendwie legitim und als Zeichen einer großen Menschheitskrise erscheint (die Auflösung der Form und die Explosion der Farbe fand in der Malerei kurz vorher, etwa 1905 bis 1907 statt, die Auflösung der Tonalität in der abendländischen Musik etwa zur gleichen Zeit), so lehnen sich unSere Zeitgenossen vornehmlich an ausländische Vorbilder an. Kurt Pinthus weist in seinem neuen Vorwort darauf hin, daß es sich hierbei fast durchweg um Modelle aus zweiter Hand handelt, denn Elliot, Auden, Lorca, Wilder, Williams und Spender sind entweder jünger als die Dichter der „Menschheitsdämmerung" oder sie standen in ihrer Jugend unter deren direktem Einfluß. . . Insofern ist die Neuherausgabe dieser Sammlung auch geeignet, eine entwicklungsgeschichtliche Lücke zu schließen, indem sie unseren Jüngsten ihre wahren und größtenteils unbekannten Väter zeigt.

Kurt Pinthus, der alle diese 23 Dichter persönlich kannte und mit vielen von ihnen befreundet war, hat die Biographien seiner Altersgenossen gewissenhaft ergänzt — eine schwierige und dornenvolle Arbeit, für die ihm unser Dank gebührt. Er hat nicht nur vollständige Werkverzeichnisse angelegt, sonderfi- auch, soweit vorhanden und feststellbar, angegeben, wo die Nachlässe zu finden sind. Damit erhält die Neuausgabe der „Menschheitsdämmerung“ auch wissenschaftlichen Rang, zumal sie ohne die kleinste Aenderung mit den beiden alten Vorreden von 1919 und 1922 so abgedruckt ist, wie sie vor vierzig Jahren erstmalig erschien.

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