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Hermann Hesse — Hippie-Star?

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Der Kenner und Liebhaber des Hesseschen Werkes mußte mit Indignation feststellen, daß während der letzten 20 Jahre dieses umfangreiche und vielgestaltige pus eines bedeutenden Prosaisten von der fortschrittlichen deutschsprachigen Literaturkritik ignoriert, zuweilen auch herabgesetzt und ironisiert wurde. Dabei hätte die Zustimmung so verschiedenartiger Autoren, wie Thomas Mann und Kafka, Gide und Tucholsky, Zweig und Bert Brecht, Thornton Wilder und Henry Miller, zur Vorsicht mahnen sollen. Aber Hesse blieb für die Progressiven der „deutsche Romantiker“ und Sonderling. „Das Glasperlenspiel“ — nun ja, ein Alterswerk, in dem Hesse „sich selbst übertroffen hat“ und über das sich, übrigens, besonders gut philosophieren ließ. Aber ansonsten? — Passe!

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Der Kenner und Liebhaber des Hesseschen Werkes mußte mit Indignation feststellen, daß während der letzten 20 Jahre dieses umfangreiche und vielgestaltige pus eines bedeutenden Prosaisten von der fortschrittlichen deutschsprachigen Literaturkritik ignoriert, zuweilen auch herabgesetzt und ironisiert wurde. Dabei hätte die Zustimmung so verschiedenartiger Autoren, wie Thomas Mann und Kafka, Gide und Tucholsky, Zweig und Bert Brecht, Thornton Wilder und Henry Miller, zur Vorsicht mahnen sollen. Aber Hesse blieb für die Progressiven der „deutsche Romantiker“ und Sonderling. „Das Glasperlenspiel“ — nun ja, ein Alterswerk, in dem Hesse „sich selbst übertroffen hat“ und über das sich, übrigens, besonders gut philosophieren ließ. Aber ansonsten? — Passe!

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Nun brandet eine mächtige Hesse-Welle aus Amerika und Japan zu uns herüber, die wohl bald auch an europäischen Gestaden einige Bewegung auslösen wird. Mit sechs Millionen verkaufter Hesse-Bücher in den USA seit 1966, mit vier Millionen in Japan und Übersetzungen in 35 Sprachen sowie in zwölf indische Dialekte ist Hesse der meistgelesene Autor seit 100 Jahren. Die Zahl der im deutschsprachigen Raum verkauften Titel ist vergleichsweise gering, aber ebenfalls nicht zu ignorieren: 150.000 Einzeltitel im Jahr 1971, in verschiedenen Ausgaben des Suhrkamp-Verlages sowie etwa die gleiche Menge von Exemplaren, die von anderen Verlagen (Hesse-Taschenbuch-Lizenzen) abgesetzt wurden.

Außer in Indien, wo das größte Interesse „Siddharta“ gilt, ist die Reihenfolge der internationalen Beliebtheit die folgende: „Der Steppenwolf“, „Siddharta“, „Demian“, „Narziß und Goldmund“, „Das Glasperlenspiel“, „Unterm Rad“. Diese Reihung macht verschiedenes deutlich, gibt wichtige Hinweise darauf, was die amerikanische Jugend, aber auch die japanische an Hesse so fasziniert, weshalb sie ihn als einen der Ihren empfindet. (In den vierziger und fünfziger Jahren waren es vornehmlich die mittleren Jahrgänge, die sich für Hesse interessierten, besonders für das „Glasperlenspiel“', aber auch für die Übersetzung des „Demian“ von 1948 mit einem Vorwort von Thomas Mann.)

Das Literarische kommt erst in zweiter Linie. „Hermann Hesse sagt uns, wie wir leben sollen“, so bezeugen es amerikanische Jugendliche, Hippies und Studenten. Ihrer Verehrung geben sie auf oft naive Weise Ausdruck, indem sie etwa eine Beat-Band und eine Studententaverne „Der Steppenwolf“ nennen. Und das „magische Theater“, wie es in diesem Buch geschildert wird, empfiehlt ein Artikel in der „Psychedelic Review“ als unschätzbares Lehrbuch, das man vor jeder LSD-Sitzung lesen sollte.

Hesse ist, das erweist sich in diesem Jahrhundert zum zweitenmal, der Helfer in Zeiten der Depression, wo Bilanz gezogen wird, wo man um Neuorientierungen bemüht ist: in Europa nach den für die Deutschen verlorenen beiden Kriegen, in den USA nach dem Vietnamdebakel. — Besonders in seinen Jugendwerken negiert Hesse unsere Welt so, wie sie ist. Er ist ein Antibürger, er ist gegen die etablierte Gesellschaft und trotzdem kein Revolutionär. „Jeder muß für sich selber finden, was erlaubt und was verboten — ihm verboten ist.“ Es geht ihm immer nur um den einzelnen, nie um die Masse, das Volk, eine bestimmte Klasse, Veränderung — im Sinne einer Humanisierung der Welt — kann nur vom einzelnen ausgehen, „mir liegt alles Politische nicht, sonst wäre ich längst Revolutionär“ und: „Ich halte von Kampf, Aktion und Opposition nicht das mindeste, ich glaube zu wissen, daß jeder Wille zur Änderung der Welt zu Krieg und Gewalt führt und kann darum mich keiner Opposition anschließen“. Auch keiner linken. Deshalb konnte er nie Parteimitglied werden und nie seine Schriftstellerei in den Dienst irgendeines Programms stellen.

Hinzu kommt sein unbedingter Pazifismus, den er während des ersten Weltkrieges ebenso konsequent praktiziert hat wie im zweiten Weltkrieg. Dies dokumentieren unzählige Briefe, der Banc „Krieg und Frieden“ sowie eine 1971 in den USA erschienene Sammlung politischer Aufsätze unter dem Titel „If the war goes on' („Wenn der Krieg weitergeht“), Hesse stand immer zwischen den feindlichen Lagern. Die bürgerliche Presse zum Beispiel erklärte den „Steppenwolf“ als böse und unanständig, die sozial fortschrittliche und revolutionäre als „hoffnungslos idealistisch“.

Auch Hesses Leben, seine schwierige Entwicklung, spricht die junge Generation an. 1877 in Calw am Neckar geboren, entfloh er aus dem evangelischen Seminar in Maulbronn, war Kaufmanns- und Schlosserlehrling, 1895 bis 1902 Buchhandlungsgehilfe in Basel und Tübingen unternahm 1911 eine abenteuerliche Reise nach Indien, wo er die erste Bekanntschaft mit dem Opium machte, verließ Deutschland bereits 1912, stellte sich während des ersten Weltkrieges für die geistige Betreuung der- deutsehen Kriegsgefangener zur Verfügung, gab von Bern aus verschiedene Zeitschriften heraus unter anderem „VIVOS VOCO“ lebte seit 1919 in Montagnola, wurde 1923 Schweizer Staatsbürger — unc jetzt erst endgültig seßhaft. 1933 erteilte er sowohl den Nationalsozialisten wie den Kommunisten, die um ihn warben, eine radikale Absage.

In seinem Werk ist vieles, was die Adepten von Magie und Mystik anspricht, die modernen Jünger des Zen-Buddhismus und die Guru-An-beter. Sein romantisches Aufbegehren wird ebenso verstanden wie das „Sentimentale“ im Frühwerk. Auch die Anhänger der Jesusbewegung werden in manchen Werken Hesses besonders ansprechende Züge finden: Menschenliebe, Gewaltlosigkeit, eine vom Pietismus geprägte — und mit diesem im Widerstreit liegende — Religiosität. — In einem umfangreichen Nachwort zu einer demnächst erscheinenden Neuausgabe des „Steppenwolf“ hat Volker Michels „ eine wohldokumentierte Bilanz von Hesses Wirkung in der Gegenwart vorgelegt. Er zitiert unter anderem einen Artikel der Yale Review mit dem Titel „On the Germanisation of American Youth“ (gemeint ist der Einfluß der meistgelesenen deutschen Autoren: Hesse und Marcuse). Wir aber wollen uns nun dem dichterischen Opus Hesses ohne Seitenblick auf seine Wirkung auf die Jugend Amerikas und Japans zuwenden und darzustellen versuchen, wie und was es ist — und was es vor allem über seinen Autor aussagt.

Lob des Eigensinns

Tritt man vor dem einzelnen Werk Hesses einige Schritte zurück und versucht man, das Gemeinsame, die Familienzüge dieser Werke zu erkennen, gelingt es ferner, auch die geistige Gestalt des Dichters aus einiger Distanz zu schauen, so erblickt man vor sich: das Werk und die Person eines Einzelgängers, eines Eigenbrötlers, eines Eigensinnigen. Nicht zufällig hat der Dichter, in eigener Sache, das Lob des Eigensinnes gesungen:

„Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn. — Von allen den vielen Tugenden, von denen wir in Büchern leser und von Lehrern reden hören, kam ich nicht viel halten. Und docl könnte man alle die vielen Tugen den, die der Mensch sich aus irgend einem ornamentalen Bedürfnis er funden hat, mit einem einzigen Na men umfassen. Tugend ist: Gehör sam. Die Frage ist nur, wem mai gehorche. Nämlich auch der Eigen sinn ist Gehorsam. Aber alle andern so sehr beliebten und belobten Tu genden sind Gehorsam gegen Ge setze, welche von Menschen gegebei sind. Einzig der Eigensinn ist e,s,_ de: nach diesen Gesetzen nicht fragl Wer eigensinnig ist, gehorcht einen anderen Gesetz, einem einzigen, un bedingt heiligen, dem Gesetz in siel selbst, dem ,Sinn' des .Eigenen' .'*

Dieser Eigensinn verbindet alli Gestalten Hesses zu einer brüder liehen Sippe, vom Hermann Lausche und dem Peter Camenzind übe: Harry, den Steppenwolf, bis zu de Sozietät der Gleichgesinnten um Gleichstrebenden: der Morgenland fahrer und Glasperlenspieler. Be diesen letzteren hat sich nur de: äußere Raum erweitert, so etwa wii die Faust-Sphäre vom einsam hal lenden ersten Monolog zur vielfad gegliederten und bunten Welt de; Zweiten Teiles oder wie die lyri sehen Gestalten des jungen Hof mannsthal in seinen letzten Werket in einen reichornamentierten Teppich des Lebens, in ein Theatrun mundi verwoben sind — und bleibe: doch „Einzelne“.

Dies Eigenwillige, Schwierige unc Widerspenstige blickt uns zun ersten Mal aus den Aufzeichnungei der Mutter an, die über den Zwei jährigen berichtet — nachdem e: sich durch gewaltsame Bewegung den Arm gebrochen: „Gott Lob, e: ging sehr gut vorüber, doch war e; eine schwere Zeit und harte Schule den unglaublich lebhaften und verwegenen Jungen zu hüten.“ Unc über den Dreijährigen: „Entwickel sich sehr rasch, erkennt alle Bilde: sofort, ob sie aus China, Afrika ode: Indien, und ist sehr klug und unterhaltend; aber sein Eigensinn unc Trotz sind oft geradezu großartig.' Man glaubt, daß von einem Knaben einem Halbwüchsigen die Rede ist Aber dieser sollte es seinen Elterr und allen, die für ihn zu sorgen hatten, noch schwerer machen.

Das Milieu, in dem der Knabe unc Jüngling aufwuchs, war geeignet den Gegensatz zwischen Außen unc Innen noch zu verschärfen. So komm' es bei Hesse zu einem immer stärkeren Sichabkapseln gegen die Außenwelt und zu einem immer entschiedeneren Sichzurückziehen aul das eigene Ich. In dieser Zeit lieger die Wurzeln jener zahlreichen Verdrängungen, die schon in den früher Werken, besonders heftig in ,e-mian“ und „Steppenwolf“ hervorbrechen. Die schwere und verschattete

Jugend hat nicht aufgehört, den Dichter und Menschen Hesse zu beschäftigen. Es hätte der literarischen Tradition des deutschen Entwick-lungs- und Erziehungsromans, dem das Schrifttum der anderen europäischen Nationen nichts Ähnliches an die Seite zu stellen hat, nicht bedurft, den Dichter Hesse zu veranlassen, sich immer und immer wieder mit seiner eigenen Jugend, ihren Nöten und Kämpfen zu befassen. Wie in einen tiefen Brunnen taucht der Dichter in jene Flut von Verstrickungen, , Phantasien, Gewissensangst und Not -r- und reicht auch uns den Wunderkrug, der uns die Gabe der Erinnerung verleiht und uns mitleiden macht und teü-nehmen läßt an den Wundern und Schmerzen der Kindheit.

Neurosen

In diesem dunklen Brunnen entspringen auch zwei Quellen, die das gesamte Lebenswerk Hesses durchströmen. Sie verleihen ihm seinen eigenen bittersüßen Reiz — für manche — und machen es, so man die Frage nach seiner inneren Gesundheit und Lebenstüchtigkeit stellte, fragwürdig — für die vielen. Hesse begann seine literarische Laufbahn, wenn wir von den frühen Gedichten absehen, mit zwei kleinen Studien: über Franz von Assisi und über Boccaccio. Diese beiden Gegenstände vermochte der Jüngling mit der gleichen Liebe und Sympathie gleichzeitig zu erfassen. Der Heilige und der Weltliche, Himmlisches und sehr Irdisches, Askese und Dionysisches — zwischen diesen Extremen wird sich von nun ab das Leben und das Werk des Dichters bewegen. Bald wird die obere, bald die untere Dominante stärker erklingen. Häufiger jedoch wird er versuchen — Spiegelbild des eigenen Innern —, in einer einzigen Gestalt diese Gegensätze zu verkörpern.

Sinclair und Demian, Klein und Wagner, Narziß und Goldmund, der Morgenlandfahrer und sein Bundesbruder Leo — sie alle stellen je eine Hälfte jener einen Person dar, die aus so disparaten Elementen zusammengesetzt ist, daß sie sich spalten muß. Auch hier begünstigen äußere Umstände die Ausprägung einer Ur-anlage des Menschen Hermann Hesse. Hugo Ball, der Freund des Dichters, bezeugt, daß in Schwaben der Gegensatz von Glauben und Wissen, von Gesetz und Evangelium seit jeher heimisch war, und er spricht geradezu von einer „Stiftler-Neurose“ von Maulbronn, wo Hesse einige Zeit geweilt hat, und welcher Hölderlin, Waiblinger und Mörike gleichermaßen erlegen sind. Es sind jene bis zur Weißglut gediehenen Gegensätze zwischen Pietismus und Rationalismus, Entwicklungsphilosophie und protestantischer Orthodoxie, „eine Neurose, die teils mit der aufreizenden Lebenslust der klassischen Studien, teils mit jener tyrannischen Bußstimmung zusammenhängt, die dem mißtrauisch forschenden Studiosus von Staatswegen nahegebracht wird“. Und weiter: „Da aber Hesse die Quintessenz der Romantik zieht und seine Familie ebenso die Quintessenz der schwäbischen Frömmigkeit, erreicht die Stiftler-Neurose bei ihm eine Heftigkeit, die seine Vorgänger um einige Siedegrade überbietet.“ Diese Neurose erreicht im „Steppenwolf“ (1927) ihren Höhepunkt und führt zur vollständigen Auflösung und Zerstörung des Ich; sie ist versöhnlicher gestaltet in „Narziß und Goldmund“, wo in dem letzten Gespräch zwischen den beiden so verschiedengearteten Freunden zwar die Gegensätze bestehen bleiben, aber so etwas wie eine Verständigung, ein gegenseitiges Sich-gelten-Lassen zum Ausdruck kommt. Und der Dichter erstrebt eine Synthese in der „Morgenlandfahrt“.

Morgenlandfahrer Dieses Werk scheint uns, wie kein früheres, in den innersten Kreis des Menschen und Dichters Hesse zu führen. Die Fahrt nach dem Morgenland der Seele — eine Vorstellung, die zuerst bei Jakob Böhme auftaucht und bei den Romantikern, insbesondere bei Novalis von besonderer Bedeutung ist — tritt der Dichter an „unmittelbar nach dem Ende des großen Krieges“, da das Land voll war „von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnungen auf den Anbruch eines Dritten Reiches“, als das Volk zugänglich war „manchen Hirngespinsten, aber auch manchen echten Erhebungen der Seele; es gab bacchantische Tanzgemeinden und wiedertäuferische Kampfgruppen, es gab dies und jenes, was nach dem Jenseits und nach dem Wunder hinzuweisen schien; auch eine Hinneigung zu indischen, altpersischen und anderen östlichen Geheimnissen und Kulturen war damals weitverbreitet, und all dies hat dazu geführt, daß auch unser Bund, der uralte, den meisten als eines der vielen hastig aufgeblühten Modegewächse erschien und daß er nach einigen Jahren mit ihnen teils in Vergessenheit, teils in Verachtung und Verruf geraten ist. Die Treugebliebenen unter seinen Jüngern kann dies nicht anfechten“.

Als das Ziel der Reise aber erkennt er: „Wohl hatte ich mich einer Pilgerfahrt nach dem Morgenlande angeschlossen, einer bestimmten und einmaligen Pügerfahrt dem Anschein nach — aber in Wirklichkeit, Im höheren und eigentlichen Sinn, war dieser Zug zum Morgenlande nicht bloß der meinige und nicht bloß dieser gegenwärtige, sondern es strömte dieser Zug der Gläubigen und sich Hingebenden nach dem Osten, nach der Heimat des Lichts, unaufhörlich und ewig, er war immerdar durch alle Jahrhunderte unterwegs, dem Lichte und dem Wunder entgegen, rade auch er mit der Morgenlandfahrt in eine heimatliche Sphäre zurück, in jene Welt, der seine Mutter entstammte und die auch in seinem Elternhaus lebendig und spürbar war.

Die Reise der Morgenlandfahrer geht nicht durch Räume, sondern auch durch Zeiten; zu den Bundesbrüdern gesellen sich die Gestalten alter und neuer Dichter: Almansor und Parzival, WitikOf Goldmund und Sancho Pansa. Die Morgenlandfahrer genießen das Glück der Träumenden. Außen und Innen spielend vertauschen zu können. Zeit und Raum wie Kulissen zu verschieben. Der Musikant und Morgenlandfahrer H. H., wie er in den Bundesregistern bezeichnet wird, hat einen Gegenspieler, der zugleich auch sein „besseres Ich“ — und das aller anderen Bundesbrüder — verkörpert: Leo. Nachdem H. H. das Bundesgesetz verletzt hatte, ausgestoßen war und wieder in den Bund aufgenommen werden soll, wird ihm als Sühne auferlegt, das Archiv des Bundes über sich selbst zu befragen und damit das Wesen, das Geheimnis seiner eigenen Existenz zu erfahren: das Bipolare seiner eigenen Natur.

Eva-Maria

Der zweite Komplex, der dem Werke Hesses das Gepräge gibt, ist sein Verhältnis zur Mutter und Frau (Eva-Maria). Er hat seine tiefste Wurzel ebenfalls in einem Jugenderlebnis, und zwar in der unerwiderten Liebe zu seiner Mutter. Mit 17 Jahren „bekehrt“, lebte Hesses Mutter — nach dem Zeugnis des Freundes Hugo Ball — in einer un-berührbaren, unbetretbaren Sphäre religiöser Inbrunst. Ihre Liebe galt Gott, dem Unbedingten — nicht ihren Kindern, über die sie ein fast kühles, unpersönliches Tagebuch führt. Wir wissen nicht, ob der Knabe, der Jüngling jemals den Versuch gewagt hat, ein Gefühl der Gegenliebe hervorzurufen, zu entzünden, oder ob er, von der Aussichtslosigkeit überzeugt, frühzeitig resignierte. Die Vehemenz, mit der im „Demian“ (nachdem sich der Dichter vom Juni 1916 bis November 1917 in die Behandlung eines psyben worden ist, von so langer Hand her war es innerlich vorbereitet und ausgetragen. Seine eigentümliche Atmosphäre hat dies Werk nicht nur von den persönlichen Erlebnissen des Dichters empfangen, sondern zugleich auch von einer anarchistischen Zeit, als „Freiheit“ in der Kunst auch Freiheit von allen seelischen Banden und Hemmungen bedeutete und das Chaos bedenklich gegen jene immer dünner werdenden Schutzhüllen brandete, die den Seelenkern des abendländischen Menschen umgaben.

Zwei Jahre nach dem Tode der Mutter, 1904, heiratet der Dichter die um neun Jahre ältere Maria B., läßt sich in dem entlegenen Gaienhofen am Bodensee nieder und versucht, „ein natürliches, fleißiges und der Natur nahes Leben zu führen“. In dem kurzgefaßten Lebenslauf schreibt Hesse über diese Zeit: „Jetzt also war, unter so vielen Stürmen und Opfern, mein Ziel erreicht: ich war, so unmöglich es geschienen hatte, doch ein Dichter geworden und hatte, wie es schien, den langen, zähen Kampf mit der Welt gewonnen. Die Bitternis der Schul- und Werdejahre, in der ich oft sehr nah am Untergang gewesen war, wurde nun vergessen und belächelt — auch die Angehörigen und Freunde, die bisher an mir verzweifelt waren, lächelten mir jetzt freundlich zu. Ich „Siddharta“ gegenwärtig. Die pieti- mehr, wir befinden uns in einem hatte gesiegt. Mein äußeres Leben stische, selbstgerechte Strenge des „alexandrinischen Zeitalter“ (dem verlief nun eine ganze Weile ruhig Vaters läßt den Dichter sich gegen das „feuilletonistische“, das unsere, und angenehm. Ich hatte Frau, Kin- Jede Art Erziehung, gegen jeden Er- vorausgegangen war). Der Magister der, Haus und Garten. Ich schrieb ziehungs- und Beeinflussungsversuch Ludi ist eben dieser Josef Knecht, meine Bücher, ich galt für einen lie- aufbäumen. Nur noch die Selbst- dessen Geschichte Hesse erzählt und benswürdigen Dichter und lebte mit erziehung kann er gelten lassen. Daß dessen nachgelassene Schriften er der Welt in Frieden... Alles schien sie auf sehr absonderlichen Bahnen herauszugeben fingiert, in Ordnung zu sein.“ vor sicn seht, nimmt nicht wunder, Eine besondere Mission führt

Aber diese neue Lebensform bringt wenn man die tieferen Gründe er- Knecht aus der dünnen, ästhetischen keine Lösung. Im eigenen Heim faßt hat. Der junge Siddharta ver- LUft von Waldzell, dessen Landhaust er in einem Turmzimmer wie läßt das Brahmanenhaus, von kei- schaff der des oberen Engadin ein flüchtiger Gast: der ewige nem stärkeren Wunsche beseelt als ähnelt, nach Mariafels, dem ältesten Wanderer Kniulp und der Steppen- dem, die Erstarrung zu durch- Benediktinerstift. Hisr hält sieh wolf (als Motiv zum ersten Mal :n brechen. Nicht einmal dem Buddha Knecht jahrelang auf, und aus dem der Gaienhofener Erzählung vom will er nachfolgen, sondern begibt Lehrer, der die Patres im Glas-„Wolf“ angeschlagen) beginnen sich sich in die Schule eines Kaufmanns perlenspiel unterweisen sollte, wird zu regen. Ähnlich wie das Verhältnis und einer Kurtisane — so wie später, ein Lernender. Der inoffizielle zur Mutter gestaltete sich — nur auf ähnlich, Harry, der Steppenwolf, bei Zweck seiner Mission ist, gute Be-einer anderen Ebene — das zum einer Tänzerin und einem Saxophon- Ziehungen zum Orden der Benedik-Vater und hatte ähnliche Folgen, bläser in die Lehre geht. Der zweite tiner herzustellen und ein Zusam-

Teil des „Siddharta“ bedeutet die menwirken des weltlichen mit dem endgültige Loslösung von der väter- geistlichen Orden für Zeiten höch-lichen Erziehung, von der Welt des ster Gefährdung des Menschen-Vaters — in der doppelten und geschlechts vorzubereiten. Das Nahschwerwiegenden Bedeutung des ziel ist die Errichtung einer ständi-Wortes; eine Absage an das starre gen Vertretung Kastaliens beim Hei-Gesetz, an Staat und Schule, an ligen Stuhl. Knecht ist für diese AufKlassen- und Konfessionsgrenzen. Er schlägt zugleich eine Brücke zwischen Ost und West, eine Brücke freilich, so hoch und zart, daß sie

Hesse hat es am reifsten im „Siddharta“ gestaltet. Dieses Werk ist, sowohl was den äußeren Rahmen als gäbe dank seiner „hieratischen“ Natur prädisponiert, denn er weiß: „Es gibt kein adeliges und erhöhtes Leben ohne das Wissen um die Teufel dem Zugriff der Zerstörung wohl auf UTKj Dämonen und ohne den beständigen Kampf gegen sie.“ Darin unterscheidet sich Knecht von seinen „Ordensbrüdern“. Dieses Wissen bedingt die Zweiheit und Gespaltenheit seiner Natur, die in Mariafeis noch vertieft wird. Seither kommt Josef Knecht nicht und jeder von uns Brüdern, jede unsrer Gruppen, ja unser ganzes Heer und seine große Heerfahrt war nur eine Welle im ewigen Strom der Seelen, im ewigen Heimwärtsstreben der Geister nach Morgen, nach der Heimat. Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Strahl, und zugleich erwachte in meinem Herzen ein Wort, das ich während meines Novi-zenjahres gelernt und das mir immer wunderbar Wohlgefallen hatte, ohne daß ich es doch eigentlich verstanden hätte, das Wort des Dichters Novalis: Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“ Dies Wort hat bei Hesse einen doppelten Sinn: kehrt doch gechoanalytisch geschulten Arztes begeben hatte und in etwa 60 Sitzungen mit dessen Hilfe bestrebt war, Ordnung in sein Inneres zu bringen) das Kindheitserlebnis durchbricht, läßt uns die Frage verneinen und auf einen verdrängten Komplex schließen. In diesem Werk — und das ist nicht nur dem Auge des Seelenarztes erkennbar — befreit sich der Dichter von einer Welt, von einer Last, die er viele Jahre in sich getragen und verschwiegen. In so kurzer Zeit dieses Buch ndedergeschrieimmer entzogen, aber wohl auch nicht für viele beschreitbar sein wird. So schien es uns noch vor fünf oder zehn Jahren ...

Der Glasperlenspieler

Sein letztes Wort sprach Hermann Hesse, der große Einzelgänger, in mehr zur inneren Ruhe. Nach Kadern vor genau 20 Jahren erschiene- stalien zurückgekehrt, legt er sein nen zweibändigen Alterswerk „Das hohes Amt nieder. Die Vertiefung Glasperlenspiel“, mit dem Untertitel und Bereicherung, die sein Wesen in „Versuch einer Lebensbeschreibung Mariafels erfahren hat, bestimmen des Magisters Ludi Josef Knecht ihn, zu einem bescheideneren Amt samt Knechts hinterlassenen Schrif- als Erzieher eines Knaben (des Sollten“. Man hat das „Glasperlenspiel“ nes seines weltlichen Gegenspielers als Utopie bezeichnet. Allenfalls han- Designori), zurückzukehren. Hierbei delt es sich um keine phantastische, stirbt er, als er sich anschickt, seinem sondern um eine sehr „reale“ Uto- jungen Schüler beim Wettschwim-pie: In der Zeit nach den großen men zu folgen, eines plötzlichen und Kriegen und Revolutionen wird zur zunächst sinnlos scheinenden Todes: Rettung der geistigen Werte und zur Er ertrinkt im eiskalten Gletscher-Erhaltung der Kultur der Orden der wasser eines Bergsees. Glasperlenspieler gegründet, dessen Was w0nte Hesse mit diesem Zentrum Kastalien, die pädagogische abrupten Schluß, der ihm von zahi-Provinz, ist. Von der Außenwelt ab- reichen Kritikern seines letzten gro-gesondert, aber durch viele Fäden ßen Werkes vorgehalten wurde, an-mit ihr verbunden und auf sie ein- deuten? Mit diesem Tod büßt Ka-wirkend, ist es die selbstgestellte Aufgabe Kastaliens, eine geistige Elite heranzubilden, die nicht nur im Glasperlenspiel unterwiesen, sondern auch für andere weltliche Berufe vorbereitet wird.

Das Glasperlenspiel selbst, bei großen öffentlichen Feiern demonstalien seinen geistigen Hochmut, sein Spielen und Operieren mit Abstraktionen (als wären es Realitäten): es büßt für das Glasperlenspiel. So erweist sich auch dieser letzte von Hesse geschaffene „Held“ als ein Einzelgänger, ein Außenseiter, und durch seinen Entschluß, Kastalien zu striert, zu denen Besucher aus aller verlassen, stellt der Dichter selbst auch was seinen innersten Kern und Gehalt betrifft, der väterlichen Welt verpflichtet. Neben dem indischen Lexikon des Großvaters und dessen Malajalam-Liederbuch, neben den zahlreichen indischen Kunstwerken und Gebrauchsgegenständen im Elternhaus, waren es die wissenschaftlichen Arbeiten des Vaters, des fortgesetzt und „instrumentiert“. Die Missionars Johannes Hesse, die den Grundwissenschaften bei der AusSohn wiederholt und nachdrücklich bildung der Spieler und die Fundaauf die östliche Welt verwiesen. So- mente des Glasperlenspieles sind die dem im Suhrkamp-Verlag erschie sehr im „Demian“ die Welt des Mathematik und die Musik. Da3 nenen Buch „Hermann Hesse_eine

Vaters fehlt, so intensiv ist sie in Schöpferische hat keine Bedeutung Chronik in Bildern“.

Welt kommen und sich in einer internationalen Sprache verständigen, ist ein Spiel mit allen Formen und Inhalten der Kultur. Wie ein Musikwerk mit einem Thema beginnend, wird dieses durch immer neue wort Assoziationen, Analogien, Konkordanzen und Varianten bereichert, die von ihm so liebevoll erdachte und so kunstvoll ausgeformte Welt eines rein geistigen und ästhetischen Lebens in Frage. Diese Frage, diese .Zurücknahme“, ist Hesses letztes

Die auf diesen beiden Seiten wiedergegebenen Bilder stammen aus

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