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Die vielen Masken des B. B.

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Bert Brecht wäre in diesen Tagen 75 geworden. Aus einer angesehenen Augsburger Bürgerfamilie stammend, hing er seiner Vaterstadt zeitlebens in „dankbarer Gehässigkeit" an. Seine Jugendeindrücke hielt er sich lebendig; Lebenshaltung des puritanischen, durchaus verständigen Elternhauses, Lebensformen der engeren Umwelt bestimmten ihn weitgehend. Der Vater hat die schriftstellerischen Versuche des Sohnes großzügig unterstützt, indem er Schreibmaschinen und Sekretärinnen der Papierfabriken,deren Direktor er war, zur Herstellung der Manuskripte bereitstellte. Wenn man bedenkt, daß es sich dabei um stellenweise skandalöse Texte gehandelt hat, die einer Sekretärin zu diktieren sich der junge Brecht selbst geniert habe, so wird man die väterliche Großzügigkeit nicht geringschätzen dürfen. Die so oft geäußerte Vermutung, Brechts „fanatischer Haß auf die Bourgeoisie" habe „seine bestimmte Ursache im Elternhaus" gehabt, bleibt somit unbegründet und muß ad acta gelegt werden.

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Bert Brecht wäre in diesen Tagen 75 geworden. Aus einer angesehenen Augsburger Bürgerfamilie stammend, hing er seiner Vaterstadt zeitlebens in „dankbarer Gehässigkeit" an. Seine Jugendeindrücke hielt er sich lebendig; Lebenshaltung des puritanischen, durchaus verständigen Elternhauses, Lebensformen der engeren Umwelt bestimmten ihn weitgehend. Der Vater hat die schriftstellerischen Versuche des Sohnes großzügig unterstützt, indem er Schreibmaschinen und Sekretärinnen der Papierfabriken,deren Direktor er war, zur Herstellung der Manuskripte bereitstellte. Wenn man bedenkt, daß es sich dabei um stellenweise skandalöse Texte gehandelt hat, die einer Sekretärin zu diktieren sich der junge Brecht selbst geniert habe, so wird man die väterliche Großzügigkeit nicht geringschätzen dürfen. Die so oft geäußerte Vermutung, Brechts „fanatischer Haß auf die Bourgeoisie" habe „seine bestimmte Ursache im Elternhaus" gehabt, bleibt somit unbegründet und muß ad acta gelegt werden.

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Die Jugendwerke — so die Landschaften im Baal, Volksszenen in Trommeln in der Nacht, manches im Hintergrund des Schauspiels Im Dik-kicht der Städte — weisen auf die Stadt am Lech und ihre Bewohner. Das schwäbische Idiom durchklingt alle, auch die reifen Sprachwerke Brechts. Die Spannungen aus der Augsburger Zeit sind an seinem Frühwerk deutlich zu erkennen. Die Erlebndswelt im Erstling Baal und in der gar nicht biedermeierlichen Hauspostille war für Brecht niemals abgetan. Der schmale Band mit frühen Gedichten und Songs, entstanden 1913 bis 1926, hat seinen dauernden Ruhm als großer Dichter begründet. Kein Sammelband von Lyrik, sondern ein genau durchkomponiertes Buch. Baal, die Ballade von dem schweifenden Dichter und Trunkenbold („einem Kerl, der über seine eigenen Ufer getreten ist"), von dem Übermann, dem in Frauen, Männer, Bäume, Wind und Sterne verliebten Pan aus den dunklen Wäldern — Baal war ein Geniestreich, hingeworfen in einem Elan. Nicht das beste Drama, aber vielleicht der größte Aufschwung, den Brecht je genommen hat. Die Welt im Ausschnitt, als ihr Anfang, als ihre wilde und wüste Möglichkeit. Die Patenschaft Villor;s, Verlaines und Rim-bauds ist dabei lange schon entdeckt.

„Baal ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft." Mit dieser Definition versuchte Brecht Jahrzehnte später bei der Gesamtausgabe seiner Werke dem Erstling einen sozialen Grund zu unterschieben; vergebens. Die Gesellschaft tritt in Baal nicht in Erscheinung. Es geht dabei auch gar nicht um das Gesellschaftliche, sondern um etwas höchst Individuelles: um die Verherrlichung „nackter Ichsucht", um die Abhängigkeit des Menschen vom Triebhaften, willenlos der Natur ausgeliefert und hingegeben. Unfähig, sich dem dunklen Drang sein Instinkte zu widersetzen, ist Baal ganz und gar ein negativer Held. Dabei kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß sich der ergraute Dichter nicht ungern seiner erinnert hat. 1954 hielt er es zwar in dem Essay Bei Durchsicht meiner ersten Stücke für nötig zu warnen: „Dem Stück fehlt Weisheit." Dafür aber sticht aus einem Gespräch mit dem ihm befreundeten Walter Benjamin ein Satz hervor: „Ich bin ja nicht gegen das Asoziale — ich bin gegen das Nichtsoziale." ★

Brecht scheint sich mit der Figur des Baal in hohem Grade identifiziert zu haben: war er doch für ihn Ausdruck seines eigenen Lebensgefühls. Eine überwältigend starke triebhafte Natur stand in Brecht der „Lust am Denken", am Vernunftsmäßigen gegenüber, seiner Vorliebe für Machiavelli, dem tief in ihm wirkenden Zwang zur Unterwerfung unter eine Doktrin, eine kollektivistische Bewegung. Unfähig eines tieferen menschlichen Kontaktes, glaubte er so der Isolierung als ein Einzelner zu entgehen. Sein Leben lang war er auf der Suche nach einer Synthese des dualistischen Selbst; er fand sie nie, soviel er auch suchte und experimentierte. Es wird wohl diese Suche nach der Synthese gewesen sein, die ihn zu Hegels Dialektik und schließlich zum dogmatischen Marxismus trieb. Der von der Übermacht der Instinkte und Emotionen Bedrohte suchte Zuflucht im Rationalen, verschrieb sich der Selbstzucht, der totalen Annahme der Parteidisziplin. Der Weg vom frühen zum späten Brecht war ein Kampf Brechts gegen den Baal in sich.

Um diese beiden Pole, das Emotionelle und das Rationale, kreiste von nun ab Brechts Werk. Er baute auf die Kraft der Vernunft und prägte die konzentrierte dramaturgische Formel für ein neues aufklärendes Drama: „Die Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird." Ein Drama also, das nicht nur Handlungen zeigen, sondern auch soziale Ursachen und Motive, das im Durchsichtigmachen von Schicksalen den Zuschauer über mögliche Veränderungen aufklären soll. Die nihilistische Skepsis der frühen Stücke, der Zug ins Zynisch-Bitterböse, die ertrotzte Freiheit zum Abwerten, Auflösen und Entlarven

sollte dem Gegenzug weichen, der die neue Lebenserfahrung durch den kritischen Beweis zu bewältigen hatte. „Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit", hieß es am Schluß von Im Dickicht der Städte.

Eine Anmerkung zu einer Szene in Mutter Courage und ihre Kinder lautete: „Dem Stückeschreiber obliegt es nicht, die Courage am Ende sehend zu machen... ihm kommt es darauf an, daß der Zuschauer sieht." Brecht appellierte damit an den Zuschauer, nachzudenken, damit sich ihm die Zusammenhänge im eigenen dialektischen Nachdenken erschließen. Das setzt Erkenntnis und Weitergabe solcher Erkenntnis voraus. Dem Dichter war damit eine neue Aufgabe gestellt: Gelassenheit und „entspannte" Figuren, die zum Drama einer Aufklärung gehören, weil sie darauf vertrauen, daß die Vernunft sich durchsetzt, wie Galileo Galilei. Völlige Einfachheit und Unmittelbarkeit einer Anrede, nur Aussagen, die verstanden werden sollen. Brechts wirksamstes Element war die Sprache. Seine Prosa und Verse besitzen die äußerste Klarheit, die sich in einem Satz unvergeßlich einzuprägen vermag. So sagt, zum Beispiel, in den Flüchtlingsgesprächen (Furcht und Elend des Dritten Reiches) einer: „In einem Land leben, wo es keinen Humor gibt, ist unerträglich, aber noch unerträglicher ist es in einem Land, wo man Humor braucht." „Unglücklich das Land, das keine Helden hat!" ruft Andrea (Leben des Galilei) in Wut und Verzweiflung über den Verrat seines Lehrers. „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat", antwortet Galilei.

Bei allen Erwägungen über Brecht soll nie vergessen werden, daß er nicht nur ein ausgesprochenes Vergnügen an Mystifikationen fand, sondern aus einer erklärten Abscheu vor der Subjektivität auch zur Verschleierung neigte, namentlich was die Ermittlung seiner Biographie in den einzelnen Lebensphasen betrifft. Nicht nur die Schwierigkeiten beim Finden der Wahrheit über die Jugendjahre sind beträchtlich. Sie findet um nichts geringer, wer siebzehn Jahre nach Brechts Tod, die „Wahrheit" über Brecht überhaupt zu ermitteln versucht. Man müßte zuerst die Masken lüften, um seine Physiognomie zu verstehen. Wer ist der eigentliche Brecht unter den vielen Gesichtern: der Vagant oder der Moralist, der Anarchist oder der Prophet, der Dichter oder der Doktrinär, der Theatermann oder der hartnäk-kige Theoretiker von der „Verfremdungstechnik des epischen Theaters"? Die Totenmaske zeigt einen Ausdruck von Weisheit, Schwermut, feiner List und spöttischem Behagen. Aber da war er bereits einer großen „Freundlichkeit und Brüderlichkeit" zu den Menschen fähig, wenn es auch schwer fiel „in finsteren Zeiten", wie er es in den weltlichen Psalmen seiner ergreifenden Botschaft An die Nachgeborenen ausspricht, eines seiner vollkommenen lyrisch-didaktischen Gebilde neben der unvergänglichen Legende von der Entstehung des Buches Tao-teking.

In den Svendborger Gedichten — der Emigrant Brecht hatte in der Nähe der kleinen dänischen Hafenstadt Svendborg zwischen 1933 und 1939 Zuflucht gefunden — wurde Brechts Stimme wieder volltönender, seine Sprechweise reiner, anmutiger, sein Wort „lyrischer". Auf der Flucht rückte des Dichters Ich wieder in den Vordergrund und wurde zur Sinnfl-gur für alle Verjagten und Verfolgten. Das war nicht mehr der geniale Querkopf, dessen frühes Werk ganz dem Haß und der Kälte gewidmet war, nicht mehr jener zynische „arme B. B.", der nicht glaubt, daß es lohnt, sich für die Nachgeborenen einzusetzen: „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie /hindurchging, der Wind!/ Wir wisen, daß wir Vorläufige sind/ Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes."

In der Ballade Vom armen B. B. endet eine Strophe mit der Zeile: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen." Auf seinem letzten Krankenlager sagte Brecht zu einem Bekannten aus der ostdeutschen Prominenz, als die Rede davon war, daß dieser einen Nachruf für die Ostpresse schreiben sollte: „Schreiben Sie, daß ich Ihnen unbequem war und unbequem zu bleiben gedenke. Es gibt da auch nach meinem Tode noch gewisse Möglichkeiten ..." Er war immer unbequem, dieser baju-warische Dickschädel, nicht nur in seiner Jugendzeit. Und sie konnten nie wirklich auf ihn bauen, weil er immer wieder ausbrach, dieser ewig experimentierende, unruhige, irritierende Geist, der er blieb, auch wenn er, wieder einmal zu Ordnung gerufen, sich immer wieder beugte. Denn die Unterordnung unter die Idee bedeutete für ihn nicht zugleich die Unterordnung unter die offiziellen Dogmatiker.

Ein markantes Selbstbekenntnis enthält eine Stelle der Dreigroschen-

op.er: „Die Abenteurer mit dem kühnen Wesen / Und ihre Gier, die Haut zu Markt zu tragen / Die stets so frei sind und die Wahrheit sagen / Damit die Spießer etwas Kühnes lesen." Und die Strophen, die zweimal mit der berühmten Zeile enden: „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!" Hier hat Brecht, der sonst Selbstbekenntnisse haßte, sein Wesen ganz und gar ehrlich ausgesprochen. Die „Oper" ist ein Lob des Zynismus, des Amoralischen, der anarchistischen Gewalt. Vieles darin erinnert an Baal. Vergebens wurde von einigen Seiten versucht, dahinter das „weiche, verwundete Herz des sozialen Mitleids" zu entdecken. Statt die Bourgeoisie zu treffen, schmeichelte er ihr nur — und blieb im übrigen der alte Zyniker. (Aber ist Zynismus nicht fast immer die Schutzwehr eines übersensiblen Gemüts?) In der Studie eines marxistischen Kritikers wurde Brecht vorgehalten, daß der Stoff nicht dialektisch behandelt wurde. Statt die Vernunft zu aktivieren, habe er die emotionalen Elemente so gemütvoll übertrieben, daß sich das Publikum bei den alten Schaubudentypen der Gangstermoritat köstlich amüsierte; im übrigen sei, so wurde ihm weiter vorgehalten, die sozialkritische Satire in der Dreigroschenoper weit zahmer als die des 200 Jahre alten Originals der Beggar's Opera von John Gay, einer Parodie auf die ständisch-vornehme Oper Händeis. Brechts „Oper" enthielt so wenig ideologische Tendenz, daß sie nicht nur von den ostdeutschen Doktrinären getadelt wurde, sondern dem Autor selbst („Bei Durchsicht meiner ersten Stücke") das Eingeständnis „mangelnder Kenntnisse" abnötigte. *

An sich bildete sie den Ubergang von Brechts anarchischen Anfängen in fortschreitender Politisierung seines Schaffens zu den disziplinierten, aber auch doktrinären und nicht selten klapperdürren Lehrstücken. Unter ihnen gilt zwar Die Maßnahme (Einverständnis mit der eigenen Tötung im Dienste der Idee) als das bedeutendste und meistdiskutierte, aber das Badener Lehrstück vom Einverständnis (Einverständnis als absolute Unterordnung unter die Idee der sozialistischen Revolution) ist das weitaus wichtigste. Niemals war Brecht seinem besseren Ich näher und zugleich nie dem Marxismus ferner als hier. Die vage revolutionäre Lehre wird als reine Offenbarung, als Verkündigung in Parallele gesetzt zur Begriffs- und Offenbarungswelt der katholischen Kirche, verflochten mit dem Erlebnis des Todes, der Gnade, des Totengerichtes, der Auferstehung. Die Gedankenwelt des Totengerichtes findet sich noch in dem weit späteren seiner Lehrstücke Das Verhör des Lukullus (von dem es zwei Fassungen gibt: eine im Westen gespielte, eine andere im Osten erlaubte). Das „Badener Lehrstück" ist ein theologisches, kein marxistisches Werk. Nur „Die Maßnahme", die geradewegs den Ordensvorschriften des hl. Ignatius von Loyola nachgebildet ist, fand als erstes Stück Brechts die vollkommene parteioffiziöse stalinistische Billigung.

Auf die Lehrstücke folgte noch vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges ein Neubeginn zu künstlerisch weit reicheren und gültigeren Werken. Innerhalb weniger Jahre (1938 bis 1945 immer auf der Flucht und ohne Verbindung mit dem deutschen Sprachraum, schrieb der umherge-triebene Brecht seine Meisterwerke: die Chronik Mutter Courage und ihre Kinder, die Parabelstücke Der gute Mensch von Sezuan, Der Kaukasische Kreidekreis, das Schauspiel Leben des Galilei, das Volksstück Herr Puntila und sein Knecht Matti. Kaum eine der Fabeln der Meisterjahre ist ohne einen Funken von baalischem Geist, und fast alle besonders ausgeprägten Charaktere sind Geschöpfe aus baalischer Substanz: Mutter Courage so gut wie Galilei, Herr Puntila nicht minder als der Richter Azdak im Kaukasischen Kreidekreis. Sie alle bezeugen, wie sehr dichterische Phantasie und Kritik aufeinander angewiesen sind. Der mystische Materialismus, die elemantar-poetischen Kräfte der frühen Periode — moralisch indifferent — stellten die lyrische Vorstufe dar zu dem durchdachten „dialektischen" Materialismus, der ab 1929 als gemeinsamer Nenner die Lehrstücke beherrschte. Erst in den späten Werken wurden Einbildungskraft und politische Zielstrebigkeit, Weltfülle und gedankliche Ordnung zur Einheit. Die Einsetzung des Charakters in seine Rechte bedeutete nichts anderes, als daß es im Drama wieder einen „Helden", eine Mitte gab, von dem aus das weitläufig gegliederte Ganze beheriecht wurde, auch wenn ein betont unheldisches Denken und Verhalten den klassichen Begriff des Helden widerlegte.

Gegen die „Schreier nach dem Helden" (deutlicher nach dem positiven Helden des sozialistischen Realismus) verlangte Brecht die „Fähigkeit, widerspruchsvolle Haltungen zu gestalten". Hinter der parteigesetzlich geschützten „Dialektik" wurde so das Recht des Menschen auf den inneren Widerspruch und damit auf die Freiheit seiner Entscheidung in die Bühne zurückgeholt.

Souverän konnte Brecht miit den eigenen Theorien umspringen, wenn es ihm darum ging, den unbedingten Vorrang des Lebendigen zu rechtfertigen. In seinen Arbeiten zur „Dialektik des Theaters" hat er (worauf in aller Deutlichkeit hingewiesen werden muß) die Bezeichnung „Episches Theater" ausdrücklich als „unzureichend" erklärt. In einem „Gespräch auf der Probe" (Schriften zum Theater) wurde er noch deutlicher. Auf die Frage, wie es komme, daß man so oft Beschreibungen seines Theaters lese, aus denen sich niemand ein Bild machen könne, wie es wirklich sei, antwortete er: „Mein Fehler. Diese Beschreibungen und viele der Beurteilungen gelten nicht dem Theater, das ich mache, sondern dem Theater, das sich für meine Kritiker aus der Lektüre meiner Traktate ergibt." Und zum Schluß: „Sähen sich die Kritiker

Die Totenmaske, von Professor Fritz Cremer abgenommen mein Theater an, wie es die Zuschauer tun, ohne meinen Theorien zunächst einmal Gewicht beizulegen, so würden sie wohl einfach Theater vor sich sehen, Theater, wie ich hoffe, mit Phantasie, Humor und Sinn..." In ihrem Zeichen stehen Brechts Meisterwerke.

Ein einziges Stück weist zwischen den Lehrstücken und den Spätwerken die äußere und innere Dimension eines Hauptwerkes auf: Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Das Heilsarmeemädchen Johanna Dark (statt dArc) widersteht mit der ganzen Kraft ihrer erkennenden Unschuld dem Fleischkönig von Chicago, Pierpont Mauler, diesem übermächtigen Repräsentanten kapitalistischer Gewaltherrschaft. Das ebenso dramatische wie tragische Stück will mit eindeutig marxistischen Argumenten soziale Anklage erheben und den Anstoß der revolutionären Aktion geben. Zugleich aber entwik-kelt es alle Leidenschaft des zornigen mitfühlenden Gefühls und einer weit- und menschenumfassenden Phantasie. Ehe Johanna wie eine Heilige stirbt, gibt sie noch ihre Botschaft an die Nachwelt weiter: „Sorgt doch, daß ihr die Welt verlassend / Nicht nur gut wart, sondern verlaßt / Eine gute Welt!"

Schon die Ode An die Nachgeborenen schloß mit der Klage über die Schwierigkeiten des Gutseins in finsteren Zeiten, der Güte und Freundlichkeit — (wie die christliche „Nächstenliebe" bei Brecht heißt) — den Mitmenschen gegenüber. Immer wieder kreisen seine Erwägungen um die Frage nach dem Verhältnis des individuellen Gutseins und der objektiven Möglichkeiten, es zu sein, um die „schreckliche Verführung zur Güte" in unmenschlichen Zeiten. Das elementar „Gute" verkörpern bei Brecht nur Mädchengestalten, es sind die schönsten in seinen Meisterdramen: Johanna, Shen Te im „Guten Menschen von Sezuan", die stumme Katrin in der „Courage", das Mädchen Grusche im „Kaukasischen Kreidekreis". Für sie alle mögen Shen Tes wunderbare Worte stehen: „Keinen verderben lassen, auch nicht sich selber / Jeden mit Glück erfüllen, auch sich selbst, das ist gut." Alle diese Stücke handeln nicht bloß von der Gesellschaft und ihren Widersprüchen, sie handeln von Aufstieg und Abstieg, Hunger und Liebe, Geburt und Tod, Hoffnung, Vertrauen, Güte — diese Stücke sind zu menschlich, sie sind zu universell, um als Beispiel für die Maxime zu dienen „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlecht genug." *

Der Schweizer Dramatiker Max Frisch bezweifelte einmal in einer Rede, ob Brecht an die erzieherische Wirkung seines Theaters selbst geglaubt habe, und sprach ihm die „durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers" zu. Deutlicher kann man die Wirkungskraft eines Autors nicht verneinen, dem nichts wichtiger war, als die Einsicht seines Publikums zu wecken. Frischs Äußerung trifft den Doktrinär, nicht den Dramatiker Brecht. Aus der Werkstatistik deutschsprachiger Bühnen (Bundesrepublik, Österreich, Schweiz) für 1971/72 geht hervor, daß Brecht mit 1458 Aufführungen der meistgespielte Autor war vor Shakespeare (1311), Moliere (1000), Nestroy (808) und anderen. Einen politischen Streit um Brecht gibt es nicht mehr; das Theater hat ihn eingeholt. Jede zweite Bühne der Bundesrepublik hat einen Brecht auf dem Spielplan. Er ist der mit weitem Abstand erfolgreichste Dramatiker des 20. Jahrhunderts.

„Das Ziel... / Es war sichtbar, wenn auch für mich / Kaum zu erreichen." Das klingt anders als in den Pamphleten, Lehrstücken, Reden und Gelegenheitsgedichten. Der im ewigen Zweifel suchende Brecht — er war nie Mitglied der Partei — hat bis zuletzt alles, auch die eigenen Gedanken in Frage gestellt. Eine überragende Intelligenz konnte den Kulturbürokraten eines kommunistischen Regimes ein beachtliches Stück Freiheit abgewinnen. Er hat sich auch erst nach langem Zögern und auf Umwegen über die Schweiz und Österreich in Ost-Berlin niedergelassen, wobei der Hauptgrund wohl das ersehnte eigene Theater gewesen war. Dort hat er dann einige Jahre lang Aufführungen von Weltformat zustandegebracht. Viele bezeugen, das zuletzt Einsamkeit um ihn war. Seine wirkliche Meinung über den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 unterschied sich von der damals geäußerten beträchtlich. Zeugnis dafür ist das Gedicht zum 17. Juni mit dem Titel Die Lösung; es wurde aus dem Nachlaß in die Sammlung der Buckower Elegien aufgenommen. Seine Enttäuschung angesichts der Lebensrealität in dem kommunistisch regierten Land hat gewiß das ihre zu seinem frühen Tod beigetragen. Er starb, erst 58jährig, infolge eines Herzinfarktes; er hinterließ 200.000 Seiten Manuskript.

Max Frisch war mit Brecht nach dessen Rückkehr aus Amerika 1948 in Zürich des öfteren zusammengetroffen. In seinen „Tagebüchern" spricht er von Brechts „strengem bäuerisch ruhigem, oft von Schlauheit etwas verschleierten Blick." Und dann sagte er etwas sehr Bemerkenswertes, und weil da eine wichtige und helle Seite in Brechts Wesen dichterisch gesehen ist, sollen Frischs Worte hier zum Abschluß stehen:

„Seine fast bäuerische Geduld, sein Mut, hilflos auf leerem Feld zu stehen, die Kraft, ganz bescheiden zu sein und möglicherweise ohne Ergebnis, dann aber die Intelligenz, Ansätze einer brauchbaren Erkenntnis festzuhalten und durch Widerspruch sich entwickeln zu lassen, und endlich die Männlichkeit, Ergebnisse ernsit zu nehmen und danach zu verfahren, unbekümmert um Meinungen, das sind schon wunderbare Lektionen, Exerzitien, die in einer Stunde leicht ein Semester aufwiegen. Die Ergebnisse freilich gehören ihm. Zu sehen, wie er sie gewinnt, ist unser Gewinn."

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