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Das religiöse Drama der Gegenwart

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Das 19. Jahrhundert hat, wenn man von seinen romantischen Träumen und Süchten absieht, die Kluft zwischen Religion und Theater, die nach der Auflösung des barocken Weltbildes auf brach, noch vertieft. Die Schaubühne diente der Emanzipation des Menschen, ihr wurde seit Moliėre und Beaumarchais immer stärker eine gesellschaftliche Funktion zugewiesen. Die Psychologie trat an die Stelle des Glaubens. Der Künstler selbst isolierte sich im Aesthetischen. Daraus folgt die Situation des 20. Jahrhunderts: Keine Notwendigkeit mehr von Gott und Schicksal, die Deutung des Lebens ist subjektiver Gefühligkeit überlasten, der Mythos wird ästhetische Attitüde oder gänzlich negiert. Auf dem Theater herrscht der Naturalismus : photographierte Oberflächenwirklichkeit, Hinterhof und . Armeleutemjlieu: Sozialer Komplex des 19. Jahrhunderts, der sich mit einem Kult des Mitleids humanitär verbrämt. Bei all dem bleibt jedoch das Gefühl einer Leere, eine Art religiöser Katzenjammer zurück.

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Der erste, der diese Unerfülltheit des Daseins erlitten und autobiographisch gestaltet hat, ist August Strindberg. In seinem dreiteiligen Bekenntnisdrama „Nach Damaskus“ (1898 bis 1904) schildert er den Leidensweg eines Unbekannten, eines „unbehausten Menschen", der auf der Flucht vor sich selbst ist und die dunkel geahnte Schuld seiner Existenz ftu büßen sucht. Die „Dame“, die seinen Weg begleitet, stellt die religiöse Frage und er antwortet: „Wenn es zu arg wird, gehe ich meiner Wege... in die Vernichtung." Als sie ihn auffordert, in eine Kirche zu gehen, sträubt er sich: „Nein, nicht in die Kirche! Die tut mir so weh und läßt mich fühlen, daß ich nicht hineingehöre, daß ich ein Unseliger bin und niemals mehr hineinkommen kann, ebenso wenig, wie ich von neuem Kind werden kann." Aber er kann sich nicht länger selbst betäuben. Sein Irrweg im Labyrinth der Wirklichkeit scheint nur den einen Ausgang zu haben: die Selbstaufgabe und Unterwerfung vor dem Kreuze. Am Ende stellt sich der „Unbekannte" dem „Kon- fessor“, wird lebendig in einen Sarg gebettet, und der Chor singt „Und das ewige Licht leuchte ihm!“ Das ist keineswegs die große Konversion, wie man oft gemeint hat, sondern viel eher die Resignation .eines Glaubenslosen, der sich im Suchen verzehrt, der die Zerrissenheit seines Ich nicht länger aushält und sich einer neuen Medizin anvertraut, einer Medizin freilich, die sich nur in dem Frieden des Grabes aus wirkt. So ist die „Erlösung" zugleich eine Art Selbstmord: Triumph des Menschen, sich selbst durch einen religiösen Akt den Tod geben zu können. Strindberg hatte „weder Weltanschauung noch Gottanschauung und mußte daher seine Gestalten in der bürgerlichen ideen- und glaubenslosen Stubenhölle der biographischen Kleinlichkeit verkommen lassen“ (B. Diebold). Aber gerade dadurch wirkte er symptomatisch für ein Jahrhundert, das sich mit Nietzsche übernommen hat und um eine neue Verantwortung rang.

Strindberg hat mit seinem Stationendrama „Nach Damaskus“ das Modell für zahllose expressionistische, Bühnenwerke geliefert, die man allzu vereinfachend Gottsuchedramen genannt hat. Es ist weniger die Gottsuche, die sich (Tarin vollzieht, als vielmehr die Klage um eine mißratene Welt und das Bedürfnis nach Erlösung. Die expressionistischen Dichter potenzieren ihre eigenen Aengste und Hoffnungen zum Schrei, zur ekstatischen Gebärde; ihr eigener Lebensweg erhöht sich ihnen zur Passion, am Ende brechen sie vor dem Kreuz in die Knie oder haben die mystische Erfahrung eines neuen Gottes, der einen neuen Menschen werden läßt. In diesen, heute kaum noch lesbaren Stücken spricht sich das Lebensgefühl einer

Generation aus, die durch die Kriegserfahrung ihre zivilisatorische Sicherheit verloren hat und nun, allen Extremen aufgeschlossen, das Absolute postuliert. Es handelt sich dabei vielfach um Gefühlsexplosionen, die eine gefährliche Leere und Ernüchterung hinterlassen, wenn sie nicht den Anschluß an eine Tradition finden. Das so abstrakt phrasierte Pathos der Menschwerdung und Gottsuche mündet nur zu oft in ein politisches Engagement, das den zweiten Weltkrieg mitverschuldet hat. Der Irrationalismus . dieser expressionistischen Bewegung ist ein tragisches Kapitel der deutschen Literatur, das beweist, daß Dynamik und seelische Ergriffenheit allein noch keine Kunst entstehen lassen.

In den Bereich des expressionistischen Dramas gehört auch der Bild- und Wortkünstler Ernst Barlach; seine religiösen Symbole sind freilich aus anderem Material als die kurzlebigen Ekstasen seiner Zeitgenossen. Hier wird in niederdeutscher Verkauztheit und eigenbrötlerischer Weltabgeschiedenheit Urgestein der Dichtung erschlossen.' Alle Dramen Barlachs sind aus einem religiösen Impuls entstanden, gleichgültig, ob sie in realistischer Umwelt oder in mythischem Gelände angesiedelt sind. Gott ist der zentrale Begriff, auf den alles Sein und Tun der Menschen bezogen wird. Es ist nicht die Gottesvorstellung der christlichen Offenbarung, die Barlach in seinen Dramen verwirklicht, sondern die Vorstellung .des ewigen Werdens. Im „Blauen Boll“ heißt es: „Unser Leben ist ein Strom des Werdens, und kein Ziel als immer neues Werden... ewiges Werden.“ Auch Gott ist ein Werdender; der Mensch hat teil an diesem Werden Gottes, indem er nicht in sich beharrt, sondern sich wandelt, eine „wahre Wirklichkeit“ erstrebt, um zu seinem „Eigentlichen Ich" žu gelangen, das identisch ist mit dem Atem Gottes. In seinem Drama „Die Sündflut“, das die alttestamentarische Fabel nur verwendet, um sie ad absurdum zu führen, stehen sich zwei Gottesbegriffe gegenüber. Noah vertritt mit deterministischer Demut den Gott des Gesetzes, den Unwandelbaren, vor dessen Allmacht die Welt winziger als Nichts ist — Calan, sein Gegenspieler, fühlt sich selbst gottmächtig, „ein Kind des Gottes, der mir Kraft gegeben hat, kein Knecht zu seip“. Im Untergang, als Blinder, hat er die Vision des neuen Gottes, der auch der Gott Barlachs ist: „Ich aber sehe den anderen Gott, von dem es heißen soll, die Welt ist groß, und Gott ist winziger als Nichts — ein Pünktchen; ein Glimmen, und alles fängt in ihm an, und alles hört in ihm auf. Er ist ohne Gestalt und Stimme.“ Barlach protestiert gegen die anthropomorphen Gottesvorstellungen, gegen die pharisäerhafte Sicherheit des Gottbesitzens und hält aller christlichen Orthodoxie seinen Gott des Werdens entgegen, der jenseits von Gut und Böse ist. Das sind Gedanken, die letztlich auf Heraklit und Plotin zurückgehen, alte gnostischtheosophische Elemente auf nehmen und auch bei den Mystikern des Mittelalters belegbar sind — von all dem hat Barlach sicher wenig gewußt; er ergrübelte sich seine „neue überpersönliche Religion“, ohne deshalb den kirchlichen Raum, dem er Ehrfurcht zollte, zu verlassen — ein Einsamer, für den die Gottsuche mehr bedeutete als die Geborgenheit im Glauben.

Anders bei Paul Claudel, dem großen französischen Dichter, der zum literarischen Mittelpunkt der Bewegung wurde, die seit 1906 unter dem Namen „Renouveau catholique“ bekannt geworden ist. Claudels Werk ist von einem kämpferischen Impetus erfüllt, der bekehrend wirken will und keine andere als die rechtmäßige Wahrheit seiner Konfession duldet. Diese oftmals nach außen zur Schau getragene dogmatische Starrheit ermöglicht zugleich die dichterische Erfüllung einer theozentrischen Ordnung. Claudel kennt kein Ringen um Gott, keine Zweifel und geistigen Vorbehalte, für ihn gibt es nur die Verkündigung des Ewigen, die Laudatio. Der Mensch existiert für ihn nur im Hinblick auf die absolute Wahrheit, sein Leben ist in jedem Augenblick, auch in der Sünde, auf Gott hin orientiert; der Tod hat seinen Sinn in der Rückgabe des Lebens an Gott, er wird verherrlicht als Erlösung, „Heißt das Leben der Zweck des Lebens? Er heißt nicht leben, sondern sterben und nicht das Kreuz zimmern, sondern es besteigen und unser Besitztum lachend verspenden. Darin wohnt die Freude, darin die Freiheit, darin die Gnade, darin die ewige Jugend." Diese Worte aus dem Mysteriendrama „Verkündigung“ zeigen, daß die christliche Weltdeutung Claudels nicht von der Tragik der Passion ausgeht, sondern von der’ Auferstehung. Alle Spannung des Letenä wird aufgelöst in der Harmonie eines unumschränkten Erlösungsglaubens. So sind die Bühnenwerke Claudels keine Tragödien, sondern epische Lebensläufe, die sich in ihrem gott- bezogenen Sinn enthüllen und in der Verklärung vollenden. Die bedeutendste Dichtung Claudels ist sein 1919 bis 1924 entstandenes monumentales Weltgemälde ;,Der seidene Schuh“, eine „spanische Handlung in vier Tagen“. Es ist bezeichnend, daß er die Epoche des spanischen Weltreiches unter Karl V. und Philipp II. darstellt, jene Zeit, in der ihm die Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden nahe schien. Dabei hat Claudel jedoch nicht die Absicht, die Geschichte jener katholischen Weltstunde nachzuzeichnen, er verzichtet auf Reformation, Inquisition und alle Greuel der Konquistadoren — sondern überhöht die Wirklichkeit ins Legendäre. Vor einem bunten Bildteppich realer und imaginärer Vorgänge, die Zeiten und Räume übergreifen, ereignet sich der Liebesroman des Don Rodrigo und der Dona Proeza, eine höchst irdische Liebe zunächst, die im Verzicht sich vergeistigt und Sinnbild des göttlichen Willens wird. Das Problem, das in der Fülle der Figuren und Bezüge immer wieder auftaucht, ist die Unvereinbarkeit der Liebe zur Welt mit der Liebe zu Gott. Sie ist für Claudel nur eine scheinbare Unvereinbarkeit, denn die Freude am Irdischen ist Gottes Köder, mit dem er sich den Menschen fängt. In allen irdischen Wirrnissen ist der Widerschein des Himmels spürbar; die Widersprüche des Daseins finden in Gott ihre Erklärung. Claudel ist der übermütigsten Dialektik fähig, wenn es darum geht,

Gottes Fügung zu rechtfertigen: er macht Rubens zum Vorkämpfer des Evangeliums und verdammt einen Geistlichen, der ungläubig dreih- blickt, als Häretiker. Das ganze Aufgebot dieser barocken Welt mit Monarchen, Landsknechten, Seeleuten, Engeln, Heiligen und Madonnen ist der höheren Ehre Gottes geweiht: Theater in ’der Regie des allmächtigen Weltenlenkers. Für Claudel ist dieses System selbstverständliche Glaubensgewißheit. Das Theater aber profitiert von der Weltdarste.llung als Theaters

, Auch in der angelsächsischen Literatur ist in den letzten Jahrzehnten eine Hinwendung zum religiösen Theater bemerkbar. Den Ausgangspunkt dieser Bestrebungen bildet T. S. Eliots Bühnenoratorium „Mord im Dom“ (1935), das das Martyrium des Thomas Beckett in der Kathedrale von Canterbury zum Inhalt hat. Eliot verwendet in antikem Sinne betrachtende Chöre, denen er die Priester und Ritter als Handlungsträger gegenüberstellt. — Als Beispiel in der Kirche ist auch Christopher F r y s „Ein Schlaf Gefangener“ gedacht, das vier Soldaten in Träumen zu biblischen Figuren werden läßt und damit die überzeitliche Gültigkeit der alttestamentarischen Gleichnisse sinnfällig macht. Eine Dichtung, die das Unterbewußtsein des gottentfremdeten Menschen von heute religiös erwecken will. — Auch in der amerikanischen Literatur quellen religiöse Elemente auf. Thornton Wilders Bühnenstück „Unsere kleine Stadt“ (1938) erreicht durch die Beschränkung auf das Einfachmenschliche eine ergreifende Wirkung. Der Alltag wird vom Tode her distanziert. Die frühverstorbene Emily konnte noch einmal auf die Erde zurückkehren und sieht jetzt die Wirklichkeit in neuem Lichte: „Begreifen die Menschen jemals das Leben, während sie’s leben - jeden, jeden Augenblick?" Und der Spielleiter, ,§teŲtyertreter Qottes in diesem „SptieL: antwortet; „Nein. Die Heiligen und die Dichter vielleicht’ m bis 'zu einem gewissen Grade.“ - Die jüngste religiöse Dichtung der amerikanischen Literatur ist das „Spiel um Job“ aus der Feder des bekannten Lyrikers Archibald Mac L e i s h. Er transponiert die Geschichte von Hiob in das heutige Amerika... eine geschickte Montage aus biblischen, allegorischen und modern-realistischen Motiven.

Es würde in -diesem Rahmen zu weit führen, alle Bühnenwerke mit religiöser Thematik aufzuzählen. Genannt seien wenigstens noch die religiösen Spiele von Manfred Hausmann und Günther Rutenborn, von Max Mell und Leo Weismantel, die vor allem durch Laienspieler starke Verbreitung fanden. Für die französische Literatur Seien die Autoren Henry G h e o n, Gabriel M Ä r c e 1 und Franęois M a u r i a c erwähnt. Auch die Dramatisierung einer Novelle von Gertrud von Le Fort durch Georges Bernanos unter dem Titel „Begnadete Angst" konnte sich zahlreiche Bühnen erobern. Selbst das Boulevardtheater gewann an religiösen Stoffen, freilich meist in sensationeller Aufmachung, Interesse. „Gericht bei Nacht" (Fodor), „Die erste Legion“ (Lavery), „Ein Mann namens Judas" (Puget) u. a„ sind Titel, die auch auf den deutschen Spielplänen des öftern auftauchen. Ein Stück ähnlicher Art hat in jüngerer Zeit wegen seiner missionierenden Wirkung besonders viel von sich reden gemacht. Es ist „Der Prozeß Jesu“ von Diego F a b b r i. Hier wird von einer jüdischen Schauspieltruppe allabendlich der Prozeß gegen Jesus wieder aufgeröllt. Die Schauspieler verteilen die historischen Rollen und rekapitulieren die Fakten. Dann schaltet sich das Publikum ein. Die Diskussion entzündet sich an der Frage: Was bedeutet uns heute Jesus? Am Ende ( gesteht einer der Mitspieler die Denunziation eines Juden. Judas ist auch heute unter uns — und Christus? Er wird von uns immer wieder verurteilt, verraten und gekreuzigt,

Ergebnis dieses auf Stichworte beschränkten Ueberblicks: Das positivistische Erbe des 19. Jahrhunderts scheint überwunden. In allen Literaturen zeigt sich der Aufbruch zu einer neuen Religiosität. Wenn die Dichter, wie Ezra Pound einmal gesagt hat, die „Füllhörner der Menschheit“ sind, so zeigt sich in diesem neuen Irrationalismus das Ende einer Epoche, die den Menschen zum Mittelpunkt des Denkens gemacht hatte.

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