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Marxistische Literaturbetrachtung

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Soziologische Gesichtspunkte bei der Beurteilung von Dichtungen sind für die ältere Zeit, besonders für das Mittelalter, ganz selbstverständlich. (Literatur der Stände, des Hofes, der Geistlichkeit, des Rittertums, der Städte, die „Volkspoesie“ des Bauerntums, des Handwerks, die Lyrik der Vaganten, der Humanisten usw.) Für die neuere Zeit sind sie hinter biographischen oder ästhetisch formalen, ideengeschichtlichen oder stammescharakterologi- schen Gesichtspunkten zurückgetreten. Ein Grund dafür ist zweifellos, daß die bürgerliche Gesellschaft, aus deren Geist die neuere Literatur erwachsen ist, sich lange Zeit — begreiflicherweise — von sich selbst nicht distanziert, sich nicht in Frage gestellt, nicht historisch genommen hat. Das wird zur Zeit reichlich nachgeholt. Von außen wurde sie ja schon seit einem Jahrhundert (das „Kommunistische Manifest" stammt von 1848) bekämpft und als historiscHerledigt erklärt durch die marxistische Doktrin.

Diese großartige Schematisierung der menschlichen Gesellschaftsbezüge, so verkehrt auch ihre anthropologischen Voraussetzungen sind, so verhängnisvoll ihr Einfluß war und ist auf Seele und Geist immer größerer Massen — es ist nicht zu verkennen, daß sie auch richtige Grunderkenntnisse gebracht hat, daß das Pathos ihrer Forderungen vielfach berechtigt war und daß ihre Wirkung in vielem eine Erlösung bedeutete, materiell und seelisch.

Gegen die marxistische Soziologie ist nun freilich wieder — abgesehen von dem politischen Kampf gegen die sozialistischen Parteien — im Rahmen der großen Revision der Theorien des 19. Jahrhunderts eine geistige Kritik im Gange, die auf die Grundlagen geht. Immer entschiedener werden gerade jene Voraussetzungen der Doktrin, die marxistischen (Feuerbachschen) Ideen von der Natur des Menschen, abgelehnt: offen, in theoretischen Auseinandersetzungen; und im stillen, im Innern der Menschen selbst, die anders geworden sind. — Nach außen freilich ist der Marxismus eher noch im Wachsen. Er ist politisch zur größten Macht geworden. Seine Vorkämpfer gehen daran, ihm die Welt zu unterwerfen.

Der machtlose einzelne, Zuschauer und Mitgerissener — Opfer auf jeden Fall, auch wenn er begeistert mittut — kann, auch wenn er redlich sein Teil beiträgt zum Rechten, nur bange und besorgt oder mit der Hoffnungslosigkeit des Pessimisten oder mit dem Gleichmut des Christen den wirklichen Ausgang des großen politischen Macht- und Ideenkampfes abwarten, in dem wir stehen. — Unterdessen, während der Atempausen, mag er aber auch aus natürlich menschlichem Interesse, aus natürlich menschlicher Sorge um den Geist seiner Mitmenschen, an den theoretischen Diskussionen teilnehmen, selbst wenn diese sich nur auf literarische Fragen beziehen: alle Bereiche der Kultur haben ihren Eigenwert. Und er wird, wenn er Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit ha.t, unbefangen auch dort das Richtige anerkennen, wo er wegen der weltanschaulichen Gegensätze allen Grund zur Vorsicht haben muß.

Die marxistische Art der Betrachtung Kit nun tatsächlich Wesentliches zu sagen auch über die soziologischen Hintergründe unserer Literatur gerade der letzten Jahrhunderte. Das erfährt dankbar auch der literaturgeschichtlich einigermaßen bewanderte Leser jetzt bei der Lektüre der Aufsätze, die der ungarische Literarhistoriker Georg Lu- k ä c z unter dem Titel „Goethe und seine Zeit“ herausgegeben hat. (A. Franke, Bern.) Der Verfasser schreibt in ausgesprochen sozialistisch-kämpferischem Ton, ist aber zugleich ein gründlicher Kenner nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Literatur und ein geistvoller Beurteiler literarischer Dinge. Es ist wahrhaftig der Mühe wert, sielt mit seinen Ideen bekanntzumachen.

Sein Thema: in dem Vorwort, das er in fast noch schärferer Tonart — den größtenteils vor einem Jahrzehnt geschriebenen Aufsätzen voranstellt, heißt es: „Wie stehen wir zur Goethe-Zeit?“ — „Wir“, das sind aber die „Progressiven“, die einzig noch in Betracht Kommenden. Des Autors Ziel ist: „Lege n d e n z e r s t ö r u n g“, das heißt Zerstörung der „spät-bürgerlichen“ Darstellung jener Zeit, und eine „Rettung“ zugleich ihres Geistes im sozialistischen Sinn. Sie soll als die „ideologische Vorbereitungszeit zur bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland“ erscheinen. Im Werk Goethes, Schillers, Hölderlins sollen die „wirklich progressiven, beziehungsweise reaktionären Tendenzen" sichtbar werden. Und Lukäcz unterstreicht die „progressiven“, das heißt revolutionären Tendenzen, legt solche manchmal auch nur hinein, und entschuldigt die „reaktionären“ oder übergeht sie überhaupt. — Die klassische Dichtung, die auch in der Gegenwart noch vollen Klang hat und hohen Rang in der Weltliteratur, soll eben für die sozialistische Gesellschaft „gerettet" werden. Der Sozialist, der überzeugte „Proletarier", soll sich an ihrer Größe, an ihrem „tiefen“, das heißt auf das Einfache, Wesentliche gehenden „Realismus" (den man sonst „Idealismus“ nennt — nur im Mittelalter hieß das „Realismus"!) freuen können, in dem Bewußtsein, daß schon in diesen Werken ein „revolutionärer, progressiver“, das Bürgertum bereits sprengender Geist, Geist von seinem Geist, lebendig sei.

Und Lukacz führt den Nachweis in den feststehenden sozialistischen Kategorien, mit

Begriffen wie: „revolutionäre" und „apologetische Periode“ des Bürgertums; „heroische Illusionen“ (des jakobinischen „Polis-Ideals“, richtiger Römer-Ideals) und „Akkommodation" (des späteren Goethe und Hegel an die „nachrevolutionäre“, kapitalistische Gesellschaftsordnung); „Citoyen" und „Bourgeois" (der eine stolzer Bürger der Republik, der andere nur auf seinen privaten Vorteil bedacht), Begriffe, die Karl Marx geprägt hat. — Zitate von Marx und Engels bedeuten überhaupt immer Entsdiei- dungen.

In diesem Sinn deutet Lukacz „W e r- thers Leiden", den so unmittelbar persönlichen Liebesroman, wegen des gesellschaftskritischen Untertons, der tatsächlich mitspielt, als den „adäquaten künstlerischen Ausdruck der humanistischen Revolte“ gegen Adel und Spießbürgertum, Werthers Tragödie als die des „bürgerlichen Humanismus" — in dem „unlösbaren Kon-

flikt der freien und aliseitigen Entwicklung der Persönlichkeit mit der bürgerlichen Gesellschaft selbst" —, und „W i 1- h e 1 m Meisters Lehrjahre" als einen Versuch, den Konflikt auf „utopische“ Art zu lösen: nur auf einer „Insel“, fern von der „miserablen" Wirklichkeit, könnten erlesene Personen dieses Ideal ins Leben umsetzen. — So sieht Lukacz im „Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe“ und in Schillers Bemühen um eine „Theorie der modernen Kunst" vor allem den Konflikt zwischen dem klassischen Schönheit»- und Einfachheitsideal der beiden Freunde und der Unvermeidlichkeit „barbarischer Formen" gerade dort, wo modernes Leben zu gestalten war (in „Wilhelm Meister“, im „Faust"); und darin wieder die „Wider- sprechlichkeit ihrer Lage als großer Dichter, die in der letzten, von den tiefsten Widersprüchen zerrissenen Aufschwungsperiode der bürgerlichen Kunst das Höchste erstreben und erreichen“. — Also gar nicht scheitern! — Aber eben: „D er Dualismus zwischen Ideal und Wirklichkeit ist auf dem Boden der bürgerlichen Ideologie nicht zu ü b e.r w i n d e n.“ — So sieht er in Hölderlins „Hyperion"nur die große „Elegie“ des seinem jakobinischen Jugendideal treugebliebenen Dichters über die Zerstörung dieser „heroischen Illusionen": von den drei Freunden habe Schelling sich schließlich „im borniertesten Obskurantismus der niederträchtigen Reaktion" (!) verloren und Hegel sich „mit dem Abschluß der revolutionären Periode der bürgerlichen Entwicklung abgefunden“, nur Hölderlin habe „kein Kompromiß" geschlossen, sei aber freilich mit seinem Ideal „der zu erneuernden Polis-Demokratie" an der Wirklichkeit zerbrochen. Dichterisch jedoch habe er „dem Goethesch en Erziehungsroman' zür Anpassung an die kapitalistische Wirklichkeit einen .Erziehungsroman' zum heroischen Widerstand gegen diese Wirklichkeit"… „dem deutschen Paradigma des großen Bourgeois-Romans (!) den Entwurf eines Citoyen-Roma ns“ entgegengestellt.

Im „F a u s t“ schließlich findet Lukäcz, wie damals die romantische Jugend um Goethe und Hegel selbst, nicht die Tragödie eines besonderen (des „faustischen“) Menschentyps (des in den „Erdeschranken“ sich nicht genügenden, immer wieder nach Unendlichkeit und Vollendung verlangenden Menschen), sondern das „Drama des Menschengeschlecht s“, die dichterische Parallele zu Hegels „Phänomenologie des Geistes"; im besonderen (und mit Genugtuung) die Darstellung des Niedergangs der feudalen, des Aufstiegs der kapitalistischen Welt; und formal die letzte große Dichtung der „K u n s t p e r i o d e“ (das Wort nimmt er von Heine), die letzte Bastion, fast auch schon das Grabmal ihrer ästhetisch-humanistischen Ideale, in Formen — der Stoff erzwang sie sich —, die bereits den „barbarischen“ Tendenzen des neunzehnten Jahrhunderts entsprechen: Balzac ist im Aufstieg.

So geistvoll nun vielfach diese Gedanken durchgeführt werden, so richtig manche Beobachtungen und Hinweise sind, besonders in dem Aufsatz über „Wilhelm Meister“, so umfassend der soziologische und literarische Horizont ist, in den die Gedanken eingefügt werden: die Darstellung leidet doch an einer zuweilen geradezu unheimlichen Einseitigkeit und auch Ungerechtigkeit der Deutung. Hölderlins „Hyperion“ zum Beispiel ist wahrhaftig nur mit einem Zug das, als was ihn Lukacz glaubt überhaupt nehmen zu dürfen; er ist zugleich entschiedener Protest dagegen: von dem „Bund Nemesis“ und dem Konflikt zwischen Hyperion und Alabanda wird einfach nicht Notiz genommen. — Mit „Werthers Leiden" ist es nicht viel anders. — Goethe, etwas wie Neigung zum „Ple bejischen“ zu insinuieren, weil er Vorliebe für das Volkstümlich-Einfache oder (auch) für das Triebhaft-Natürliche hatte, geht um so weniger an, wenn mit dem Begriff „plebejische Methoden" andererseits der Terror der Jakobiner beschönigt wird usw…. Aber hier soll nur noch von den letzten grundsätzlichen Entscheidungen die Rede sein:

Es geht nicht an (das ist schon oft gesagt worden), die geistigen Erlebnisse der Menschen alle auf den Nenner „soziologischer Kampf" zu bringen, so wenig wie sie alle aus dem Sexus zu erklären sind. Und innerhalb der soziologischen Auseinandersetzungen kann man nicht einfach und auf jeden Fall — geradezu naiv — für den „Fortschritt“ und gegen die „Reaktion" Stellung nehmen: die geschichtliche Entwicklung ist nicht auf jeden Fall und in jeder Richtung eine zum Besseren; das Alte und das Neue stehen in fruchtbarer Dialektik einander an sich gleichwertig gegenüber. Hinter dem Schlagwort „Fortsdiritt“ steckt freilidi in Wirklichkeit eine gebundene Marsdiroute zu einem bestimmten Ziel.

Und es geht nidit an, allgemein- menschliche Widersprüche, die sich in jeder soziologischen Ordnung, unter allen Wirtschaftsformen finden, wie die zwischen Alter und Jugend, Gemeinschaft (Ehe) und Individuum, Gemeinnutz und Eigennutz (Citoyen und Bourgeois), Arbeitsteilung und harmonischer Entfaltung der Persönlichkeit; auch die von Macht (Besitz oder Amt oder Parteifunktion) und Ohnmacht, Gesetz und Freiheit; und schließlich gar den von Ideal und Wirklichkeit — einfach auf das Konto der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung zu schieben: sie müssen sich alle in der kommunistischen wiederfinden, sie gehören zur Dialektik der menschlichen Gemeinschaft überhaupt.

E i n Gesichtspunkt aber, und zwar der, der über allen anderen steht, der das Menschliche bis an seine weitesten Horizonte und in seine tiefsten Gründe übersehen läßt, der christliche, wird in dem Werk des Sozialisten überhaupt nicht beachtet. — Er fehlt freilich auch der Menschen- und Kunsttheorie Schillers. Der Gegensatz von „naiv“ und „sentimental" zum Beispiel ist in Wahrheit gegründet auf eine falsche Verabsolutierung der „Naivität“. Kein Mensch noch war durchaus „naiv“. Das Christentum aber weiß um den tieferen Grund der „Entzweiung“ auch im angeblich naiven Menschen und ist doch nicht „sentimental": es hat zugleich die Gewißheit, daß diese Entzweiung aufzuheben ist, in der Liebe, soweit sie verwirklicht werden kann, schon hier auf Erden…

Das Christentum steht auch mit seiner Anschauung der geistesgeschichtlichen Entwicklung (oder Dialektik) über allen immanentistischen Anschauungen, ohne diese in ihrer teilweisen Berechtigung aufzuheben. Es teilt mit der einfach-realistischen die Überzeugung, daß im Grund der Mensch immer derselbe bleibe; mit der relativistischen, daß jede Phase menschlichen Daseins denselben Wert (vor Gott) habe, daß es in der Welt einen stufenförmigen Anstieg zu immer höherer Vollendung im Sinne der Aufklärung oder Hegels oder des Marxismus nicht gebe; mit der progressivisti- schen (sozialistischen) Anschauung dann doch wieder, daß ein höchstes Ziel über allem stehe: die Civitas Dei, aber als jenseitiges Ziel, zu dem man sich auf Erden nur in Demut vereinigen könne, daß der Sinn des menschlichen Daseins eben über ihm sei, daß von absoluter historischer Bedeutung nur e i n Ereignis sei, die Erlösungstat Christi: die augustinische Anschauung der Menschheitsgeschichte.

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