6779967-1969_39_03.jpg
Digital In Arbeit

Die Neue Linke

19451960198020002020

Der Außenstehende bekommt bei seiner ersten Begegnung mit der Neuen Linken einen verwirrenden, vielfach unsympathischen Eindruck. Er stößt sich an Typen wie Rudi D ü t s c h k e (Berlin), David Cohn-Bendit (Paris und überall), aber auch an links eingestellten Führern liberaler und christlicher Studentenorganisationen; an den Methoden einer zornigen Intoleranz, einer zynischen Verächtlichmachung, eines Kampfes ohne Spielregeln und an einer Zielsetzung, in der hinter der totalen Zerstörung der heutigen Industriegesellschaft nichts Neues sichtbar ist.

19451960198020002020

Der Außenstehende bekommt bei seiner ersten Begegnung mit der Neuen Linken einen verwirrenden, vielfach unsympathischen Eindruck. Er stößt sich an Typen wie Rudi D ü t s c h k e (Berlin), David Cohn-Bendit (Paris und überall), aber auch an links eingestellten Führern liberaler und christlicher Studentenorganisationen; an den Methoden einer zornigen Intoleranz, einer zynischen Verächtlichmachung, eines Kampfes ohne Spielregeln und an einer Zielsetzung, in der hinter der totalen Zerstörung der heutigen Industriegesellschaft nichts Neues sichtbar ist.

Werbung
Werbung
Werbung

Der große Radau einer kleinen Zahl von Radikalen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Neuen Linken außer derben Provokationen geistige Wurzelböden gibt, aus denen die eigentlichen Quellkräfte kommen:

• Erstens einen Komplex von Ideen aus den Frühschriften von Marx und Engels. Seit den dreißiger Jahren wird aus früher unbekannten oder in Vergessenheit geratenen Manuskripten, Artikeln und Abhandlungen ein Bild des „jungen Marx” geformt. Die Propaganda der Neuen Linken hält dieses Image eines „unbefleckten” Marxismus der Kritik entgegen, die von antimarxistischer und marxistischer Seite an den eingealterten Übeln des Spätmarxismus geübt wird.

• Zweitens ein Unbehagen, das in den „sozialistischen Ländern” des Ostblocks unter dem Druck eines in Partei und Staat institutionalisierten Marxismus entsteht. Seit der Diskriminierung des Stalinismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) und seit den Interventionen des „Sowjet- imperialismus” in Polen und Ungarn (1956) und in der CSSR (1968/69) nehmen vor allem die jungen Radikale inen Weg, der sie Von-den kqpmyjj stischen --.Formationen upd vein dogmatischen Sowjetmärxisimus wegführt.

• Drittens der Bruch, mit dem sich in der „freien Welt des Westens” junge Intellektuelle, die meistens aus mittleren und oberen Schichten kommen, von der „spätkapitalistischen Klassengesellschaft” und dem dazugehörigen „Establishment” getrennt haben, um mit einer Ziehung nach links eine „progressive”, letzten Endes revolutionäre Bewegung in Gang zu setzten.

Zerstörung des Gefängnisses

Das vielgebrauchte Wort „Establishment” hat in der Geschichte des reichlich fraktionierten kirchlichen und politischen Lebens der Engländer eine weit zurückreichende Bedeutung. Die Neue Linke („The New Left” ist eine angelsächsische Prägung) versteht darunter Merkmale, Erscheinungsformen und Wirkungen der herrschienden Gesellschaftsordnung und vor allem die Spielregeln dieser Gesellschaft in Schul- und Erziehungswesen, Staat und Kirche, Berufsleben und Freizeit, Familie und Sexualverhalten usrw. Die Neue Linke hält das Establishment von der Art, daß der Einzelne nur die Wahl hat,

• entweder das Ganze zu akzeptieren, die Vorteile daraus zu ziehen und dafür die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu opfern oder

• diese Spielregeln abzulehnen, aus der Gesellschaft auszuziehen, zu opponieren und zusammen mit anderen an der totalen Zerstörung des Establishments zu arbeiten. Herbert Marcuse, einer der Patriarchen der Neuen Linken, sagte 1961 zu Berliner Studenten, es handle sich bei dieser Zerstörung „nicht um einen Kampf gegen eine Gesellschaft, die sich in Desintegration befindet”; ganz im Gegenteil: der Aufstand hat es mit einer „außerordentlich gut funktionierenden Gesellschaft” zu tun. Diese Gesellschaft sei aber ein Gefängnis der individuellen Freiheit. Wenn man anstelle dieses Gefängnisses ein Wohnhaus haben möchte, dann müsse man zuerst das Gefängnis bis auf den Grund zerstören. Dieses „Gegenbild ohne Kompromiß” akzeptieren auch junge Radikale wie Oohn-Bendit, der bekanntlich erst unlängst in seinem ungezügelten Geltungsdrang ein Auftreten Marcuses in Rom skandalisiert hat. Indem die Neue Linke die Demolierung des komplizierten Systems eines marktwirtschaftlich orientierten Industriesystems betreibt, ist sia kein Amokläufer; sie rechnet vielmehr, daß mit der Zerstörung der Wirtschaftsordnung der Lebensstandard sinken und die Zahl der Erwerbslosem steigen wird; die neuerdings Entrechteten und das „äußere Proletariat” in Afrika, Südamerika usw. werden dann aufhören, ihre Hoffnung in ein System zu setzen, das bereits zu versagen beginnt. Dann werden auch die Massen auf die Neue Linke einschwenken.

Die Sex- und Crime-Welle

Es kann hier nicht genügend ausführlich beschrieben werden, wie die Bewegung zuerst in den angelsächsischen Ländern entstanden ist: unter der Beat-Generation im Westen der USA; in Oxford hnd in anderen traditionsreichen Hoch- schulstädten Großbritanniens; und wie sie in den Gewässern der Entwurzelten schwimmt. Der Amerikaner Jack Kerouac, der den Begriff beatnik (aus beat = schlagen und nik = Sputnik) geprägt hat, schrieb einer Jugend, die in der „schlechtesten aller Welten” leben muß, ein literarisches Manifest; ein dröhnendes Bekenntnis zu einem „glücklichen Leben” unter neuen Idealen der Freundschaft und nach neuen Vorstellungen von der Solidarität; Tempo, Jazz, Marihuana, Sex und Bruch aller „Tabus der Alten” werden Treibladungen des Neuen. Die Neue Linke ist nicht gleichzusetzen mit streunenden Gammlern, Hippies, Provos, Kommunarden usw., obwohl Herbert Marcuse ihre Revolution zuerst als eine sexuelle und moralische anspricht, in der Kampfweise der Neuen Linken spielt aber die Verschmutzung und Besudelung der bisherigen Zivilisation eine wichtige Rolle: Die Patina des Bisherigen verschwindet so unter einer Schmutzschicht und hört auf, junge Menschen zu beeindrucken. Die happenings, von denen eines an der Wiener Universität stattfand, kommen in ihrer ekelerregenden Form nicht von ungefähr. Auf die Gefahr, mit Unappetitlichem zu schockieren und der willkürlichen Textauswahl bezichtigt zu werden, sei hier zitiert, was der „Vater der Beatniks”, Jack Kerouac, in seinem Roman „On the Road” schreibt. Er sehildent, wie er sich einmal nach reichlichem Alkoholkonsum auf eine Toilette zurückzog und um das Klosettbecken wand, um zu schlafen. „Während der Nacht kamen mindestens hundert Seeleute und assortierte Zivilisten herein und entleerten ihre stinkenden Exkremente auf mich, bis ich zur Unkenntlichkeit überkrustet war. Was macht es schließlich für einen Unterschied? Anonymität in der Welt des Menschen ist besser als Ruhm im Himmel, denn: was ist Himmel? Was 1st Erde? Alles nur Gedankenkonstruktion.”

Die Losung des Pansexualismus, make love not war, verdeckt nur unvollkommen die Tatsache, daß hinter den Blumenfesten der Hippies der Abfall ins Kriminelle beginnt. Warren E. Burger, Chef Justice der USA, stellt fest, im Leben der USA seien die sozialen Probleme noch niemals so sehr unter der Last der Kriminellen gestanden wie jetzt. In jeder Stunde werden 400 schwere Verbrechen begangen; es fallen mehr Amerikaner in der Heimat durch Mörderhand als im Krieg in Vietnam. Solche Defekte, zu denen die Exzesse der „Rauschgiftphilosophie” und das Milliairdengeschäft des Rauschgifthandels gehören, passen in das Bild des Verfalls, das in der „zweiten Intention” der Neuen Linken bei ihren Angriffen auf das Establishment eine große Rolle spielt. Viele derer, die unter den Spruchbändern Make love not war einherziehen, rufen in den Kampfformationen der Neuen Linken nach einem „zweiten, dritten und vierten Vietnam”, wo sie den Guerillakrieg fortsetzen wollen, der vielleicht in Vietnam zu Ende gehen wird.

Links = Fortschritt

Bei der mäßigen Sympathie, die politische Parteien, ihre Programme und Funktionäre zu Zeiten genießen, profitiert die Neue Linke von ihrer Behauptung, in ihrem Fall hätte „links” mit traditionellen politischen Begriffen nichts zu tun; links hat in der von der Neuen Linken auf gestellten Wertigkeit einen Rang zwischen: gegenwartsoffen — fortschrittsfreudig — zukunftsorientiert und jugendlich — unbeschwert — fruchtbar. Links ist ein „neuer politischer Typ” und bedeutet in dei Kurzformel einfach: links — progressiv. Dieser neue Typ ist in den bisherigen bürgerlichen christlichen, liberalen, kurzum in allen politischen Parteien ohne marxistische Tradition präsent; ebenso in den Kirchen und Religionsgesellschaften; in den kulturellen und künstlerischen Vereinigungen; überall, wo an den Durchbruchstellen des Neuen um neue Ziele, Methoden und Typen gerungen wird.

Mit der Formel links — progressiv werden zugleich die Grundsätze und Ansichten, Meinungen und Gefühle der „anderen” diskriminiert. Wer nicht geneigt ist, Prinzipien so zu vergessen wie unsereins zuweilen den Autoschlüssel vergißt, steht im Verdacht, „Prinzipien als Rastplätze” zu benutzen und zu müde zu sein, um noch einmal neuzudenken oder umzudenken. Alles, was die Ziehung nach links nicht mitmacht, ist eo ipso reaktionär, steril, faschistoid, imperialistisch, kapitalistisch usw. Da es morgen die Welt von heute nicht mehr geben wird, ist für sie der „Kehrrichthaufen der Weltgeschichte” (Leo Trotzlki) parat.

Wer „links” im Sinne von „progressiv” ist, stellt sich einem „Nachholunterricht der Geschichte”; er lemt, gewisse „Vorurteile, Meinungen und Schlagworte zu vergessen”, die Reflexionen einer unfoewältigten Vergangenheit sind oder „Stehsaitz” aus der Ära des Kalten Krieges. Da die Neue Linke ein neues politisches Vokabular gebraucht, um marxistische Erkenntnisse gemäß einer zeitnahen Wortfindung auszudrücken, scheint es, als wären die bisherigen sachlichen Widerlegungen des Marxismus plötzlich gegenstandslos. Antimarxist kann darnach nur mehr der Parteigänger des Rechtsradikalismus sein.

Das Trojanische Pferd

Mit ihren derben Provokationen haben die jungen Radikalen die Aufmerksamkeit auf die Neue Linke gelenkt. Aber die Neue Linke kam auch auf anderen Wegen ins Land. 1965 veranstaltete die österreichische Hochschülerschaft zur 600-Jahr- Feier der Universität Wien ein Symposion. Es geschah dies zu einer Zeit, in der eine der ÖVP nahestehende Studentenpartei in den Organen der studentischen Selbstverwaltung die Zügel noch fest in der Hand hatte. Umso bemerkenswerter war die Zusammensetzung der Prominenz des Symposions:

Alle überragend und als 80jähriger Patriarch gefeiert, fungierte der Hauptvortragende Ernst Bloch, great old man des Neo-Marxismus aller Schattierungen und eindrucksvoller Vertreter einer von Marx inspirierten Philosophie; daneben der katholische Theologe Johann Baptist Metz, der kurz nachher in Münster den sinistrismo in der Kirchenreformation präsent machte; Golo Mann, brillanter Vertreter des Linksintel- lektualismus und Rudolf Augstein, der so wie jetzt daran war, mit seinem von der Wohlstandsgesellschaft in der BRD getragenen Wochenmagazin „Der Spiegel” in Bonn ein Linksregime auf die Beine zu bringen und einen harten Antiklerikalismus alten Stils in Schwung zu bringen. Von österreichischer Seite schlossen eich Günther Nenning und Friedrich Heer an. Als Cover des Ganzen erschienen: Ingeborg Bachmann, Mitglied der Gruppe 47, also jener Schriftsteller, aus deren Reihen die SPD stets eine verläßliche literarische Schützenhilfe bekommt; Manes Sperber, dessen Wiener Herkunft noch an Alfred Adler anschließt; und schließlich der Ordnung halber die amtierenden Fachordinarien für Philosophie, Das, was man jetzt das Establishment nennt, die Prominenz aus Staat, Kultur, Kirche, Wirtschaft, Society usw. repräsentierte am Rand der Auseinandersetzung mit dem Neuen in Kundgebungen der Offizia- lität, oft nicht wissend, was geschehen war. Das Symposion 1965 hat die Tatsache bloßgelegt, daß es in Österreich unter der Intelligenz wohl eine alte und eine neue Linke gibt, aber keine rechte Alternative dazu; es sei denn, man hält den Rechtsradikalismus und die „Progressive Mitte” für hinreichend.

Der Neomarxismus zu spät

Das unlängst mit dem Neo-Liberalis- mus gemachte Experiment hat bewiesen, daß „Neo” und „Neu” oft nur andere Worte für „Spät” sind. Der Neo-Marxismus reflektiert auf die Spätkrise des Marxismus, die Sozialdemokratie und Kommunismus hinterlassen haben. Was die „Antimarxisten” und die „konterrevolutionären Kräfte” kaum zuwege gebracht haben, das geschieht jetzt durch die neue Linke: Sie weist nach, daß die Selbstvereinigung des Marxismus fällig ist und sie erschüttert die Selbstgewißheit, die den Marxismus bisher auf die Höhe seiner geschichtlichen Leistung geführt hat. Und jetzt geschieht ein Paradoxop ohnegleichen: Der Verlierer, der Marxismus, umstrickt noch einmal seine Uberdauerer von der anderen Seite, indem er verspricht, die Fortschritte des Neo- Marxismus in der Zukunft würden über die Defizitärbestände des Marxismus aus der Vergangenheit hinweghelfen; der Marxismus sei die Zukunft. Es entsteht ein sonderbares Bild: Die oft schon im hohen Grei- senalter stehenden great old men der Linken spielen am Sandkasten noch einmal die verlorene Revolution de Marxismus ihrer Jugendzeit durch und deklarieren das Scheitern von gestern als den Fortschritt von morgen; die jungen Radikalen der Neuen Linken, die in Aufruhr sind, verbrennen zwischen der Passivität der vom Marxismus fixierten Massen und den aufs äußerste irritierten Regierungen, in denen oft Marxisten am Ruder sind; und die bürgerliche Welt gerät in Gefahr, daß sich die Voraussage Josef Schumpeters erfüllt und sie die Kontrolle über „ihre” Intelligenz einbüßt, da diese nach „links, wo der Fortschritt stattfindet”, wechselt.

Gewiß: Es ist ein Aufruhr, In dem die Minorität der Intellektuellen die Bewegung trägt und unter den Intellektuellen ist es eine Minorität, die kämpft. Aber die letzten Entscheidungen fallen nicht dann, wenn der Aufruhr der Massen tobt; sie finden in verhältnismäßig kleinen Gruppen statt, wo jeder Einzelne von der Richtigkeit einer Idee überzeugt ist und den Willen hat, diese Idee auch unter Opfern zu realisieren. Auch das Industriesystem wird von einer Auslese der Wenigengesteuert.

Mag sein, daß es der Erziehung, der Medizin und dem wissenschaftlichen Fortschritt im Ganzen einmal gelingen wird, das Politische von emotionalen Antrieben zu befreien und die Utopie des Frühsozialisten Saint- Simon zu gewährleisten:

Politik — Wissenschaft der Produktion. Die Wirtschaft wird die Politik absorbieren.

Die Zeit bis dahin möge aber von jenen nicht untersehiäfczt werden, die meinen, die Freiheit sei hinter der Realität einer „Gesellschaft im Überfluß” besser geschützt als durch die „chinesische Mauer der Ideologien”. Ideologen sind nicht nur halb- fertige oder halb verfälschte wissenschaftliche Theorien; sie reflektieren auf Hoffnungen, Wünsche, Befürchtungen und Ideale der Menschen; diese aber ziehen mit einer ungeheuren Macht durch unsere Zeit Die „Entideologisierung” findet daher nicht statt

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung