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Gewissenserforsdiung unter der roten Fahne

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Zeiten freiwilliger oder erzwungener Untätigkeit brauchen nicht nutzlos sein. Sie können der Besinnung dienen, dem Rückblick auf das zurückgelegte Stück Weg. Begangene Fehler werden zögernd eingestanden, und nach und nach reift auch die Ueberlegung, wie man es in Zukunft anders und vielleicht besser machen könnte. So ist es im Leben der Einzelmenschen, so ist es auch bei Organisationen, Parteien, Völkern, wenn die Geschichte sie in ein Wellental hinabgestoßen hat.

Selten aber kann ein Historiker einen solchen schmerzhaften und zugleich heilsamen Prozeß so genau verfolgen und nachzeichnen

wie Erich Matthias die große Gewissenserforschung der deutschen Sozialdemokratie zu Füßen der durch den Nationalsozialismus ins Exil gezwungenen roten Fahne*. Die Publikationsfreudigkeit des Sozialismus im allgemeinen ist bekannt, die Jahre gehemmter Aktion verstärkte sie damals noch bedeutend. Als dritter Glücksfall für eine zeitgeschichtliche Untersuchung kam hinzu, daß von allen Exilpublikationen der deutschen Sozialdemokratie ein Exemplar im Stockholmer Arbetar-rörelsen Arkiv (Arbeiterbewegungsarchiv) wohlverwahrt den großen Sturm, der mehr als nur Flugblätter, Broschüren und Zeitungen in alle Winde verstreute, überdauerte.

So ist es möglich, Einzelheiten über die Errichtung der SOPADE in Prag zu erfahren. Unter diesem geheimnisvollen, slawisch klingenden Prager Firmennamen verbarg sich aber niemand anderer als der nach der Zeitungsbeschlagnahme und Konfiskation des Parteivermögens am 10. Mai 1933 geflüchtete Parteivorstand der SPD, der nur zur Tarnung den zweiten Buchstaben jedes Wortes des alten Parteinamens ausschrieb. Bald machen sich auch oppositionelle Strömungen gegen „die Genossen im Prager Kyffhäuser“ bemerkbar. Jüngere radikalere Elemente melden sich zum Wort und belasten die alte Parteiführung, unter der wir übrigens bereits den Namen Erich Ollenhauer finden, mit der Mitschuld an der Katastrophe. Neue linksradikale Gruppen werden gegründet. Wieder einmal flammt der gerade in der deutschen Sozialdemokratie mit besonderer Leidenschaft ausgetragene Kampf „Hie Reformismus — hie Radikalismus“ auf. „Die Ressentiments der auf dem deutschen Kampfplatz Geschlagenen machen sich in Fraktionskämpfen besonders stark bemerkbar.“

Breiten Raum in den Diskussionen, die jetzt beginnen, nimmt die Frage ein: Wie war das alles überhaupt möglich? Die deutsche Sozialdemokratie, gestern der Stolz und feste Hort der deutschen Arbeiterschaft, heute zersprengte Kader und sich verlaufende Massen ... ? Und je nach Temperament und Zugehörigkeit zu einer der innerparteilichen Fraktionen werden die Antworten gegeben. Von ihnen sind vor allem jene von allgemeinem Interesse, die die Bahnen des gewohnten marxistischen Streitgesprächs verlassen und freimütig weite Teile des sozialistischen Ideengebäudes für eine Belastungsprobe eben nicht entsprechend bezeichnen. So übt der aus der „Linken“ der Partei hervorgegangene Historiker Arthur Rosenberg Kritik an dem „unrealistischen Rationalismus (nicht gegen den Rationalismus an sich), der charak-

teristisch für das von der deutschen Sozialdemokratie beharrlich festgehaltene Menschenbild der Aufklärung sei“. Georg Decker greift die von der Partei gern geübte Methode an, Menschen und Verhältnisse in bestimmten vorgefaßten marxistischen Schematas zu erfassen:

„Wir haben uns die Menschen wesentlich anders vorgestelltwir haben nämlich weniger die geistige und seelische ... Beschaffenheit der Menschen durch eine Analyse der Bedingungen ihrer Existenz aufzuklären gesucht, als umgekehrt auf Grund einer viel zu abstrakten Analyse die Menschen konstruiert. Auf diese Weise haben wir uns die Bourgeoisie, d i e Mittelständler, d i e Kleinbürger, d i e Bauern und nicht zuletzt die Proletarier konstruiert... Die Typen wurden immer von neuem ausgearbeitet, die Menschen aber entgingen unserer Erkenntnis ...“ (S. 63).

Auch der Unterschätzung des Nationalgefühls zeihen sich die deutschen sozialdemokratischen Exulanten. Wenn auch einer ihrer Theoretiker sarkastisch meinte, die deutsche Sozialdemokratie habe im Kaiserreich ihren Marxismus durch „Bismarcksismus“ ersetzt, so vertritt doch die Mehrheit aller Stimmen die Meinung Arthur Rosenbergs, die SPD hätte den Kampf gegen Versailles nicht den Rechtsparteien überlassen dürfen. Auch hätte es an einer „klaren Parole“ gegenüber der militärischen Tradition gefehlt, und im Flaggenstreit Schwarzrotgold gegen Schwarzweißrot seien psychologische Fehler geschehen.

Hier hält man ein und wird sich klar, auf die Wurzeln der sozialdemokratischen Politik in der deutschen Bundesrepublik gestoßen zu sein. Der betont nationale Kurs Schumachers und seiner Erben, der im Gegensatz zu der Haltung der Sozialdemokratie in der Republik von Weimar steht und der in der vergangenen Wahlkampagne einen Gegner der SPD ein Pamphlet, nicht ganz zu Unrecht unter dem Titel N-SPD, veröffentlichen ließ, ist bekannt. Trotzdem hat es sich am 6. September gezeigt, daß die Lehren von 1933 nicht ohne weiteres im Jahre 1953 Erfolg versprechen müssen. Die Geschichte hat doch inzwischen mehr als einen Schritt weiter gemacht ...

Durchleuchtung des Nationalsozialismus ist natürlich auch ein Unternehmen, dem man sich mit Feuereifer widmet. Von allen Theorien, die vertreten werden, ist die Georg D e c k e r s vom „Aufstand der Gescheiterten“ wohl die eigenwilligste und originellste.

Ein wertvolles Kapitel spiegelt der Kampf der sudetendeutschen Sozialdemokratie, der

sich vor den Augen der erschütterten reichs-deutschen Genossen abspielte. Bis zu seinem bitteren Ende. Plastisch tritt uns die unpathetische Gestalt Wenzel J a k s c h s und seiner Partei, in der, wie Matthias ausdrücklich betont, „die altösterreichische sozialistische Tradition... am lebendigsten fortwirkte“, entgegen. Ihr tragischer Kampf, nicht nur gegen den entfesselten Nationalismus in den Sudetenländern, sondern auch gegen eine verständnislose Prager Bürokratie, kann ein Nachhutgefecht des alten Vielvölkerstaates genannt werden. Das letzte. Wenzel Jakschs Reden aber haben dokumentarischen Wert. So, wenn er in der Stunde vor der Entscheidung seine Landsleute beschwört: „Gleichberechtigung durch Frieden oder Untergang durch Krieg.“ Und als die Würfel gefallen waren:

„Was uns vorschwebte, war eine europäische Einigung auf der Basis der Gleichberechtigung und Zusammenarbeit aller Völker. Den uralten Zwiespalt zwischen Deutschen und Slawen wollten wir wenigstens auf dem Boden unseres Landes überwinden. Der Versuch ist gescheitert, die Aufgabe bleibt.“

Neben diesen Blättern, auf denen ein Ehrenkapitel des Sozialismus festgehalten ist, Dokumente einer ebenso standhaften Haltung und einer weiträumigen, zukunftweisenden Politik, gibt es aber auch dunkle Seiten, über die hinwegzublättern auch heute nicht statthaft ist: sie berichten von der Aktivität jener ( sozialistischen Kreise und Gruppen, die in der Emigration Ideen vertraten, welche, um mit dem Autor zu sprechen, „eine unverkennbare Annäherung an kommunistische Gedankengänge“ (S. 32) darstellen. Zeilen wie jene in den „RS-Briefen“ (September-Oktober 1936) nehmen direkt die Loyalitätserklärung eines Nenni, Fierlinger oder Obsubka-Morawski vorweg:

„Alle Gruppen, mit Ausnahme der SOPADE, anerkennen das größte Faktum der modernen Revolutionsgeschichte, das sich in der Schaffung des Arbeiter- und Bauernstaates Sowjetrußland manifestiert; sie lernen dauernd aus der Geschichte der russischen Revolution und betrachten den großen Bruderstaat im Osten als den Orientierungspunkt der gesamten sozialistischen Entwicklung. Was auch geschehen mag... immer wird in der europäischen Revolution ... die Erhaltung der proletarischen Herrschaft auf einem Sechstel der Erde, in dem entwicklungsreichsten Lande der Erde, die Hauptrichtschnur bilden ...“

„Diktatur des Proletariats“ und „Einheitsfront“ sind alltägliche Vokabel in jenen Krei-

sen. Bedeutungslose Randerscheinungen? Das wäre doch etwas verharmlost. War doch „der prominenteste Vertreter des Gedankens der ,Einheitsfront' und der engen Zusammenarbeit mit Sowjetrußland... der Führer der österreichischen Sozialisten, Otto Bauer, der auf die linkssozialistischen Gruppen innerhalb der reichsdeutschen Emigration starken Einfluß ausübte“ (S. 199).

Gerade, weil in den Spalten dieses Blattes die vulgär-antimarxistische Gleichung Sozialisten = Halbkommunisten nie aufgestellt wurde, darf doch aus gegebenem Anlaß und bei voller Berücksichtigung der veränderten Zeiten und Verhältnisse an die sozialistische Adresse eine Aufforderung gerichtet werden: Etwas weniger Selbstgerechtigkeit, wenn das Thema Demokratie, Parlamentarismus und Freiheit auf der Tagesordnung steht. Die totalitäre Woge der dreißiger Jahre erfaßte eben nicht unbeträchtliche Teile aller politischen Parteien und Weltanschauungen. Möge die unter schweren Opfern seither errungene Einsicht ihre Wiederkehr für alle Zeiten verhindern ...

Und noch ein Blick in dieses „dunkle Kapitel“. Wieder werden die österreichischen Sozialisten gebeten, nicht wegzuhören! Es gab nämlich auch eine Zeit, in der sich keine österreichischen Sozialisten zu Wort meldeten. Damals, als die „Sozialistische Aktion“ (März 1938!) zum Kampf für „das sozialistische Großdeutschland unter den vereinigten Staaten von Europa und der Welt“ aufforderte, und auch noch später, als Karl Czernetz — man schrieb immerhin schon April 1942 — in der englischen Zeitschrift „Left“ die Weltöffentlichkeit, die sich Oesterreichs wieder zu erinnern begann, aufklärte, das österreichische Volk sei nicht „patriotisch“ in dem politischen Sinn des Wortes (S. 279):

„Austrian patriotism is irretrievable connected

with reactionary Austrian traditions While

Catholics peasants and petty-bourgeois may perhaps be manifesting a certain Austrian patroism by this anti-Prussian attitude ... Austrian workers unanimously wish to live in a Germany liberated from Hitler.“ („Oesterreichischer Patriotismus ist unweigerlich verbunden mit den reaktionären österreichischen Traditionenwährend die katholische Landbevölkerung und die Kleinbürger vielleicht einen gewissen österreichischen Patriotismus durch diese antipreußische Haltung äußern ... möchten die österreichischen Arbeiter ohne Ausnahme in einem von Hitler befreiten Deutschland leben.“)

In der „Zukunft“ 1946 bis 1953 liest man es anders. Nicht zuletzt aus der Feder — eben Karl Czernetz' ...

Warum auch diese Zeilen aus“ dem Dunkel der Vergangenheit herausgehoben wurden? Auf keinen Fall, um dem garstigen Zeigefingerspiel in der politischen Arena „Du bist schuld, nein, du...“ frische Impulse zu. geben. Vielmehr, um das Bewußtsein zu stärken, daß jeder, aber auch wirklich jeder, in Oesterreich sich des Balkens im eigenen Auge erinnern soll, bevor er selbstgefällig auf den Bruder zeigt. Bei Gulick, Hannak und in der gesamten sozialischen Geschichtsschreibung in Oesterreich wurde es jedenfalls bis jetzt anders gehalten.

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