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Der Umsturz 1918 in Österreich-Ungarn

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Revolutionen brechen nicht in der Masse des Volkes aus. Sie werden, unter erheblichem Aufwand gemacht. Meistens von Ausbrechern amtierender Eliten, die sich zu neuen, selbstausgewählten Eliten zusammenschließen : Adelige und Geistliche, Intellektuelle und Offiziere. Die Ultima ratio der Revolution ist immer die Waffe.

Nie hätten in Paris die Ideen der Revolution von 1789 gesiegt, hätten sich nicht in der Spätkrise des Königtums, 1792, die regulären Linienregimenter mit den revolutionären „Garden“ solidarisiert. Keine noch so gekonnt ausgeführte Tendenzmalerei Eugene Delacroix' kann darüber hinwegtäuschen, daß nicht ein strahlendes Heldentum von Bürgern, Arbeitern und Studenten die Julirevolution 1830 in Paris entschied, sondern die „Unverläßlich-keit der Truppen“ des Königs. Auch im Februar 1848 brachten zwei königliche Linienregimenter, die in der Krise des Barrikadenkampfs zu den Aufständischen übergingen, den Umschwung. Die von Sergej Eisenstein gedrehten Filme vom angeblichen Sieg des Kollektivs der Massen in der „Großen Oktoberrevolution“ der Bolschewiken im Rußland von 1917 illustrieren revolutionäres Pathos, aber keine geschichtliche Wahrheit. Nicht die „Erstürmung“ des Sitzes der Kerensky-Regierung (Kerensky selbst war schon ausgerissen) entschied den Kampf; dieser war vielmehr entschieden, als Truppenverbände, mit denen Kerensky kurz zuvor noch einen Putschversuch der Bolschewiken niedergeschlagen hatte, sich nachher den Bolschewiken anschlössen.

Um mit dieser Aufzählung rascher zum Schluß zu kommen: Auch in unserer Zeit sind es linksgedrallte „Obristen“, die mit den Waffen der von ihnen geführten regulären Truppen den Putschen linksradikaler Minoritäten zur Macht im Staat verhelfen. Man nennt das Portugali-sieren.

Im Österreich-Ungarn haben am Schluß der entscheidenden Wende 1917/18 nicht Sozialdemokraten oder nicht Linksliberale oder Nationalisten den Untergang Österreich-Ungarns erzwungen, sondern Militärs in Feldgrau. Die Katastrophe entstand an der „Inneren Front“, nicht im Feld. Zu diesem Thema liefern R. G. Plaschka, H. Haselsteiner und A. Suppan die Ergebnisse der von ihnen gemachten bisher wohl gründlichsten und umfassendsten Detailuntersuchungen und Gesamtdarstellungen über „Militärassistenz, Widerstand und Umsturz in der Donaumonarchie 1918“.

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In einer Zeit, in der ein vorwiegend aus parteipolitischen Absichten geführter Kampf gegen die „Ordinarienuniversitäten“ geführt wird und Interessenkollisionen zwischen Hochschulprofessoren und -assistenten zwecks „Umfunktionie-rung“ der Universitäten geschürt werden, legen die drei genannten Autoren ein großangelegtes wissenschaftliches Werk vor, von dem sie im Vorwort (Band I, S. 16) sagen, es sei „aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis gewachsen“ und Ergebnis „gemeinsamer Arbeit an der Universität“. Die beiden Assistenten Haselsteiner und Suppan sowie ihr Institutsvorstand Plaschka haben daher nicht mit dem Zollstock nachgemessen und danach aufgezeigt, welche Passagen vom Lehrer stammen und welche von seinen Assistenten. Hier war kein „Kollektiv“ am Werk, um zum Beispiel an die Originalquellen in deutscher, tschechischer, serbokroatischer, ungarischer und polnischer Sprache heranzukommen; Sprachen, die die Autoren nicht in Schulen bezogen haben, sondern aus dem Vielvölker-reich ihrer Elterngeneration. Nicht zuletzt war dem Werk die Aura günstig, die im Umkreis des vor fast 20 Jahren gegründeten österreichischen Ost- und Südostinstituts in Wien entstanden ist. Ohne die Zurverfügungstellung eines unerläßlichen Quellenmaterials, das in den

heute kommunistischen Nachfolgestaaten der Monarchie deponiert ist, und ohne die Mitarbeit von Wissenschaftlern dieser Länder wäre das Ganze nicht mehr geworden als ein auf das Restösterreich radizierter Torso.

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Die Autoren wägen nicht theoreti-sierend und voreilig ab, welche denn die „eigentliche“ Resultante aus dem Polygon der Umsturzkräfte des Jahres 1918 gewesen ist, der der Siegesruhm gebührt. Zu lange hat man glorifizierende Darstellungen gemäß dem Historizismus der Engagierten der nationalen oder sozialen Revolution von damals als „geschichtliche Wahrheiten“ hingenommen. Die Autoren betreiben kein Fact-finding zum Beweis vorgefaßter Meinungen; sie stellen vielmehr an die Urteilskraft des Lesers bis zuletzt erheb-

liehe Ansprüche, drängen ihm ihren Schlußsatz nicht auf. Indem die Autoren das „Ein- und Übexgreifen der bewaffneten Macht in die Zone der Staatsgewalt“ aufzeigen, demonstrieren sie das klassische Modell des „Aufmarsches des Militärs in Richtung Politik“ (Band I, S. 16). Mit anderen Worten: Da/} Werk hat unter den momentan Veränderungen im allgemein* Äustand des Politischen, die in aller Welt stattfinden, eine aktuelle Bedeutung für das Wissen derer, die jetzt in den Zonen weltpolitischer Entscheidungen existieren oder dort zum Mitentscheiden berufen sind oder wären.

Mit bisherigen Mythen vom Ausbruch und vom Sieg nationaler und sozialer Revolutionen, wie solche seit 1918 gängig sind, räumt das Werk auf. Es bestätigt die Tatsache, daß außerhalb der Stabsquartiere „der Herren von morgen“, in den Massen der fast 53 Millionen Einwohner der Monarchie, bis zum Frühsommer 1918 überhaupt noch keine Vorstellung von jenem Umsturz bestand, der dann im Herbst 1918 Europa bis auf den Grund erschüttert hat und Ursache der Katastrophe von 1945 ist. Weder das emsige Mühen tschechischer Emigrantenpolitiker, noch die zusammen mit Heimkehrern aus russischer Kriegsgefangenschaft eingeschleusten bolschewikischen Agitatoren, noch die mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker vorsichtig manövrierenden Nationalisten waren von sich aus imstande, auch nur ein Image ihrer „Ordnung“ nach dem von ihnen erhofften Ende der Monarchie jenen Massen plausibel zu machen, die nur eines wollten: Ende des Krieges und der Hungersnot.

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Das Werk wählt als Ausgangslage der Darstellung die Situation im Jännerstreik 1918. Dieser Streik hatte allerdings zunächst einen verstärkten Rückgriff der Staatsgewalt auf Truppenverbände des Hinterlandes zur Felge, selbst auf solche, die für den Endkampf an der Front bestimmt waren. Die Matrosenrevolte im Kriegshafen von Cattaro (jetzt Stützpunkt der Sowjetmarine) wird mit neuem Material illustriert. Es bestätigt sich, was Plaschka bereits 1963 erkundet hat („Cattaro und

Prag“, Wien 1963). Daß nämlich die meuternden Matrosen weder in politisch noch in militärisch maßgebenden Kreisen der Monarchie genug Rückhalt besaßen, um mit einiger Aussicht auf Erfolg ihren Kampf durchzustehen.

Jännerstreik und Matrosenrevolte 1918 hatten, wie die Autoren im II. Band ausführen, nur eine vielfältige Aktivierung militärischer Möglichkeiten zur Folge: Bereitstellung ausgesuchter Assistenzverbände und Feldtruppenteile an der „Inneren Front“; „Militarisierung in Industrie und Verkehr“; Verschärfung des Requisitionssystems in der Landwirtschaft; und — nicht zuletzt — die „ideologische Entlastungsoffensive“ seitens der Armeeführung.

Bei der ausführlichen Darstellung der Ereignisse in den Aktionsherden der „großen Empörungen“ in Judenburg, Murau, Radkersburg, Rumburg, Pees und Kragujevac wird bei aller Detailschilderung die Sprache der ungeheuren Dramatik und Tragik dieser Geschehen gerecht; ohne geschichtliche Wahrheiten dem Pathos zu opfern (Band II, S. 251 ff.). In diesem Zusammenhang fällt eine Tatsache auf:

Es meuterten in den genannten Städten vielfach nicht Angehörige von Einheiten, deren Ergänzungsbezirke in industriellen Ballungsräumen mit vorwiegend sozialdemokratisch organisierter Arbeiterschaft lagen. In Judenburg waren es Slowenen, die bewaffneten Widerstand leisteten, ebenso in Murau und in Radkersburg. Die Meuterer von Kragujevac waren Slowaken. Da und dort fand man bei den Meuterern Parteizeitungen ihrer Heimat. In Slowenien hatte Dr. Anton Korosec, später jugoslawischer Ministerpräsident, seine kämpferischen slowenischen Landsleute mittels seiner katholischen Volkspartei fest in der Hand. (So auch das Zeugnis von Friedrich Funder.) In der Slowakei war der Pfarrer von Rosenberg, Andreas Hlinka, womöglich noch erfolgreicher. Zu wenig ist bisher die Tatsache erhellt worden, daß in der Spätkrise der Monarchie oft Führer katholischer Volksparteien mit ihrem Abschwenken von der Monarchie den Ausschlag gaben. Die diesbezügliche Rolle der Christlichsozialen in Tirol, Oberösterreich und zuletzt auch in Wien ist bereits hinlänglich klargestellt. Aber auch in Prag war es am Tag der Ausrufung der CSR ein Geistlicher — Dr. Isidor Zahrad-nik —, der als erster vom Denkmal des heiligen Herzogs Wenzel herab die erste Rede gegen die „unmoralischen Habsburger“, gegen Österreich und die Monarchie hielt und, wie gelernt, die Massen anfeuerte.

Das vorliegende Werk bestätigt keine der bisherigen Vereinfachungen, wonach es bald die Tschechen oder die Ungarn, bald die Deutschnationalen oder die Pfaffen des „katholischen Österreich“ gewesen sein sollen, die der Monarchie den Fanghieb gaben.

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In dem Kapitel „Die Schuld fällt in erster Linie auf die Offiziere“ (Band I, S. 406) wird mehr deutlich als der vergebliche Versuch höherer Kommanden, die um sich greifenden Meutereien einfach den Subalternoffizieren in die Schuhe zu schieben. Je mehr sich angesichts der Meutereien und Unruhen sowohl hohe Militärs als auch einflußreiche Politiker von Ursachen, die bei ihnen zu suchen waren, zu distanzieren versuchten, desto mehr kam es zur fatalen Kapitulation der Politik vor der „Gewalt der Tatsachen“. An dieser Kapitulation sind 1918 sowohl das Deutsche Reich als auch Österreich-Ungarn schließlich zugrunde gegangen.

Die in dem zitierten Maße unhaltbare Beschuldigung der Subalternoffiziere bedeutete in Wahrheit nicht weniger, als daß fortan der erwähnte „Aufmarsch des Militärs in Richtung Politik“ stattfand. Die Bereitstellung zu diesem letzten Aufmarsch organisierten allerdings nicht mehr die höheren Komman-

den, sondern — wie in jeder Revolution — Hauptleute und Oberleutnants. Vielfach waren es keine bloßen „Hinterlandstachinierer“, jüdische Militärärzte oder Verpflegungsoffiziere, kurz das, was man „die Etappe, diese große Hure“, nennt, sondern: hochdekorierte Frontoffiziere, denen nach dem Mißbrauch ihres Idealismus das „große Kotzen“ kam und die, solange Standgerichte und Erschießungspelotons funktionierten, Kopf und Kragen riskierten. Zusammenfassend gesagt: Kleine, selbstausgewählte Eliten brachen im Herbst 1918 aus der traditionellen Ordnung des kaiserlichen Heeres aus. Mit generalstabsmäßiger Gründlichkeit bereiteten sie vor, was im Sommer 1913 Unteroffiziere und Mannschaftschargen in Judenburg, Murau usw. improvisierten.

Im Finale des II. Bandes wird sichtbar, wie bei den Umsturzereignissen in Prag, Agram, Laibach, Budapest, Krakau und Lemberg bisherige Assistenzverbände, die kurz zuvor noch Umsturzversuche und Meutereien mit Waffengewalt niedergeschlagen hatten, nunmehr harter Kern der Demonstrationszüge wurden und den Umsturz unaufhaltsam machten. Im Bilderteil wird das im Fall Prag besonders deutlich illustriert: Noch am 14. Oktober 1918 halten Assistenzverbände die Zentren der Stadt gegen einen Linksputsch; zwei Wochen später, am 28. Oktober 1918, führen frühere kaiserlicher Offiziere und von ihnen kommandierte Verbände die Massen an, die kampflos durchs Ziel der Umsturzbewegung marschieren. Max Brod, Prager Jude und Sozialist, hat dieses Finale in seinem 1949 erschienenen Roman über den ersten jüdisch-arabischen Krieg eindrucksvoll beschrieben: „Wie nobel ist das alte Österreich abgetreten, hatte in voller Ordnung den revolutionären Tschechen Amtslokale, Eisenbahnen, Institute, alles unversehrt zur Verfügung gestellt, so daß die neuen Herren in aller Bequemlichkeit nur in die fertige Wohnung einzuziehen brauchten.“

Solche Noblesse lieben die Revolutionäre. 1975 ebenso wie 1918.

I

Mit diesem Werk haben Enkel der Handelnden und Tatzeugen von 1918 sine ira et studio wahrheitsgemäß aufgezeigt, was ihre Väter nach 1918 einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollten und was den letzten Überlebenden des alten Österreich immer noch ans Herz greift. Indem die Jungen alte Illusionen zerstörten, sind sie aber nicht

unverständlich grausam gegenüber Vätern und Vorvätern. Sie dienen der Wahrheit. Einer Wahrheit, die uns unter anderem lehrt, daß Geschichte immer auch Gegenwart ist. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob die Jungen von heute diese Wahrheit hinter den kaleidoskopartig wechselnden Televisionen erkennen werden. Ob sie daraus lernen wollen oder überhaupt noch können.

Der Österreicher, der dieses Werk über den Endkampf an der „Inneren Front“ Altösterreichs aus der Hand legt, besinnt sich und erinnert sich, was damals an der äußeren Front des Reiches geschah. Während all das sich ereignete, was in dem Werk auf 840 Seiten geschildert und anar lysiert wird, konnten k. u. k. Truppen zwischen dem 24. und 29. Oktober 1918 im Grappagebirge noch immer einen vollen Abwehrerfolg gegen italienische Verbände und deren alliierte Korsettstangen erringen. Nach der staatlichen Gründung der CSR, die schon im Sommer 1918 als kriegsführende Macht unter den Ententemächten anerkannt worden war, haben Kompanien des Prager Hausregiments Numero 28 und Mährer des IR 8 neben niederösterreichischen 49ern aus St. Pölten ihren Einsatz geleistet. An der Piave, inmitten des unaufhaltsamen Heimwärtsdrängens der Ungarn konnten französische Truppen einen Sperrriegel des Honved noch immer nicht brechen. An der Westfront, an der windigen Ecke des St. Mihielbogens, deckte ein österreichisches Regiment, rekrutiert aus Ungarn und Slowaken, den Rückzug deutscher Verbände. Ein gewisser Popelka, k. u. k. Oberst, eingesetzt im Kampf der Germanen gegen die Slaven, erhielt damals als letzter Österreicher den Pour-le-merite-Orden. Auch dieses Geschehen gehört zum Herbst 1918.

Es wird vieler Werke von der Qualität des vorliegenden bedürfen, um die Geschichte der Spätkrise Österreich-Ungarns von jenem verzerrenden Film zu befreien, den der Historizismus der in der nationalen und sozialen Revolution Engagierten über den Untergang der Ordnungsmacht in der europäischen Mitte gezogen haben. Ein Anfang dazu ist hier gemacht.

INNERE FRONT. Militärassistenz, Widerstand und Umsturz in der Donaumonarchie 1918. Von R. G. Plaschka, H. Haselsteiner, A. Suppan. Wien 1974, 2 Bände (420 und 420 Seiten), illustriert und mit neuem Kartenmaterial.

Es gibt viele Bildbände über Wien. Dieser eine aber erschien mit einem Text von Jörg Mauthe und damit ist eigentlich alles gesagt. Hinzuzufügen wäre, daß Fred Peer mit seinen verblüffenden, erstaulichen, hinreißenden Farbphotos Jörg Mauthes These von der Coincidentia oppositorum, von der Vereinbarkeit des Unvereinbaren, das allenthalben in dieser Stadt stattfindet, mit durchschlagendem Erfolg unter Beweis stellt. Auf Wien trifft nämlich zu, was ein französischer Dichter mit nur teilweiser Berechtigung von der Ile de France behauptet hat: daß nirgendwo eine solche Menge häßlicher Einzelheiten ein derart ästhetisch vollkommenes Ganzes ergebe wie gerade hier. Und deshalb müßte eigentlich jeder, ob einheimisch oder fremd, Hals über Kopf aus Wien fliehen, gäbe es nur einen einzigen anderen Ort auf der Welt, an dem es sich leben ließe. Leben läßt es sich aber (leider!) nur in Wien. Erich Thanner

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