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Der grofe Aufruf der Demokratie

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In der ganzen österreichischen Verfassungsgeschichte gibt es kein zweites Ereignis, das von den Massen unseres schaffenden Volkes mit gleich hoffnungsvollen Erwartungen und heißen Empfindungen aufgenommen worden wäre, wie vor vierzig Jahren das Erscheinen d^s ersten, nach dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht gewählten Parlaments. Das alte Reich, das gemeinsame Haus seit einem halben Jahrtausend für dreizehn Völker, für viele von ihnen noch länger, der Träger der mitteleuropäischen Ordnung, wahrscheinlich des Weltfriedens, hatte in jeder der beiden Reichshälften ein Jahrzehnt aufwühlender Geschehnisse durchstanden Es war fast auseinandergeborsten. In Österreich hatte sich der deutschtschechische Sprachenstreit, nur durch kurze Atempausen unter der Regierung Koerber unterbrochen, zu solcher Hitze entflammt, daß die wichtigsten wirtschaftlichen, sozial-reformerischen und kulturpolitischen Vorsorgen für Volk und Staat in der Gesetzgebung zum Stocken gebracht worden waren. Das Parlament, durchaus nicht bar tüchtiger Kräfte, eine altertümliche Zusammensetzung falsch konstruierter ständischer Vertretungen, städtischer, bäuerlicher Bevölkerung, cJer^HandeJskammern und des adeligen Großgrundbesitzes, seit 1897 ergänzt durch ein kleines Häuflein von Männern der „fünften Kurie“, die aus einem allgemeinen, gleichen Wahlrecht ihre Mandate empfingen, hatte nicht mit einer neuen nationalen Ordnung den inneren Frieden zu schaffen vermocht. Hilflos hatte das Volk das unwürdige Spiel alldeutscher und sonstiger Demagogen mitangesehen, die von der Aufstachelung der nationalen Gegensätze lebten, von der Parlamentstribüne herab Landesverrat trieben, unbekümmert um die Not der Bevölkerung, wachsende Teuerung, die Vergeudung des Staatsvermögens und dringendste Staatsbedürfnisse, namentlich in den schweren Auseinandersetzungen über den Ausgleich mit Ungarn. Sie sollten einmal weggejagt werden, diese professionellen Phrasenmacher nationaler Feuerwehrfeste, djese Zündler des nationalen Hasses, satte Spieler privilegierter Klassen, die vom Streite lebten und nichts von den Schmerzen des Volkes wußten! Nun sollten endlich die zu reden und Gesetze zu machen haben, denen es um Arbeit und Brot für sich und ihre Familien, um die Sicherheit des Staates und der heimatlichen Erwerbsstätte ging! Diese neuen Menschen würden dem üblen Gezanke der Nutznießer des nationalen Streites ein Ende mächen, die Gesetzgebung würde fortan dem Volke und dem Staate dienen.

Das war der große Plan, die Hoffnung, die die Massen aus der Verzweiflung fruchtloser Jahre emporriß. Das war der Sturm für das allgemeine Wahlrecht.

Nun war es endlich errungen worden. In den Maitagen 1907 war das alte von einer Riesenfaust zerschmettert worden. Alle Formen hatten gewechselt. Das Gesicht des neuen Parlaments war ein ganz anderes. Die politischen Gebilde des liberalen Bürgertums, längst von der Zeit in ihrem Denken und Handeln überholt, nur noch am Leben erhalten durch ein fcng begrenztes Wahlrecht, waren ebenso verschwunden wie die staatsfeindliche Gesellschaft Schönerers. Die beiden kleinen Parteien, die die größte Last und Hitze in dem Kampf um das allgemeine gleich? Wahlrecht seit mehr als zehn lahren getragen hatten, die christlichsoziale Doktor Luegers und die Zehn-Mann-Gruppe Doktor Viktor Adlers, waren als die größten des neuen Volkshauses wiedergekehrt: nach dem Anschluß der Katholisch-Konservativen der deutschen Alpenländer sah Dr. Lueger 96 Abgeordnete unter seiner Führung versammelt; die Zahl der 82 sozialdemokratischen Abgeordneten ließ ebenso das wahre Gesicht und die zur Lösung gestellten großen Probleme erkennen. 57 Prozent aller nichtsozialistischen deutschen Stimmen waren den Christlichsozialen zugefallen. — Die Veränderungen in der Vertretung der anderen Nationen waren ebenso tiefgehend; sowohl bei den Polen wie bei den Italienern und Slowenen hatte sich, belebt durch das Beispiel der deutschen Christlichsozialen, christlichsoziale Programmatik in der Parteienbildung durchgesetzt. So stark war damals die Macht des völkerversöhnenden christlichsozialen Gedankens, daß die sogenannte Stojalowski-Gruppe gewählter polnischer Abgeordneten sich nun um einen Anschluß an die deutsche christlichsoziale Partei Luegers bewarb.

Die Ära parlamentarischer Demokratie war angebrochen. Sie war in einem schweren Ringen erkämpft worden, in dem die Regierungen Gautsch und Hohenlohe-Schillingsfürst untergingen, bevor Max Wladimir von Beck im Jänner 1907 das abgeschlossene Gesetzeswerk dem Kaiser zur Unterschrift vorlegen konnte. Es wird heute darum ge-wörtelt, wem das Hauptverdienst zufällt, daß 1907 das Tor der österreichischen Demokratie weit aufgesprengt wurde. Unstreitig: die damalige christlichsoziale Partei, diese vor allem als die damalige politische Führerin der Reichshauptstadt und großer Volksmassen in ganz Österreich unter einem Volksmann von der hinreißenden Persönlichkeit Dr. Lucgers, und neben ihr die Sozialdemokratie, deren Arbeiterkolonnen Macht und Willen der von der politischen Geltung fast ausgeschlossenen Massen auf der Ringstraße überzeugend vorführten, hatten ein sehr großes Verdienst an jener historischen Wandlung. Doch damit ist noch nicht alles gesagt. Hier spielt eine jener seltsamen Begebenheiten herein, du- zuweilen sehr deutlich daran erinnern, daß der geschichtliche Ablauf nicht nach deterministi-sen Normen sich vollzieht, sondern bestimmt wird von psychologischen Unwäg-barkeiten die sich der Berechnung entziehen. Kaiser Franz Joseph war die Verkörperung unnahbarer, Ehrfurcht vor dem Bestehenden und dem erworbenen Rechte gebietender Tradition. Man konnte ihn an der Grenze des 20. Jahrhunderts als das vornehmste Abbild einer zu Grabe gegangenen Geschlechterreihe halten. Also für einen, der für eine große umstürzende Neuerung keinen Sinn haben konnte. Und dennoch war es gerade Kaiser Franz Joseph, dem eine unparteiische Geschichtsschreibung das Werk der ersten großen Demokratisierung des politischen Organismus in Österreich zuschreiben muß. Nur er war imstande, mit dem Einsatz seiner kaiserlichen Autorität den Widerstand seiner hochadeligen Granden, der liberalen Hochbürokratie zu brechen, das Scheitern zweier Regierungen hielt ihn in der Verfolgung seines Vorsatzes nicht auf. Und nur er vermochte in den entscheidenden Momenten das Verfassungswerk über die Klippen nationaler und politischer Gegensätze durch seine persönliche Intervention hinwegzu-retten.

Es war eine vielsagende respektvolle Geste, als Dr. Viktor Adler, also doch der Führer einer republikanischen Partei, mit dem neugewählten Vorstand der sozialdemokratischen Vereinigung zur kaiserlichen Thronrede bei der feierlichen Eröffnung des neugewählten Parlaments in der Hofburg erschien. Man kann die damalige vielbesprochene Haltung des erfahrenen sozialdemokratischen Strategen als Bestätigung des Urteils auffassen, das Josef Maria Baernreither, der gewesene Minister und einer der feingebildetsten Männer der vorausgegangenen Aera, sehr mit Vorbehalten gegenüber der Wahlreform eingestellt, aber einer, der den Kaiser aus der Nähe kannte, über ihn in seinen „Fragmenten eines politischen Tagebuches“ schreibt:

„Das allgemeine Stimmrecht ist nur durch das Festhalten des Kaisers an diesem Gedanken zustande gekommen. Gautsch, Hohenlohe, Beck waren nur Werkzeuge, und wenn es auch vielleicht Momente gegeben hat, in denen der Kaiser schwankend wurde, so hat doch er persönlich das Schicksal der Wahlreformentschiede n.“

Baernreither glaubt, daß schon Schäffle und Steinbach diese Reformgedanken in dem Herrscher geweckt hatten. Noch neun Jahre vor Baernreither urteilte in ähnlichem Sinne der große Historiker Josef Redlich in seiner Biographie Kaiser Franz Josephs über den Anteil des Kaisers an dem Reformwerk:

„...Der Kaiser war es, der die Bureaukratie auf den Weg der Demokratie wies, ja, diesen zu gehen sie nötigte. Denn ein zweites ist nicht minder sicher: Franz Joseph blieb bei diesem Entschluß, unbeirrt durch den Widerstand, den seit dem Beginn der Durchführung der großen Reform die meisten seiner alten Staatsmänner sowohl aus den Kreisen der hohen Bureaukratie als auch aus denen des Adels ihm entgegensetzten.“

Es ist denkwürdig, daß hier Demokratie entscheidend Ton oben herab gemacht wurde, nicht aui Laune oder Theorie, sondern weil der Monarch die Mobilisierung der Volks-kräfte als die beste Gewähr für den Schutt des Reiches erachtete. Es ging ja nicht nur nm das Auslöschen der gefährlichen Brände, die nationaler Chauvinismus in Österreich angezündet hatte, sondern wenige Monate zuvor schon ebenso um die Bewahrung der Einheit des Reiches gegen die rerstörenden Kräfte, die der Kossuthismus ausstrahlte, seit in den Jännerwahlen 1905 Stefan Tisza und seine herrschende liberale Partei schwer geschlagen worden und die kossuthistischen Träume von dem im Universum souverän herumschwirrenden ungarischen Globus sich bis zur Forderung der magyarischen Armee- und Dienstsprache bei allen in Ungarn rekrutierten Regimentern verstiegen hatten. Mehr als die Hälfte aller ungarischen Soldaten waren Nichtmagyaren, die Absicht, die Armee zu Magyarisierungs-zwecken zu mißbrauchen, war deutlich. Gegen diese Forderungen, die einen Bruch der Bedingungen des 1867er Ausgleichs bedeuteten, setzte der Monarch durch die . Regierung Fejervary-Kristpffy den Reformplan des allgemeinen, gleichen Wahlrechts ein, der im Juli 1906 veröffentlicht wurde. Vor dieser Aussicht gab die chauvinistische Parlamentsmehrheit ihren Feldzug verloren und kapitulierte unter dem Ministerpräsidenten Wekerle mit dem Versprechen, die Wahlreform unter gewissen nationalen Voraussetzungen in Angriff zu nehmen. Das gegebene Wort ist nie eingelöst worden, aber immer wieder bis zum Beginn des ersten Weltkrieges ist mit dem Gemahnen daran der magyarische Chauvinsmus in Schach gehalten worden. Sein stärkster Gegenspieler hinter der Szene wac* der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand. In dem Kampfe um das allgemeine Wahlrecht stand er, ein Tory seinen politischen Neigungen nach, bittend und drängend an der Seite des alten Kaisers. Es ist eine denkwürdige Stelle österreichischer Geschichte, daß am Lebensrande einer so konservativen Macht, wie es die Habsburgermonarchie war, zwei Habsburger standen, die der Demokratie die breite Bresche schlugen.

Hatten sie unrecht, weil die ersten Parlamente des allgemeinen Wahlrechts nicht alle Hoffnungen erfüllten? Demokratie ist Name, Titel grundsätzlicher Einrichtung. Leben gewinnt sie erst durch ihre Sinnerfüllung, Erziehung und sittlichen Willen zu ihrer Wahrheit. Das ist auch heute noch zu allem Gerede über Demokratie zu sagen.

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