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Europas Sdiädelgrundbruch

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50 Jahre sind seit dem Abschluß des Vertrages von St-Germain vergangen, und allzu viele haben vergessen, welch ein Unglücksdatum in der europäischen Geschichte jener Vertrag vom 10. September 1919 bedeutet. Sicherlich, Europa hat sich in den vergangenen fünf Dekaden so grundlegend verändert, daß uns die Pariser Vororteverträge von 1919 und 1920, die von den Siegermächten mit den besiegten Staaten Deutschland, Österreich und Ungarn abgeschlossen wurden, wie ein fernes, uns kaum mehr berührendes historisches Geschehen anmuten. Ist doch der Staat Österreich, der nach dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie als Europas Lazarus dastand, dem fast niemand echte Uberlebenschancen einräumte, und den die Entente- Mächte aus dem Rest des habsburgischen Länderkomplexes nur deshalb schufen, um Deutschland durch den Anschluß der deutschen Gebiete nicht zu stark aus dem verlorenen Krieg hervorgehen zu lassen, nun Traumland jener Völker geworden, deren einstige Führer entscheidend dazu beigetragen haben, daß die habsburgische Staatsschöpfung zertrümmert wurde. So geht die Geschichte ihre eigenen Wege, gleichsam spottend jener politischen Schöpfungen von Menschen, die sich von Haß und nationalen Leidenschaften leiten lassen und mit Blindheit für geschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungen geschlagen sind.

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50 Jahre sind seit dem Abschluß des Vertrages von St-Germain vergangen, und allzu viele haben vergessen, welch ein Unglücksdatum in der europäischen Geschichte jener Vertrag vom 10. September 1919 bedeutet. Sicherlich, Europa hat sich in den vergangenen fünf Dekaden so grundlegend verändert, daß uns die Pariser Vororteverträge von 1919 und 1920, die von den Siegermächten mit den besiegten Staaten Deutschland, Österreich und Ungarn abgeschlossen wurden, wie ein fernes, uns kaum mehr berührendes historisches Geschehen anmuten. Ist doch der Staat Österreich, der nach dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie als Europas Lazarus dastand, dem fast niemand echte Uberlebenschancen einräumte, und den die Entente- Mächte aus dem Rest des habsburgischen Länderkomplexes nur deshalb schufen, um Deutschland durch den Anschluß der deutschen Gebiete nicht zu stark aus dem verlorenen Krieg hervorgehen zu lassen, nun Traumland jener Völker geworden, deren einstige Führer entscheidend dazu beigetragen haben, daß die habsburgische Staatsschöpfung zertrümmert wurde. So geht die Geschichte ihre eigenen Wege, gleichsam spottend jener politischen Schöpfungen von Menschen, die sich von Haß und nationalen Leidenschaften leiten lassen und mit Blindheit für geschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungen geschlagen sind.

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„Lasciate ogni speranza”, mit diesen Worten aus Dantes „Divina Commedia”, beschrieb Dr. Karl Renner, der Leiter der österreichischen Friedensdelegation in St-Germain en Laye, die Stimmung, in der sich die Herren der österreichischen Delegation befanden. Als führendes Mitglied der sozialdemokratischen Partei Österreichs teilte Renner dank seinem stark ausgebildeten pragmatischen Denken nicht ganz die Auffassung seiner Partei, daß der Zusammenbruch der Monarchie das Morgenrot eines schöneren, helleren Jahrhunderts wäre, doch der Glaube, daß der Sieg der westlichen Demokratien auch einen Sieg der Humanität darstellte, beseelte zweifellos auch ihn. In St-Germain allerdings geriet dieser Glaube ins Wanken. Fast beschämt berichtet er in einem Brief vom 18. Mai 1919 an den Staatssekretär des Äußeren, Dr. Otto Bauer, von seiner menschlichen Enttäuschung über die Franzosen, die letztlich auch eine politische Enttäuschung ist:

„Ich halbe dem Kommandanten gegenüber einen Fehler begangen, indem ich ihm beim Danken die Hand bot. Die Offiziere weisen unsere Hand zurück!”

So war also die Haltung, die damals viele Franzosen den Österreichern gegenüber einnahmen, jene Franzosen, die unter keinen Umständen zulassen wollten, daß Österreich vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, das der amerikanische Präsident Wilson als die große Zauberformel für die Lösung aller Probleme proklamiert hatte, Gebrauch mache. Um dieses Ziel zu erreichen und den Österreichern ihren neuen Staat liebenswert zu machen, zerrissen sie nicht nur den habsburgischen Länderkomplex, sondern auch dessen Wirtschaft, nahmen dem neu zu bil denden Staat neben anderen Gebieten auch noch Südtirol als sein schönstes Land und ließen von den Tschechen mit tödlichen Gewehrsalven den Bewohnern von Deutschböhmen und dem Sudetenland das Verlangen austreilben, sich zu Österreich zu bekennen.

Die neuen Beschützer Mitteleuropas

Diese deutschsprachigen Österreicher in Böhmen und im Sudetenland nämlich benötigte wiederum die neu- gegründete tschechoslowakische Republik, damit sie mit ihren sechs Nationen eine Art Erbe der Donaumonarchie bilden konnte, in der die Tschechen den Ton angaben. Dieser neue Staat aber war nicht bereit, seinen fremden Nationen gegenüber so weit zu gehen wie der letzte Monarch Österreich-Ungams, Kaiser Karl, der immerhin, wenn auch viel zu spät, in dem Manifest vom 16. Oktober 1918 seinen Völkern versprach, eine Umwandlung des Vielvölkerreiches in einen Bund freier Völker vorzunehmen.

Diese neue tschechoslowakische Republik sollte zudem als Haupterbe der Monarchie auch noch große europäische Verteidigungsaufgaben übernehmen: Nämlich einen Wall zu bilden, nicht nur gegen deutsche Revanche- und Machtgelüste, sondern auch gegen den Bolschewismus. Ehe aber noch die Friedensverträge in Paris ausgehandelt waren, ging die neue tschechoslowakische Repu blik knapp an einer Katastrophe vorbei, wurden doch ihre militärischen Einheiten von den Truppen der ungarischen Räteregierung bei Miskolc und Salgotarjan vollständig besiegt. Die neuen Beschützer Mitteleuropas vor den Deutschen und Bolschewiken nahmen Reißaus und ließen alles Kriegsmaterial in der Slowakei zurück, wo eine slowakische Räteregierung errichtet wurde. Die Tschechoslowakei kam zwar ohne Schaden davon dank der Handlungsunfähigkeit der Sowjet union und Deutschlands und dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems unter Bėla Kün in Ungarn, doch dais Prestige des neuen Vielvölkerstaates war angeknackt. Allzu großes Vertrauen in die Stärke des tschechoslowakischen Staate durften die Entente-Mächte nicht setzen, wenn die Stunde der Bewährung kommen sollte.

Die heutige Generation kennt keine Ressentiments

Die Erinnerung an diese historischen Ereignisse soll keine Art später Schadenfreude auslösen, weil sich das Volk der Tschechen und Slowaken heute in einer wesentlich unglücklicheren Lage befindet als Österreich. Zunächst haben 50 Jahre viele Ressentiments ausgelöscht, vor allem aber ist eine Generation herangewachsen, die zu jener Zeit keine Bindung und keine Beziehung mehr besitzt. Auch sind die Völker im allgemeinen schuldlos, ihre Führer hetzen sie zumeist ins Unglück. Im ersten Weltkrieg haben tschechoslowakische Soldaten genauso tapfer wie die Soldaten der anderen Völkei für den Habsburger-Staat gekämpft alle zweifellos von der Hoffnung beseelt, daß ihre nationale und politische Lage nach dem Krieg um viele besser sein werde. An die Zerstöruni der Donaumonarchie aber dachter sie nicht. Diese betrieben ihre emigrierten Politiker in Paris, Londoi und Washington, ohne sich je Gedan ken darüber zu machen, daß der Sturz des mitteleuropäischen Kolosses den benachbarten den Weg nach Mitteleuropa frei machen würde. Sicherlich, die österreichisch-ungarische Monarchie hatte ihre großen Fehler und litt an ihren großen Versäumnissen. Sie war lange nicht so schön, wie uns die Legende zu berichten weiß und wie uns die Dichter mit ihren Elegien auf den Tod des alten Österreich verkünden, doch die Monarchie hätte noch die Kraft besessen, schön au werden. In ihrer letzten Kraftprobe scheiterte sie weniger an ihrer inneren Schwäche als am Unverstand ihrer Völker und deren Führer.

Hinzu kam, daß die Sieger des ersten Weltkriegs niichit einmal die Klugheit der Staatsmänner des Wiener Kongresses besaßen. Diese wußten nämlich, daß man nicht ein System durch ein anderes ersetzen kann, wenn dem neuen System jede Chance genommen wird, seine bessere Qualität zu beweisen. Der Wiener Kongreß nahm Frankreich nur die napoleonischen Eroberungen weg, beließ ihm aber seine alten Grenzen, um den Start Ludwigs XVIII. nicht allzu stark zu belasten. Die Entente-Mächte dagegen handelten nicht so klug. Sie nahmen den Besiegten nicht nur Gebiete weg, sondern überhäuften sie mit Auflagen, die über ihre Kräfte gingen, so daß die neuen Republiken und ihre demokratischen Führer für all die Not, die über die Völker herein- brach, zu Unrecht verantwortlich gemacht wurden.

Das Vae victis ist im Grunde die dümmste Formei, nach der Sieger die Zukunft gestalten können. Sie ęetzt sie nämlich in eine dauernde und deshalb miit der Zeit unerträgliche Abwehr- und Wächterstellung. Fügen wir noch hinzu, daß die positiven Seiten der Pariser Vororteverträge wie Minderheitenschutz und Abrüstung nicht realisiert wurden, und daß sich der Völkerbund nicht zu jener übernationalen Instanz entwickelte, die einen gerechten Ausgleich zwischen den divergierenden Interessen der Völker hätte erreichen können, so bleibt als letzte historische Erkenntnis doch nur ein negatives Urteil über die Pariser Vororte- Verträge übrig.

Der Sieg Adolf Hitlers in Deutschland war die Antwort auf Versailles. Der Bürgerkrieg von 1934 und der Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 waren die Antwort auf St-Germain. Das Ende Europas als Weltmacht und das Ende sogar der innerpolitischen Selbstbestimmung für viele europäische Staaten bis ins Herz des Kontinents hinein sind schließlich das Ergebnis.

Der Friede von St-Germain ist fünfzig Jahre alt, aber diese Tatsache ändert nichts an der staatspolitischen Kurzsichtigkeit, von der seine Schöpfer damals geleitet waren. Wir Österreicher allerdings sind mit unserem Schicksal versöhnt, nachdem wir einen Strom von Blut und Leid durchwaten mußten, um uns selbst zu finden. „Der Schädel- grundbruch Europas” aber, wie Werfel den Vertrag von St-Germain nannte, ist nicht einmal erfolgreich operiert worden, geschweige denn verheilt. Wir können nur hoffen, daß die europäische Ohnmacht nicht von Dauer ist.

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