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„Frieden für eine Generation“

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Als nach dem Abschluß des Münchner Abkommens vom 29. September 1938, durch welches weite Gebiete der Tschechoslowakei Hitler-Deutschland übergeben wurden, der damalige britische Premier Chamberlain am Londoner Flugplatz Heston begeistert empfangen wurde, nannte er das Münchner Abkommen „peace for our time“, was so viel bedeuten sollte, wie „der Friede 1st für eine Generation lang gerettet“. Er hätte richtiger sagen sollen: M!it dem Münchner Abkommen beginnt ein neuer Dreißigjähriger Krieg, in dessen Verlauf nicht der Bolschewismus besiegt wird, sondern die Russen weit nach Mitteleuropa hereindringen werden, in dessen Verlauf Millionen und aber Millionen von Menschen ermordet, verwundet und vertrieben werden und in dessen Verlauf eine völlige Umgestaltung Europas sich vollziehen wird.

Das Abkommen von München vom 29. September, das Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritan

nien schlossen, beseitigte ein Diktat durch ein neues. Es beseitigte das Diktat von Versailles und schuf das Diktat von München. Aber Unrecht rächt sich immer, es rächte sich nicht nur das Unrecht von Versailles, sondern auch das Unrecht von München.

Der zweite Weltkrieg schuf in Rußland ein großes Trauma. Die Folge dieses Traumas ist, daß Rußland niemals die Einigung Deutschlands zugeben wird und möge sie auch von kommunistischer Seite versucht werden. Ein geeintes Deutschland mit neuen Revanchegelüsten ist der schreckliche Alptraum der heutigen russischen Politik.

Ein ähnliches Trauma erlitt Frankreich im ersten Weltkrieg. Im 19. Jahrhundert hatten die Deutschen zweimal Paris erobert, im ersten Weltkrieg waren sie knapp vor Paris gekommen. Vier Jahre lang waren weite Teile Frankreichs von den Deutschen besetzt, Hunderttausende von Franzosen fielen in

diesem Krieg. Der Friede von Versailles sollte für immer Frankreichs Sicherheit garantieren. Frankreich verbot den Anschluß Österreichs, es gestattete Deutschland nur eine kleine Armee, es mußte das linke. Rheinufer entmilitarisieren, es suchte Deutschland durch gigantische Reperationskosten wirtschaftlich zu knebeln. Aber das genügte Frankreich nicht. Durch ein Netz von Bündnisverträgen sollte Deutschland in Schach gehalten werden. Verträge mit Großbritannien, Belgien, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien waren die Pfeiler dieses Bündnissystems. Der Völkerbund sollte auf internationaler Ebene den Frieden von Versailles garantieren. Der Pakt von Locarno sollte außerdem noch separat die Ostgrenze Frankreichs sicherstellen.

Das Europa, das Metternich 1815 schuf, hielt immerhin bis 1866, also fast ein halbes Jahrhundert. Das Europa, das Frankreich 1918 schuf, hielt nur 20 Jahre. Es war ein

Europa, in dem die natürlichen nationalen und sozialen Rechte vieler Völker nicht berücksichtigt wurden. Es war ein Europa von theoretischen Konstruktionen. Und dieses Europa konnte keinen Bestand haben. Kaum war dieses neue Europa geschaffen, so verlor schon Frankreich eine Schlacht nach der anderen. Der amerikanische Senat weigerte sich den Frieden von Versailles anzuerkennen. Großbritannien wurde aus wirtschaftlichen Gründen ein Gegner dieses Diktates, das die Ökonomie Europas zerstörte. Die lähmende Weltwirtschaftskrise, die 1930 sich ausbreitete, brachte es endgültig zum Wanken. Hitlers Aufstieg wäre ohne diese Weltwirtschaftskrise undenkbar. Er machte Versailles für die wirtschaftliche Not verantwortlich und gewann dadurch nicht nur die Arbeitslosen für sich, sondern alle jene, die auch aus nationalen Gründen unter dem Diktat von Versailles litten. Die Besetzung des Rheinlandes war die erste große Niederlage, die Frankreich einstecken mußte, der Anschluß Österreichs die zweite, „München“ der triumphale Sieg Hitlers. Mit „München“ eroberte er nicht mir weite Teile der Tschechoslowakei, mit München hatte er bereits auch die Reste dieser Moldaurepublik in der Hand, mit München begann sein endgültiger Marsch zur Macht, begann sein Marsch nach Polen, nach Holland, Frankreich, Belgien, nach Skandinavien, am Balkan und nach Rußland. Kurz nach „München“ begann er mit der „Kristallnacht“ die endgültige Liquidation des europäischen Judentums. Hitler ging es gar nicht mehr um nationale Politik, es ging ihm um die Macht über Millionen von Menschen und über die Welt. „Heute gehört uns Deutschland und morgen die Welt“ sang die Hitlerjugend schon vor „München“.

Das große Opfer von München war die Tschechoslowakei. Sie war 1918 als eine „Art Schweiz“ gegründet worden, wie Benes dies aussagte, in Wirklichkeit hielt sich aber keiner der tschechischen Politiker daran. In Wirklichkeit wollten sie alle einen nationalen Staat der Tschechen, in dem die Slowaken eine zweite Geige und die Sudetendeutschen eine dritte spielen sollten. Die Sehnsucht der Tschechen nach einem nationalen Staat war nur zu natürlich. Aber ein solcher nationaler Staat, der sich an die Grenzen des Volkstums hielt, war wirtschaftlich und militärisch nicht haltbar. Deswegen mußten diesem Staat die sudetendeutschen Gebiete mit ihrer Industrie und ihren natürlichen Grenzen eingegliedert werden. Hätten die verantwortlichen tschechischen Politiker des Jahres 1918 und ebenso die Politiker der Alliierten nur eine Ahnung von Mitteleuropa gehabt, dann hätten sie 1918 nicht einen tschechischen Nationalstaat, sondern einen böhmischen Staat geschaffen, der wieder das ganze Schlesien, das einst Friedrich II. von Preußen gestohlen hatte, erhalten hätte und einen slowakischen Staat, der innerhalb des Stephansreiches die magyarische Gentry In Schach gehalten und das Aufkommen des ungarischen Revisionismus verhindert hätte. Aber die Politiker von 1918 verloren jedes Maß. Und so zwängten sie die Sudetendeutschen in eine Rolle hinein, die dem Staat gefährlich werden mußte. Die Sudetendeutschen, dies muß gesagt weiden, wurden natürlich nicht national verfolgt wie die Deutschen in Südtirol. Sie hatten eine vollkommene Schulautonomie bis zu den Hochschulen hinauf, sie hatten ein großartiges kulturelles Leben. Auch in der Justiz waren sie ihrer Zahl gemäß vertreten. Wenig Deutsche nur gab es im Auswärtigen Dienst und beim Militär. Zu den übrigen staatlichen Diensten drängten sie sich nicht, da die sudetendeutsche Industrie und die sudetendeutschen Banken besser zahlten als der Staat. Aber was sie kränken mußte, war, daß sie eben eine Nation zweiten Ranges waren und der Staat nicht auch ihr Staat sein wollte. Als die Wirtschaftskrise die sudetendeutschen Gebiete besonders verwundete, hatte Hitler ein leichtes Spiel. Dennoch war die überwiegende Mehrzahl der Sudetendeutschen bis zum Anschluß Österreichs für die Autonomie. Erst ab März 1938 wurden sie hysterisch und selbst wer mit Engelszungen Įįere-. det. Jifitįę,'hatte kein Gehör, meKr gefunden. So wurden sie Hitlers füfifte Wöhn 3' •

Im ersten Weltkrieg hatten die Alliierten das Schlagwort vom Selbstbestimmungsrecht der Völker geprägt, sie hatten es nicht eingehalten und deshalb ein schlechtes Gewissen. Hitler, der nie ein schlechtes Gewissen hatte, benützte dieses schlechte Gewissen der Alliierten, um die Tschechoslowakei damit zu atomisieren. In „München“ ist ihm dies vollkommen gelungen.

Heute wissen wir, daß München auch ein Wendepunkt für Hitler in anderer Richtung hätte sein können: Hätte sich nur irgendein bewaffneter Widerstand gezeigt, dann hätte die Wehrmacht Hitler und das NS-System beseitigt. Sechs Jahre vor dem 20. Juli 1944 wäre dieser gelungen. So aber ging die Sternstunde an der Menschheit vorbei.

Die heutige Zeit noch leidet unter „München“. Und sie muß deshalb zwei Lehren daraus ziehen: Es darf auch in der Politik kein Unrecht geben, denn die Weltgeschichte ist und bleibt das Weltgericht. Und derjenige der Unrecht begeht, an dem wird Unrecht geschehen. Gegen wen aber ein Unrecht angewandt wird, der muß sich wehren und wenn es nicht anders geht, mit Waffengewalt und selbst wenn dieser Widerstand noch so hoffnungslos erscheint. Der waffenlose Widerstand der Tschechen im August 1968 hatte wahrscheinlich größere Wirkungen als wir noch alle wissen. Und ein noch so kurzer Widerstand im März 1938 hätte Österreichs Position im Jahr 1945 erheblich gebessert. Und der geringste Widerstand der CSR im Herbst 1938 hätte das ganze Hitlersystem beseitigt.

Als am 20. September 1870 die Piemontesen sich anschicikten, Rom zu erobern, ließ Pius IX. einen kurzen Widerstand zu, bis seine Armee kapitulierte. Fast 60 Jahre versuchte Italien diese Kapitulation zu negieren. Dann kapitulierte es vor der Ungerechtigkeit und schuf in den Lateranverträgen den Frieden mit dem Heiligen Stuhl. Wäre etwas Ähnliches bei München geschehen, dann würde die Welt heute anders aussehen.

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