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österreichische Tragödie

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Das große Drama neigte sich seinem Ende zu. Der Krieg, der zur Befreiung der von Hitler unterworfenen Länder, einschließlich Oesterreichs, geführt worden war, mußte — das war allen Beobachtern klar — binnen einem halben Jahre siegreich beendet sein. Nun galt es, die Umgestaltung des europäischen Raumes, die Wiederherstellung der von Hitler ausgelöschten Staaten erst vorzubereiten, dann ins Werk zu setzen. Denn die alliierten Armeen — vor allem die sowjetischen — hatten die Grenzen dieser Länder bereits überschritten.

Dieser über das Schicksal kommender Geschlechter entscheidenden Kriegsepoche sind die beiden letzten Bände der Erinnerungen von Winston Churchill gewidmet. Es ist bekannt, daß Churchill das politisch und militärisch richtige Projekt vertreten hatte, vom Balkan her die deutsche Front aufzurollen. Dieser Plan, der Südosteuropa und wohl auch Oesterreich vor der sowjetischen Besetzung bewahrt hätte, war an dem objektiv begreiflichen Einspruch Stalins und dem nur subjektiv begreiflichen Einsprüche Roosevelts gescheitert. Unter den nun zu regelnden Fragen befand sich daher jene der Wiederherstellung Oesterreichs und die Aufteilung der Besatzungszonen innerhalb des Landes. Es zeigte sich dabei, daß, in völliger Verkennung der Schlüsselstellung des österreichischen Raumes, die Ergebnisse der alliierten Beratungen mit dem Fortschreiten der Kampfhandlungen für Oesterreich immer dürftiger wurden. Noch geistert die Erinnerung In das Balkan-Invasionsprojekt hie und da durch die Schilderung Band VI1, Seite 128, aber die massiven Kriegsereignisse im Westen lassen solche Gedanken nur noch nachklingen. Dagegen meldet sich nun das Projekt eines Stoßes von Triest auf Wien — zuerst in einem Telegramm des weitblickenden Feldmarschalls Smuts — an. „Eine durch Italien bis zur Adria verlaufende Front mit Stoßrichtung Triest — Wien verdient unsere größte Anstrengung und ist eines Feldherrn würdig, der sich in diesem Krieg als einer der fähigsten erwiesen hat.“ 12. August 1944. Leider war aber die italienische Front der Alliierten zugunsten der von den Amerikanern zur Entlastung Eisenhowers gewünschten Landung in Südfrankreich Operation: „Dragoon“ „ausgeraubt“ worden und zur Fortsetzung ihrer bis dahin erfolgreichen Offensive zu schwach. Churchill wandte sich am 28. August 1944, um das Projekt in Richtung Wien vorwärtszutreiben, an Präsident Roosevelt. Dieser verschob die Erörterung auf die geplante Konferenz in Quebec. Churchill beharrte in seiner Depesche vom 31. August an den Präsidenten darauf, „von Triest in Richtung Wien einzuschwenken“. Am 4. September erklärte Roosevelt aber neuerlich seinen Willen, alle verfügbaren Kräfte der Westoffensive zuzuführen. Es war jedoch schon damals zu sehen, daß die Landung in Südfrankreich Eisenhower kaum entlastet hatte, und es sollte sich zeigen, daß die hierdurch entscheidend geschwächte Italienarmee nicht durch die deutsche „Gotenlinie“ durchkommen werde. Immerhin fuhr Churchill zur Konferenz in Quebec noch in der Absicht und Hoffnung, die Alliierten sollten den Sowjets in Mitteleuropa zuvorkommen, und schlug dort tatsächlich den Flankenstoß von der Adria nach Wien vor Band VI1, S. 185. Roosevelt lehnte nicht ab — er hatte seine militärischen Postulate bereits in der Tasche — und Churchill depeschierte am 13. September 1944 nach London: „ ... Das Wiener Projekt wird hier für den Fall, daß der Krieg lang genug dauert und nicht andere zuerst dorthin ge- la’ngen, voll akzeptiert.“ Wir haben es erlebt,. daß tatsächlich „andere zuerst dorthin gelangten“.

Die Moskauer Konferenz, die am 9. Oktober 1944 begann, hatte vor allem die Regelung des Balkan- und des Polenproblems zur Aufgabe. Hierbei kam auch Oesterreich wieder zur Sprache. Hatte in Teheran No- vemberDezember 1943 Churchill einen süddeutsch-österreichischen Donaustaat bevorzugt, während Stalin Band Vl, S. 96 widersprach „Oesterreich habe selbständig existiert und könne es wieder tun“, so waren jetzt die Rollen vertauscht. Am 22. Oktober 1944 berichtete Churchill an Roosevelt: „ . . . im Gegensatz zu seinem früheren Standpunkt würde Stalin es begrüßen, Wien als Band VI1: „Dem Sieg entgegen", 459 Seiten mit 4 Abbildungen und 10 Textkarten, und Band VI2: „Der eiserne Vorhang”, 453 Seiten mit 5 Abbildungen und 6 Textkarten, beide: Alfred-Scherz-Verlag, Bern.

Hauptstadt eines süddeutschen, aus Oesterreich, Bayern, Württemberg und Baden bestehenden Staatenbundes zu sehen.“ Churchill fügt dem hinzu Band VI1, S. 285: „Wie Sie wissen, hat mir der Gedanke, Wien zur Hauptstadt eines großen Donaubundes zu machen, schon immer gefallen, nur würde ich vorziehen, auch Ungarn einzubeziehen, was aber O. J. Onkel Joe = Stalin entschieden ablehnte.“

Indessen marschierten die sowjetischen Truppen unaufhaltsam weiter nach dem Westen, während die Deutschen in Italien noch immer die Gotenlinie hielten und die britisch-amerikanischen Armeen dort fixierten. Am 20. Oktober 1944 fiel Belgrad, Ende Dezember wurde Budapest eingeschlossen. Und nun stellte Churchill Band VI1, S. 247 fest: „Jetzt, da der Sieg der großen Allianz nur noch eine Zeitfrage war, erschien es ganz natürlich, daß die russischen Ambitionen wuchsen. Hinter dem Donner der russischen Kampffront erhob der Kommunismus sein Haupt. Rußland war der Befreier und der Kommunismus das Credo, das er brachte.“ — Unglücklicherweise wurde die alliierte Kriegführung im Mittelmeer noch durch die Ereignisse in Griechenland belastet, das der westlichen Einflußsphäre zugeteilt worden war. Die deutsche Besatzung hatte erst das Land viel länger gehalten, als erwartet, und dann bemächtigte sich die kommunistische „Elam“ des Landes, so daß heftige Kämpfe mit den Alliierten ausbrachen, deren vorerst schwache Kräfte sogar vorübergehend in Bedrängnis gerieten. Es waren umfangreiche militärische Dispositionen und diplomatische Verhandlungen nötig, und indessen breiteten sich die sowjetischen Truppen unaufhaltsam im Inneren des Kontinents aus.

Auf der Konferenz in Jalta Februar 1945 hielt Marschall Stalin bereits so fest das Spiel in der Hand, daß er seinerseits gesprächsweise anregen konnte, einige britische Divisionen von Italien mit dem Endziel Wien nach Ungarn und Jugoslawien zu werfen: „Das jetzt zu sagen“, schreibt darüber Churchill, „kostete ihn freilich nichts, doch verzichtete ich auf einen Vorwurf. Die Rote Armee, antwortete ich statt dessen, wird uns möglicherweise nicht die Zeit lassen, eine solche Operation zu vollenden.“ Damit war das Thema Oesterreich in Jalta praktisch erschöpft. „In nicht weniger als sieben von den acht Vollsitzungen der Konferenz wurde über Polen diskutiert“ Band VI2, S. 29, und schließlich war schon seit längerem das Hauptanliegen der Westalliierten, Sowjetrußland nach der nahe bevorstehenden Niederlage Hitlers zum Eingreifen gegen Japan zu bewegen.

Als dann der Krieg in Europa rasch dem Ende zueilte, stand Berlin im Mittelpunkt der strategischen Betrachtungen, wo es für die Sowjets noch harte Nüsse zu knacken gab, während die Angelsachsen vom Westen her leicht vor den Russen hätten einziehen können. „Anders“, schreibt Churchill, „standen die Dinge um Wien. Unsere Chancen, den Russen bei der Besetzung der ehrwürdigen Metropole zuvor zu kommen, hatten wir vor acht Monaten preisgegeben, als wir die Streitkräfte Alexanders zugunsten der Landung in Südfrankreich beschnitten hatten.“ Und nun zeigten sich die Enttäuschungen, unter deren Folgen Oesterreich noch heute leidet, in vollem Umfange. „Wir gingen in der Krim Jalta nicht nur als Verbündete, sondern als Freunde auseinander... Wer immer zuerst nach Berlin, Prag und Wien gelangte, sollte die Stadt nehmen... Die seither vergangenen zwei Monate hatten gewaltige Veränderungen gebracht, die unsere Haltung in ihren Grundlagen erschütterten... die Russen schlugen sich in Berlin, Wien, und der größte Teil Oesterreichs befand sich in ihren Händen. Die Gesamtheit der Beziehungen zwischen Rußland und seinen Verbündeten im Westen war im Fluß. I n keiner Zukunftsfrage waren wir uns einig. Die Vereinbarungen und Abmachungen von Jalta hatte der triumphierende Kreml in Wahrheit bereits gebrochen und beiseite geschoben. Gefahren, vielleicht nicht weniger schrecklich als die von uns bereits überwundenen, erhoben ihr Haupt über der zerrissenen und gepeinigten Welt“ Band VI2, S. 191. Welch eine Bilanz nach fast fünfjährigem furchtbarem Krieg!

„Die Russen befanden sich noch nicht lange in Wien“, fährt Churchill an dieser Stelle Band VI2, S. 200 fort, „als wir bereits einen Vorgeschmack erhielten, wie sich die Dinge in ihrer Besatzungszone abspielen würden. Sie weigerten sich, unsere Missionen in die Stadt einfliegen zu lassen, und kündigten die Bildung einer provisorischen österreichischen Regierung an. Das alles weckte in mir die Befürchtung, daß sie ihren Einmarsch mit Vorbedacht ausnützten, um das Land schon vor unserer Ankunft zu ,organisieren“. Also telegraphierte ich am 30. April 1945 an Präsident Truman wie folgt:

,Wenn wir beide jetzt nicht energisch auftreten, scheint es mir, daß es uns recht schwerfallen wird, während der Befreiüngsaktionen in Oesterreich dort irgendwelchen Einfluß auszuüben . .

Churchill schließt daran den Wortlaut einer an Marschall Stalin zu richtenden gemeinsamen Depesche: „ ... Nach unserer Auffassung ist die Behandlung Oesterreichs ebenso wie die Deutschlands eine gemeinsame Angelegenheit der vier Mächte, die diese Länder zu besetzen und zu kontrollieren haben. Es ist unseres Erachtens ungemein wichtig, daß den britischen, amerikanischen und französischen Vertretern erlaubt wird, sich unverzüglich nach Wien zu begeben und über die dortigen Zustände zu berichten, bevor sich der Europarat in Fragen, die die Besetzung und die Kontrolle des Landes und vor allem Wiens berühren, festlegt ...“ Aber die Sowjetunion erklärte die Ankunft der Missionen als „unerwünscht, solange sich der Europarat nicht über die Zonen geeinigt hätte“.

Dankbar muß man hervorheben, wie Churchill zu jener Zeit 27. Mai 1945 über Oesterreich dachte. Seine Auffassung ist im Memorandum des britischen Premierministers über die Mission des amerikanischen Botschafters Joseph E. Davies niedergelegt: „Oesterreich mit seiner Kultur und seiner ehrwürdigen Hauptstadt Wien muß ein freier Mittelpunkt europäischen Lebens und Fortschritts bleiben“ Band VI2, S. 270. Aber vorläufig waren die Russen in der Vorhand. „Marschall Tolbuchin hat unseren Missionen in Wien befohlen“, depeschierte Churchill am 9. Juni 1945 an Präsident Truman, „am 10. oder 11. Juni abzureisen. Sie hatten sich nicht über die eigentliche Stadt hinausbegeben dürfen und nur ein einziger Flugplatz ist den Westverbündeten freigegeben worden. Dabei handelt es sich um die Hauptstadt Oesterreichs, die wie das ganze Land vereinbarungsgemäß in vier Zonen aufgeteilt werden soll; aber außer den Russen hat dort niemand etwas zu sagen, und nicht einmal die gewöhnlichen diplomatischen Rechte werden uns dort eingeräumt. Wenn wir in diesem Punkte nachgeben, müssen wir Oesterreich als zur sowjetischen Hälfte Europas gehörig betrachten“ Band VI2, S. 296. Churchill schlug vor, vor einer Einigung über Oesterreich „von jedem Rückzug an der europäischen Zentralfront Deutschland, Anm. d. Red. abzusehen“. Dies schien Truman undurchführbar, so daß die Oesterreich-Frage — in diesem Falle zu ihrem Nachteil — isoliert blieb. Vielleicht hätten die Sowjets für die Räumung von Pilsen, Magdeburg und Chemnitz auf erhebliche Teile des jetzt noch von ihnen in Oesterreich besetzten Gebietes verzichtet? So blieb es selten- der Westmächte bei Vorhaltungen, seitens der Sowjets bei Hinhaltungen — Zeit gewinnen war für den Kreml die Voraussetzung für die Abwicklung der Desindustrialisierung der von ihm besetzten österreichischen Gebiete. Der Europarat, dem Marschal Stalin in seiner Botschaft vom 18. Mai das Entscheidungsrecht über die Be-

setzung und Kontrolle Oesterreichs zuerkannt hatte, war, wie aus dem .Gesagten hervorgeht, nicht durch vorhergehende Abmachungen gebunden. Daß dieser, ungeachtet der von den Westmächten: bereits gemachten Erfahrungen, den größeren und vor allem volkreicheren Teil Oesterreichs teils direkt, teils durch Kontrolle der Umgebung, in-direkt unter sowjetischen Einfluß stellte daß dem Kreml durch die nachträgliche Besetzung des nördlichen Oberösterreich die Kontrolle über die gesamte Donaustrecke eingeräumt wurde —, das sind freilich Fragen, auf die auch die sonst so aufschlußreichen Memoiren Winston Churchills die Antwort schuldig bleiben.

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